Zwischen den Schuljahren: Realschule Burgstraße Celle : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Sommerferien - Zeit zum Durchatmen! In dieser Zeit interviewen wir Schulleiterinnen und Schulleiter aus verschiedenen Bundesländern und unterschiedlichen Schulformen zum Stand der Dinge in ihren Ganztagsschulen. Im vierten Teil berichtet Hans-Heinrich Thies von der Realschule Burgstraße im niedersächsischen Celle über Aufbruchstimmung im Kollegium, Fortbildungen zum selbstgesteuerten Lernen und Schüler, die man in AGs kaum wiedererkennt.

Online-Redaktion: Herr Thies, Ihre Realschule bildet zusammen mit dem Gymnasium Ernestinum ein Schulzentrum. Pflegen Sie Kontakte mit Ihren Nachbarn?

Hans-Heinrich Thies: Wir teilen uns ein Gebäude und verstehen uns sehr gut. Wenn uns ein Biologielehrer fehlt oder das Ernestinum einen Musiklehrer benötigt, dann tauschen wir auch schon mal Lehrer aus. Darüber hinaus gibt es allerdings keine Zusammenarbeit.

Online-Redaktion: Ihr Schulprogramm, das Sie auf Ihrer Website zum Herunterladen anbieten, ist sehr umfangreich. Wie sah der Prozess aus, der zu diesem Programm geführt hat?

Thies: Die Gesamtkonferenz hat 2001 eine Steuergruppe beauftragt, den Grundstock für ein Schulprogramm zu erarbeiten. Den sieben Kolleginnen und Kollegen stellte sich als erste Aufgabe, die neu geforderten Beurteilungen zum Arbeits- und Sozialverhalten mit dem Kollegium zusammen zu entwickeln und zu operationalisieren: Was verstehen wir zum Beispiel darunter, wenn wir ins Zeugnis schreiben, dass das Arbeitsverhalten eines Schülers "den Erwartungen im vollen Umfang" entspricht? Dies wurde schließlich im Rahmen einer Pädagogischen Konferenz ausgearbeitet.

Es folgte die Idee, ein Ganztagsangebot einzurichten. Dazu fuhr die Steuergruppe im September 2001 in eine benachbarte Ganztagsschule, um sich deren offenes Ganztagskonzept anzuschauen. Zwei Monate später wurde bekannt, dass ein Erlass des Niedersächsischen Kultusministeriums nur noch verbindliche Ganztagsschulen zulassen würde. Ganztagsschulen mussten danach an zwei Tagen verbindliche Angebote einrichten. Wir ergriffen daraufhin die Initiative und organisierten zusammen mit der Sozialdezernentin der Stadt ein Treffen mit mehreren Schulen, um auszuloten, ob und wie man ein Ganztagsangebot in Celle aufbauen könnte. In dieser Sitzung wurde beschlossen, dass unsere Schule zusammen mit der Hauptschule Blumlage ein Ganztagsschulangebot in Angriff nehmen würde. Der Beschluss in der Gesamtkonferenz zur Einführung der Ganztagsschule fiel dann einstimmig. Dabei ist es bis heute geblieben - wir bilden mit der einen Kilometer entfernten Hauptschule ein Ganztagszentrum. Schülerinnen und Schüler beider Schulen können die AG-Angebote beider Schulen wahrnehmen.

Online-Redaktion: Das Kollegium hat das vollständig mitgetragen?

Thies: Der Wunsch kam aus dem Kollegium. Es herrschte intensive Aufbruchsstimmung, die mit starken Veränderungen im Kollegium zusammenhingen. Seit 1998 setzte eine rapide Verjüngung des Kollegiums ein, und damit stieg die Bereitschaft, Veränderungen und Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Der Erlass, der eine verpflichtende Ganztagsschule an zwei Tagen vorschreibt, hat den Elan der Kolleginnen und Kollegen nicht gebremst, sondern im Gegenteil noch beflügelt. Wir sagten uns: Wenn schon, denn schon. So bieten wir an zwei Tagen verpflichtende Angebote und an zwei weiteren Tagen freiwillige AGs an.

