Forschung zum Ganztag: Blick zurück und nach vorn : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke
Der Sammelband „Ganztagsschule erfolgreich gestalten“ bietet wertvolle Einblicke in Forschungsergebnisse zum Ganztag. Er wirft zugleich einen kritischen Blick auf die Entwicklung der letzten Jahrzehnte.

„Ganztagsschule erfolgreich gestalten“ heißt ein aktueller Sammelband in der Reihe „IFS-Bildungsdialoge“. Die Bildungsdialoge sind eine Veranstaltungsreihe des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund, und so basiert der neue Band auf den Beiträgen des gleichnamigen 4. Bildungsdialoges von September 2019. Entsprechend länger zurück liegen auch die Forschungsergebnisse, auf die sich die Autorinnen und Autoren berufen, sodass die Lesenden auf den ersten Blick nicht viel Neues zu erwarten scheint.
Auch die Frage danach, was den Ganztag erfolgreich macht, wird schon länger nicht nur ausführlich diskutiert, sondern mit den Ergebnissen des vom BMBF geförderten „Wissenschaftsgeleiteten Qualitätsdialog zum Ganztag“ liegt auch konkretes Handlungswissen zur Umsetzung von Ganztagsangeboten vor. Doch es lohnt sich, einen zweiten Blick ins Buch zu werfen.
Ernüchterung und „zurückhaltender Zielanspruch“

An den vielen früheren Diskursen und Konzepten war Klaus-Jürgen Tillmann beteiligt, einer der „Grandseigneurs“ der deutschen Erziehungswissenschaft, der in dem vorliegenden Band den Aufschlag macht. Tillmann, emeritierter Professor für Schulpädagogik an der Universität Bielefeld und Vorsitzender des wissenschaftlichen Beirats der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG), hatte zuletzt 2016/2017 im Rahmen einer konzertierten Aktion von vier großen Stiftungen („Mehr Schule wagen. Empfehlungen für guten Ganztag“) zusammen mit den Bildungsforschern Klaus Klemm und Falk Radisch kompakt und konkret die Bedingungen von Qualität im Ganztag für fünf Handlungsfelder durchbuchstabiert.
Wie viele andere, die den Ganztag in Deutschland fachlich begleiten, honoriert er dessen Ausweitung auf immer mehr Schulen in allen Bundesländern. Zugleich verweist er auf die enormen Herausforderungen. Dass sein „Essay“ zum Einstieg in das Buch „Ganztagsschulen 2019: eine Problemlandkarte“ heißt, verwundert also nicht. Tillmann hält fest: „Der Blick zurück zeigt (…) eine ‚durchwachsene Entwicklung‘. Man kann von einer deutlichen quantitativen Expansion bei bescheidenen Fortschritten in der Qualität sprechen“ (S. 19).
Heinz Günter Holtappels, damals Mitglied des Konsortiums der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“ (StEG), spricht in seinem Abschlussbeitrag „Entwicklung, Qualität und Wirkungen von Ganztagsschulen. Eine kritische Bilanz“ von „unübersehbaren Schwächen in der konzeptionellen Fundierung der Ganztagsschulen“ (S. 164). Der Experte sieht einige gemischte Resultate der StEG-Forschungen hinsichtlich der Schulentwicklung, der curricular-didaktischen Seite von Unterricht oder auch der Lernkultur im Ganztag.

Angesichts der beiden prominent besetzten Kapitel zu Beginn und zum Ende des Bandes gewinnt der Rezensent somit den Eindruck, dass bei den beteiligten Forscherinnen und Forschern aus der Ganztagseuphorie vergangener Jahre eine gewisse Ganztagsernüchterung entstanden ist, mit einem heute „recht zurückhaltenden Zielanspruch“ bezogen auf „Schüler*innenkompetenzen und Begabungsförderung“ (S. 159).
„Autorität durch Beziehung und Präsenz“
Nun besteht das Buch selbstredend aus mehr als dem Anfang und dem Schluss. Leserinnen und Leser, die sich für die Praxis, für den Alltag im Ganztag interessieren, erhalten hier spannende Einblicke und Impulse. Die Herausgeberin der IFS-Bildungsdialoge, Nele McElvany, ist Professorin für Empirische Bildungsforschung und Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung. Sie hat diesen Band mit einem Team aus Herausgeberinnen und Herausgebern gut strukturiert und übersichtlich angelegt.

