Ganztag historisch: vom „Wegfall des Nachmittagsunterrichts“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

War die Halbtagsschule nur ein „Notbehelf“? Historische Ausflüge in die Geschichte der Ganztagsschule illustrieren die wechselhaften Zeitkonzepte deutscher Schulen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert.

Die Diskussion über gute Ganztagskonzepte erscheint modern, gilt der Ausbau der Ganztagsschulen doch seit dem sogenannten PISA-Schock 2000 und neuerdings mit dem Rechtsanspruch auf Ganztag ab 2026´ als eines der wichtigsten bildungspolitischen Handlungsfelder. Doch tatsächlich ist der Ganztag ein „alter Zopf“. Dr. Guido Seelmann-Eggebert ist tief in die Archive verschiedener Städte zuerst Bayerns und Hessens, dann des für seine Bildungsreformen im 20. Jahrhundert bekannten Sachsen eingetaucht und hat sich mit den Zeitkonzepten der Schulen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert befasst.

„Ganztagsschule oder Halbtagsschule?“ lautet der Titel, den der langjährige Vorsitzende des Ganztagsschulverbandes seinem Forschungsprojekt gegeben hat. Dabei hat er Erstaunliches zutage befördert. In der politischen Einordnung seiner Recherche schreibt er: „Heute befindet sich Deutschland schrittweise auf dem Weg zurück zur Ganztagsschule. Dieser mühsame Prozess steht aber noch am Anfang. Kaum jemand weiß, dass an Schulen über viele Jahrhunderte hinweg meist ganztägig gelernt wurde“ (S. 7).

Mühsam auf dem Weg zurück

Cover Schulgeschichte Sachsen
© Akademie für Ganztagsschulpädagogik

Deutschland, mühsam auf dem Weg zurück (!) zur Ganztagsschule – diese Erkenntnis ist bemerkenswert und erscheint anachronistisch. Doch die Quellenlage ist bestechend. Beim Lesen und Blättern durch den knapp 130 Seiten umfassenden Band, beim Studieren von Stundenplänen vergangener Jahrhunderte und beim Blick in das Quellen- und Literaturverzeichnis wird schnell ersichtlich, dass der Ganztag einmal ganz selbstverständlich zur deutschen Schulkultur gehörte. „Über den Wegfall des Nachmittagsunterrichts“ sprach zum Beispiel Gymnasialdirektor Buchholz 1901 in einer Schuldirektorenversammlung.

Wie kam es dazu? Das ist die interessante Frage. Und da wird es noch einmal anachronistisch, denn der Band 3 der Reihe „Studien zur Schulgeschichte“ der Akademie für Ganztagsschulpädagogik ist Teil eines Forschungsprojektes über die Entstehung der modernen Halbtagsschule in Deutschland. Leserinnen und Leser werden hier wohl schmunzeln, gilt heute doch die Halbtagsschule als veraltet und die Ganztagsschule als zeitgemäß. Das sah man vor rund 150 Jahren im damaligen Preußen und Sachsen anders. Die Halbtagsschule galt als „übler Notbehelf“, wenn sich Unterricht gar nicht anders organisieren ließ; etwa weil auf dem Dorf die Schülerzahlen zu stark angestiegen waren. Nur dann wurde genehmigt, dass die Kinder abwechselnd unterrichtet wurden: die einen vormittags, die anderen nachmittags.

Rhythmisierung im Mittelalter

Aber das war, wie gesagt, die Ausnahme, denn die Schule orientierte sich weit über das Mittelalter hinaus an dem Lebens- und Arbeitsrhythmus der Klöster. Sie waren es, die der Verbreitung der Schulkultur insgesamt den entscheidenden Schub gaben. Folglich übernahmen die öffentlichen Schulen deren Rhythmus: „Schule und damit das Lernen war immer auf den ganzen Tag verteilt, unterbrochen von Pausen, Gebeten und […] körperlichen Tätigkeiten“ (S.10). Seelmann-Eggebert zieht daraus den Schluss: „Ein Rhythmisierungsansatz ist deutlich erkennbar“, man könne daher durchaus von einer „jahrhundertealten Tradition der Ganztagsschule“ in Deutschland sprechen. „Sie war eine Unterrichts- und Lernschule mit einem pädagogischen Anspruch auf die Erziehung ihrer Zöglinge im Verständnis der damaligen Zeit“ (S. 10).

Das war laut Autor in Europa allgemein üblich, zumindest für die damaligen Lateinschulen, Gelehrtenschulen und Gymnasien. Der Band zeichnet diese Entwicklung für Sachsen nach: von den Klosterschulen zu den Dom-, Stadt- und Lateinschulen im Mittelalter über die Halbtagsschulen in ländlichen Regionen des 19. und 20. Jahrhunderts bis zur endgültigen Abschaffung der Ganztagsschule. Nüchtern wissenschaftlich entwickelt die Analyse ihren ganz eigenen Reiz für diejenigen Leserinnen und Leser, denen die aktuellen Diskussionen um moderne Ganztagskonzepte gegenwärtig sind. Schon damals standen sich zum Beispiel pädagogische und wirtschaftliche Argumente gegenüber, wie der Autor aus den Quellen zeigt.