Online-Redaktion: Welche Unterschiede bestehen zwischen den verpflichtenden und den freiwilligen Nachmittagen?

Thies: An den verpflichtenden Nachmittagen findet auch ganz normaler Unterricht statt. Der Erlass sieht vor, dass die teilgebundenen Ganztagsschulen vier Wochenstunden zusätzlich erhalten. Das setzen wir exakt so um: Alle Schülerinnen und Schüler haben 30 Stunden aus der Stundentafel wie jede andere Realschule auch plus drei Arbeits- und Übungsstunden und eine Verfügungsstunde für die Klassenlehrer.

Online-Redaktion: Was möchten Sie mit der zusätzlich gewonnenen Zeit erreichen?

Thies: Ein Ursprungsgedanke war, dass es immer mehr Schülerinnen und Schüler gibt, die keine Gelegenheit haben, ein Mittagessen einzunehmen oder einen Arbeitsplatz zu Hause vorfinden. Für sie wollten wir ein Angebot zur Betreuung und Bildung bieten. Die Hausaufgaben können Sie jetzt von Lehrern betreut erledigen. Die Übungsstunden werden von Deutsch-, Mathematik- und Englischlehrern gegeben, die mit den Schülerinnen und Schülern eventuell auch einmal Versäumtes nacharbeiten können.

Auch an den freiwilligen Tagen gibt es umfangreichen Förderunterricht. Diesen bestreiten wir mit kapitalisierten Lehrerstunden. Wir bezahlen damit einen beziehungsweise demnächst zwei pensionierte Kollegen, die Förderunterricht in Deutsch, Mathematik und zukünftig Englisch anbieten werden. Das hat sich sehr bewährt, was sich auch in den Anmeldezahlen unserer Schule widerspiegelt: Wir müssen regelmäßig Schüler abweisen.

Die Schüler haben eine Stunde lang Mittagspause, in der sie auch Freizeitangebote wahrnehmen können. Es gibt drei Räume, in denen Spielgeräte stehen, und wir verfügen über umfangreiche Sportanlagen. Zudem wird durch Oberstufenschüler des Gymnasiums eine Hausaufgabenhilfe angeboten.

Online-Redaktion: Beteiligen sich auch die Schülerinnen und Schüler?

Thies: Es gibt Klassenräte, deren Anliegen in den Verfügungsstunden diskutiert werden können, und einen Schülerrat. Dessen Aktivität hängt immer ein bisschen von seiner Zusammensetzung ab. Im vergangenen Jahr hatten wir einen Schulsprecher, der seine Arbeit ausgesprochen gut gemacht hat - da ist sehr viel gelaufen, und es hat richtig Spaß gemacht. Ein Jahr davor hatten wir einen Schulsprecher, mit dem wiederum gar nichts passierte.

Online-Redaktion: Ganztagsschule soll nicht nur "Mehr desselben" bedeuten - haben Sie pädagogisch etwas verändert?

Thies: Wir sind gerade dabei. Seit 2005 arbeiten wir im Projekt "Eigenverantwortliche Schule" des Landes Niedersachsen mit und nutzen umfangreiche Fortbildungen. Acht Kolleginnen und Kollegen nehmen derzeit an einer Schulung zur systematischen Unterrichtsentwicklung hin zum selbstgesteuerten Lernen teil. Darüber hinaus sind wir noch am Projekt "Seis - Selbstevaluation an Schulen" der Bertelsmann-Stiftung dabei. Mit Fragebögen evaluieren wir, was zu welcher Zufriedenheit bei Schülern, Lehrern und Eltern führt und wo es Kritikpunkte gibt. Das ist ein sehr umfangreiches Datenmaterial. Wir waren übrigens eine der ersten Schulen, die sich einer Schulinspektion, die letztes Jahr in Niedersachsen eingeführt worden ist, unterzogen haben.