Zwischen Bestandsaufnahme (Kapitel 1) und Bilanz (Kapitel 5) haben die Schwerpunkte „Individuelle Fachförderung“ (Kapitel 2), „Persönlichkeitsentwicklung und Förderung sozialer Kompetenzen“ (Kapitel 3) sowie „Organisation und Professionsentwicklung im Kontext von Ganztagsschulen“ (Kapitel 4) ihren Platz. Beim Eintauchen in diese Kapitel, die über StEG hinaus eine Vielfalt an Projekten, Studien und Beobachtungen im Schulalltag einbeziehen, wird die enorme Mehrdimensionalität des Ganztags wieder einmal mehr als deutlich.
So widmet sich Christiane Große-Bley ausführlich der Förderung sozialer Kompetenzen in der Ganztagspraxis. Dabei greift sie unter anderem auf die Idee des israelischen Psychologen Haim Omer zurück, der von „Autorität durch Beziehung und Präsenz“ spricht (S. 81). Die Grundhaltung dahinter ist: „Ich kann den anderen nicht verändern, höchstens mich selbst“ (S. 84). Folglich seien auch Lehrkräfte aufgefordert, sich bei wiederkehrenden Mustern in schwierigen Situationen mit Kindern zu reflektieren. Gehen sie zusätzlich auf Kolleginnen und andere Fachkräfte zu und fragen danach, in welchen Situationen sich Schülerinnen und Schüler problematisch verhalten, erweitert sich ihr Verhaltensspektrum, um in emotional schwierigen Situationen eine „professionelle Präsenz“ (S. 85) zu zeigen.
„Pädagogische Laien“ im Ganztag

Carolin Bebek und Till-Sebastian Idel haben mit der Methode der ethnografischen (teilnehmenden) Beobachtung untersucht, wie „Pädagogische Laien als Akteure in der Organisation Ganztagsschule“ agieren (S. 125ff.). Dank ihrer Methoden sind die Autoren sehr nach dran am Schulalltag. Im geschilderten Fall an einer kleinen Sekundarschule mit teilgebundenem Ganztag wird gut nachvollziehbar aufgezeigt, „dass die Rekrutierung (von pädagogischen Laien, S.L.) vor allem über Gelegenheiten, Bekanntschaften und Empfehlungen verläuft, also (…) mehr oder weniger zufällig, ungesteuert und auch kaum formal strukturiert über ein kriteriales Bewerbungs- und Auswahlverfahren“ (S. 129).
Die Analyse von Gesprächen zeigt dabei auch auf, in welcher Art und Weise zuweilen die Schulleitung gegenüber den pädagogischen Laien „fernab von Augenhöhe“ agiert (S.138). Vor dem Hintergrund, dass 90 Prozent aller Ganztagsschulen ihren Schulalltag mit einem „erweiterten Mitarbeiterkreis“, also über Lehrerinnen und Lehrer hinaus, gestalten und man noch wenig darüber weiß, wünschen sich Bebek und Idel hier mehr Forschungen mit diesem Fokus. „Nicht zuletzt auch, um auf der Grundlage eines solchen empirischen Wissens (…) Konzepte und Standards der systematischeren und gezielten Rekrutierung und Qualifikation dieses wohl auch in Zukunft unverzichtbaren Personals (…) zu entwickeln (S. 139).
Kommune und Ganztag: das „Stuttgarter Modell“

Diesem Aspekt, der Qualifikation von Mitarbeitenden, wenden sich im Kapitel 3 „Persönlichkeitsentwicklung und Förderung sozialer Kompetenzen“ auch Katrin Höhmann und Simone Glassen von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg zu. Sie fragen nach „dem pädagogischen Anspruch an die Qualität der Arbeit jener schulischen Mitarbeitenden, die ergänzend zu Lehrkräften arbeiten?“ (S. 69). Ihr Beitrag porträtiert das „Stuttgarter Modell“, das die Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft als Träger gemeinsam mit der PH Ludwigsburg entwickelt hat.
Der Text beschreibt die Module der Qualifizierung, die Kooperationen und verweist darauf, dass die Stadt Stuttgart mit dem Konzept auf die Herausforderungen Bildungsgerechtigkeit, soziale und kulturelle Vielfalt sowie Veränderung familiärer Strukturen (S. 70) reagieren möchte. Interessant ist hier gleich mehreres: Zum einen macht eine Kommune die Qualität in Ganztagsgrundschulen sehr konsequent zu ihrer eigenen Sache. Zum anderen wurden – bemerkenswert – die Vorgaben für den KiTa-Fachkräftekatalog Baden-Württemberg auf Ganztagsgrundschulen angewendet.

Ein Drittes ist ebenfalls innovativ: Die Fortbildungen finden an einer Pädagogischen Hochschule statt, die das Lernen der Teilnehmenden mit einem Zertifikat „Pädagogische Fachkraft für Ganztagsschulen“ honoriert. Und ein Letztes: Die Stuttgarter Jugendhaus Gesellschaft und die PH Ludwigsburg rücken mit ihrem Konzept davon ab, alle Fachkräfte, die im Ganztag tätig sind – von der Tänzerin über den Fußballtrainer, vom Handwerker über Mitarbeitende in Kirchen – im gleichen Takt fortzubilden. Stattdessen setzt die Qualifizierung an individuellen Ausgangsvoraussetzungen an.
Fazit: Durch die ernüchternde Rahmung des Bandes bei gleichzeitigem Einblick in gelingende wie weniger gelingende Praxis entsteht ein Spannungsbogen, der einmal mehr vor Augen führt, dass sich guter Ganztag letztendlich immer vor Ort entwickelt – unter den dort vorhandenen Bedingungen und mit den dort arbeitenden Menschen. Sicher eine Binsenweisheit, aber eine, die erneut die Frage aufwirft, wie und ob Einzelbeispiele eines „guten Ganztags“ als Vorbild und Regelfall für alle dienen können.
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