„Geteilter“ versus „ungeteilter“ Unterricht

... und heute
... und heute © Ubahnverleih, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Der Schule gehörte zwar im Prinzip der ganze Tag, doch sprach man in den vergangenen Jahrhunderten nicht von Ganztag, sondern von „geteiltem Unterricht“, weil die Kinder mittags zum Essen nach Hause gingen. Der Weg zur Halbtagsschule ging dabei von unterschiedlichen Impulsen aus. Dazu gehörten etwa die Verkürzung der Schulstunde von 60 Minuten auf 50 und schließlich 45 Minuten sowie die Ausdehnung der Städte, durch die der Schulweg der Kinder und Jugendlichen länger und mühsamer wurde. Auch die Eltern hatten ein Wort mitzusprechen. Viele beklagten die Müdigkeit der Kinder, wenn sie am späteren Nachmittag wieder zu Hause ankamen.

In Leipzig wurde, so heißt es im Buch (S. 80), ab 1907 versuchsweise an fünf Schulen der Stadt zunächst für ein Jahr die „ungeteilte“ Unterrichtszeit eingeführt. In einem Schreiben an den Rat der Stadt Leipzig schrieb Stadtrat Dr. Ackermann 1910, dass „unter den Tagesfragen auf schulischem Gebiete (...) die Frage der Einführung des ungeteilten Unterrichts d.h. der Verlegung alles Unterrichts auf den Vormittag eine hervorragende Rolle (spielt)“ (S. 80). Seelmann-Eggebert fügt den damaligen Hinweis des Stadtrates hinzu, dass über das Für und Wider viel verhandelt worden sei.

Diese Entwicklung vollzog sich nicht linear und vergleichbar in ganz Sachsen, sondern hing – über die Jahrhunderte – von der Region und ihren Behörden sowie vom Schultyp ab. Auch die Diskussion um Kinderarbeit, die Unterstützung der Familien in der Landwirtschaft, die Reformation im 16. Jahrhundert und nicht zuletzt Kriege spielten eine gewichtige Rolle, die auch die Diskussion um die Schulpflicht bestimmten. Der Autor belegt mit vielen Bildquellen, wie sich die Stundenpläne veränderten. O-Töne aus Zeitdokumenten lassen das Ringen um die Einführung des ungeteilten Unterrichts (Halbtag) ahnen.

Ein weiteres Beispiel: Karl Müller, Rektor der Bürgerschule in Eilenburg, argumentierte 1902 in einem Aufsatz für die ungeteilte Unterrichtszeit und führte eine Reihe von Gründen an. So argumentierte er, dass die Orientierung an den Arbeitsgewohnheiten von Handwerkern nicht mehr zeitgemäß sei: „Das Kind kam zur weiteren Erörterung der Zweckmäßigkeit und Unzweckmäßigkeit überhaupt nicht in Frage. Der Unterricht war ein Handwerk wie jedes andere (…) Man verteilte die Stunden des Unterrichts meist gleichmäßig auf den Vor- und Nachmittag, wie der Handwerker seine Tätigkeit auf zwei durch die Mittagspause unterbrochene große Abschnitte verlegte“ (S.76).

Neuer Stress und Glockenschlag

In seinem Resümee hält Seelmann-Eggebert fest, dass nicht zuletzt die Lehrerschaft sehr schnell die Vorteile erkannte, die ein freier Nachmittag bot, „ohne die pädagogischen Risiken zu bedenken, die ein dicht gedrängter ununterbrochener Unterricht (…) für Lehrkräfte und Kinder zu Folge hatte.“ Damit wäre „ein jahrhundertealtes und bewährtes ‚Rhythmisierungskonzept‘“ aufgegeben worden (S. 108). Schon Zeitzeugen standen dieser Entwicklung durchaus skeptisch gegenüber.

Komplett mit WLAN ausgestattet
Komplett mit WLAN ausgestattet © Scultetus-Oberschule Görlitz

Abschließend ein Wort zum Autor: Dr. Guido Seelmann-Eggebert ist seit 1993 im Landesverband Hessen des Ganztagsschulverbands e.V. engagiert, den er von 2003 bis 2021 als Vorsitzender leitete. Von 2012 bis 2021 war er zudem im Bundesvorstand des Ganztagsschulverbands aktiv. Am 16. Mai 2022 wurde er für sein Engagement für den Ganztag mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. Sein aktueller Band 3 der Reihe „Ganztagsschule oder Halbtagsschule?“ mit Beispielen aus Leipzig, Chemnitz, Görlitz und anderen Städten kann sicher als ein weiteres Beispiel dafür dienen, mit welcher Leidenschaft und Genauigkeit er dem Ganztag und seiner Entwicklung auf der Spur bleibt.

Guido Seelmann-Eggebert (2022): Ganztagsschule oder Halbtagsschule? Zeitkonzepte in Sachsen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Bd. 3 der Reihe „Studien zur Schulgeschichte“, herausgegeben von Volker Titel. Akademie für Ganztagsschulpädagogik.

Guido Seelmann-Eggebert (2021): Zur Entstehung der Halbtagsschule in Deutschland. Eine bildungspolitische und pädagogische Fehlentwicklung? Ursachen - Wirkungen - Folgen und die Wiederentdeckung der Ganztagsschule. Dissertation Universität Kassel.

Kategorien: Service - Tipps

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