Online-Redaktion: Welche Tendenzen zeigen die Befragungen?

Thies: Die Zufriedenheit ist bei allen Beteiligten sehr groß. Es hat sich aber auch gezeigt, dass das selbstgesteuerte Lernen an unserer Schule noch nicht den Standard erreicht hat, den wir gerne hätten. Sicher ist im Kollegium auch noch ein Lernprozess nötig, weshalb wir ja auch an der Fortbildung teilnehmen.

Online-Redaktion: Lehrerinnen und Lehrer verbringen im Ganztag mehr Zeit mit ihren Schülerinnen und Schülern. Hat sich dies schon auf das Schulklima ausgewirkt?

Thies: Eine andere Art des Zusammenlebens zwischen Lehrern und Schülern war ein zentraler Punkt, den wir uns von der Ganztagsschule erhofft haben. An den verbindlichen Ganztagsschultagen essen die Lehrer mit ihren Schülern gemeinsam in der Mensa. Die gesamte Klasse nimmt am Essen teil. Keiner muss eine dort angebotene Mahlzeit kaufen, man kann auch etwas Mitgebrachtes verzehren - aber sie gehen gemeinsam zu Tisch, was eine andere Atmosphäre im Umgang miteinander schafft. Man spricht über andere Dinge, lernt Tischsitten und -manieren kennen. Bei der diesjährigen Entlassung haben wir deutlich gemerkt, welch enge Bindung bei den Schülern, die ja auch miteinander viel mehr kommunizieren, wie auch bei Lehrern und Schülern entstanden ist. Da ist Schule sehr verändert worden.

Auch Lehrerinnen und Lehrer haben viel mehr Gelegenheit, miteinander zu kommunizieren. Wir sind von den großen Konferenzen abgekommen und arbeiten jetzt mehr in Fach- oder Jahrgangsgruppen. Hier koordinieren genau diejenigen ihre Arbeit, die sie dann auch tatsächlich umsetzen. Das ist eine sehr intensive Arbeit, die in einer Ganztagsschule ruhiger ablaufen kann.

Online-Redaktion: Welche außerschulischen Lernorte und Kooperationspartner beziehen Sie in den Unterricht ein?

Thies: Insgesamt bestehen etwa 30 AG-Angebote, für die wir hauptsächlich Verträge mit Einzelanbietern abgeschlossen haben: Ein Diplom-Ingenieur bietet beispielsweise jeden Tag Arbeit am PC an und vermittelt Kenntnisse für den Umgang mit dem Internet - Stichwort Medienerziehung. Ein Schachspieler leitet die Schach-AG. Das Deutsche Rote Kreuz und die Johanniter bieten "Erste Hilfe"-Kurse. Es gibt Kurse zur Gewaltprävention und zur Mediation, aber auch "Capoeira", eine brasilianische Tanz-Kampfkunst. Weiter bestehen enge Kooperationen mit Sportvereinen - das hat an unserer Schule eine lange Tradition, auch schon vor der Ganztagsschule. Das Projekt "Wir bemalen kunstvoll Stühle" besteht ebenfalls bereits seit zehn Jahren. Im kommenden Schuljahr bieten wir eine Museums-AG an, in der die Kinder und Jugendlichen einmal in der Woche ins Museum gehen werden.

Online-Redaktion: Für welchen Zeitraum wählen die Schülerinnen und Schüler eine AG?

Thies: Für ein halbes Jahr. Fünftklässlern räumen wir die Möglichkeit ein, in die Kurse reinzuschnuppern, damit sie sehen können, ob das Angebot etwas für sie ist. Die "Kleinen" muss man am Anfang eher bremsen, denn zunächst machen viele strahlenden Auges alles mit, was möglich ist, um dann nach ein paar Wochen zu merken, dass es ihnen zuviel wird. Daher bitte ich die Eltern auch, ihr Kind für höchstens zwei Arbeitsgemeinschaften anzumelden.

Online-Redaktion: Man hört von nachlassender Teilnahmemotivation in der Mittelstufe.

Thies: Der Pubertätsknick macht sich ganz massiv in den Klassen 7 und 8 mit Leistungseinbrüchen bemerkbar. In die Arbeitsgemeinschaften gehen die Kinder aber immer sehr gerne. Und wenn Sie dann Schüler, die im Unterricht als demotiviert, lustlos und störend auffallen, in den AGs erleben, glauben Sie, völlig andere Kinder vor sich zu haben: Da verwirklichen sie sich, sind hochmotiviert und toll bei der Sache.

Online-Redaktion: Wie koordinieren Sie dieses umfangreiche Angebot? Läuft alles über den Schulleiter?

Thies: In den ersten beiden Jahren schon. Inzwischen haben wir eine Sozialpädagogin auf einer Dreiviertel-Stelle, die die Aufsicht führt, die Verträge vorbereitet und die Kontakte pflegt. Die Klassen 5 und 6 haben montags und mittwochs ihren verbindlichen Ganztag und die Klassen 7 bis 10 dienstags und donnerstags. Das Essen in der Mensa erfolgt in Schichten, da nicht mehr als vier Klassen gleichzeitig reinpassen. Das klappt wie am Schnürchen.

Online-Redaktion: Wie ist denn die Akzeptanz des Mittagessens?

Thies: Nicht so hoch, wie wir sie uns wünschen. Das hat aber sicher damit zu tun, dass in den ersten Ganztagsjahren 2002 und 2003 noch keine Mensa vorhanden war. Als die Mensa dann endlich da war, wechselte unser Essensanbieter und verschreckte mit seinen Sparvorschriften, die sich merklich auf die Qualität des Essens auswirkte, viele Schülerinnen und Schüler wieder. Mit einem neuen Anbieter und einer auf fünf Menüs deutlich verbreiterten Palette werden wir nach den Ferien versuchen, diese Kinder und Jugendlichen zurückzugewinnen. Dann werden wir auch preiswertere Gerichte anbieten, bei denen dann vor allem auch wieder ein Getränk enthalten ist.

Momentan kostet alles drei Euro Einheitspreis, was mir schon länger ein Dorn im Auge war. Nudeln mit Tomatensoße müsste man wohl billiger anbieten können. Demnächst sollen immer Gerichte für ein oder zwei Euro dabei sein. Wir haben zunehmend Eltern, die sich drei Euro am Tag nicht leisten können.

Online-Redaktion: Wie ist die Essensbezahlung organisiert?

Thies: Die gesamte Bestellung und Bezahlung wird über das Internet abgewickelt. Jeder Schüler erhält einen Chip und kann von daheim oder vom PC in der Schule aus sein Essen bestellen. Die Eltern überweisen auf ein Konto, das der Schulträger eingerichtet hat. Bestellt werden kann nur, wenn Guthaben auf dem Konto vorhanden ist. Bevor dieses System eingerichtet wurde, sorgte das Mittagessen für einen ziemlichen Verwaltungsaufwand, der jede Woche quasi eine Unterrichtsstunde geraubt hat. Dafür waren die Verfügungsstunden des Klassenlehrers ja nicht gedacht. Dazu lief man dann noch oft hinter dem Geld her. Das ist jetzt alles vom Tisch.
 
Online-Redaktion: Welche Herausforderungen warten im kommenden Schuljahr auf Sie?

Thies: Ich wünsche mir, dass das selbstgesteuerte Lernen auf das gesamte Kollegium ausstrahlt. An zweiter Stelle steht das Senken der Sitzenbleiberquote, weil die bei uns doch recht hoch ist.


Realschule Burgstraße
Ganztagsschule seit 2002/2003
685 Schülerinnen und Schüler
44 Lehrerinnen und Lehrer

 

Kategorien: Service

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