Verschmelzung der Bildungsepochen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Vielleicht ist es nur ein glücklicher Zufall, dass sich die Akzeptanz der neuen Medien mit der flächendeckenden Verbreitung von Ganztagsschulen überschneidet. Es ist aber wohl mehr als Zufall, dass beide Systeme sich gut ergänzen, wie der dritte bundesweite Erfahrungsaustausch "Ganztagsschulen und Neue Medien" von 28 Pilotschulen an der Hunsrück-Grundschule in Berlin-Kreuzberg gezeigt hat.
Lernen verbreitete schon 1823 nicht überall nur Angst und Schrecken: So gab es an der von Friedrich Fröbel in Keilhau bei Rudolfstadt gegründeten Erziehungsanstalt in bunter Abwechslung Unterricht und Entspannung für die Schülerinnen und Schüler. 1976 dagegen sah der Stundenplan an einem Gymnasium in Siegen so aus, wie man ihn eher im 19. Jahrhundert vermutete: Doppelstunde Englisch, gleich hinterher Deutsch, Geschichte und Französisch. Das volle Programm - und das alles in einen kurzen Vormittag reingepackt.
Dabei gehörte besagtes Gymnasium in Siegen den Reformschulen der 70er Jahre an. Rhythmisierung war damals ein Fremdwort. PISA hat alle schönen Gewissheiten aus 30 Jahren Bildungsreform endgültig umgeschmissen. "Was ist das für ein System, aus dem alle raus wollen?", fragte Stefan Appel, am 27. September in der Hunsrückschule auf dem 3. bundesweiten Erfahrungsaustausch "Ganztagsschulen und Neue Medien" mitten in Berlin-Kreuzberg.
Flucht aus dem Bildungssystem?
Appels Frage spielte zwar auf eine Beobachtung von Reinhard Kahl an, die Halbtagsschulen hinterfragt, an denen Schüler, Lehrer und Verwaltungspersonal nach Schulschluss möglichst schnell das Weite suchen. Sie könnte aber auch stellvertretend für die Malaise des gesamten deutschen Bildungssystems gelesen werden. Was passiert mit einem System, aus dem alle rauswollen, dem alle Beteiligten innerlich kündigen? "Wenn Lehrer nicht hin und wieder zu spät kommen, wäre Schule unaushaltbar", kommentiert der Bundesvorsitzende des Ganztagsschulverbandes ein Paradox vieler Halbtagsschulen, das Insider übrigens ironisch als eine spezielle Spielart der Rhythmisierung bezeichnen.
Entspannung an der Hunsrück-Grundschule
Wie unterschiedlich die Qualität von Schulen im gegenwärtigen Bildungssystem ist, veranschaulichte Appel am Beispiel eines Zwillingspaares: beide besuchen unterschiedliche Klassen. "Einer macht Reformpädagogik, der andere Frontalunterricht in Busformation."
In Sachen Ganztagsschulen setzte sich Appel für ein angemessenes Raum- und Ausstattungsprogramm ein: "Wenn Kinder um 18 oder 19 Uhr nach Hause kommen - und das sind viele an meiner Schule - dann muss man denen was bieten. Die Schule muss zur Lebensschule umgestaltet werden." Damit eine Ganztagsschule ihren Namen auch wirklich verdient, machte der Repräsentant des Ganztagsschulverbandes insgesamt acht Kriterien aus: geänderte Unterrichtsformen, Verpflegung, Rückzugsmöglichkeiten, sozialer Bereich, Bewegung, musischer Bereich, Technik und Medienbereich. Durch die Einführung der neuen Medien in rhythmisierten Ganztagsschulen verspricht sich Appel eine wesentliche Verbesserung der Schulqualität: im Unterricht, in den musischen und technischen Bereichen, im Verpflegungswesen - überall sieht der Schulleiter einer Kasseler Gesamtschule ein Potenzial für die neuen Medien.
Rückkehr in die Zukunft
Weder die Ganztagsschulen noch die neuen Medien sind per se ein Deus ex machina oder ein Allheilmittel. Aber sie bieten ungewöhnliche Chancen, für manche sogar die sprichwörtlich letzte Chance, wie die anschließende AG "Online gestützter Unterricht an Ganztagsschulen" zeigte.
An der Gotthilf-Vollert-Schule Tuttlingen gibt es nämlich das scheinbar Unmögliche: einige ihrer Schülerinnen und Schüler leben und lernen außerhalb von Deutschland, in Frankreich, Portugal, Spanien, Kirgisien und sogar in Südafrika. Möglich macht es ein virtuelles Klassenzimmer: "Wir sind Papageien in unserer eigenen Schule", sagt Veronika Pustlauk. Die Kinder und Jugendlichen, die nach staatlichen Lehrplänen der Grund- und Hauptschule unterrichtet werden, gelten eigentlich als verloren für das Schulsystem, sie sind "unbeschulbar". "Wir hatten eine Schülerin, die sich beim Anblick des Englischbuches die Pulsadern aufgeschnitten hat", sagt Pustlauk. Bei dieser Schülerin spätestens stieß selbst die geduldige Lehrerin an ihre Grenzen.
Verena Pustlauk stellt das virtuelle Klassenzimmer vor
Insgesamt jedoch hat sich das virtuelle Klassenzimmer wider Erwarten bewährt, und das zeigt, welches Potenzial in den neuen Medien steckt. Daher lohnt der genauere Blick auf das Klassenzimmer im Internet.
Eine Formel der Zukunft: Virtuell lernen
Das Projekt an der Gotthilf-Vollert-Schule Tuttlingen wird außer von Verena Pustlauk von drei weiteren Lehrerinnen und zusätzlichen ehrenamtlichen Mitarbeitern betreut. Das Lehrerinnenteam entwickelt pädagogisch geeignete und lehrplangestützte Unterrichtseinheiten für die Kinder und Jugendlichen in vier Schulgruppen: Grundschul- sowie Hauptschulgruppen der Stufen 5/6, 7/8 und 9. Es gibt dort keine anonyme Ferienbeschulung, sondern selbstständiges Arbeiten der Schülerinnen und Schüler nach den Vorgaben der Lehrer. Kommuniziert wird - wie sollte es anders sein - per Telefon und Chat.
Die Schülerinnen und Schüler, die von der Intensiven Sozialen Eingliederungshilfe für ein Jahr in eine Betreuerfamilie geschickt werden, erhalten das Unterrichtsmaterial wie Schulbücher, Lernsoftware, Computer von ihren Betreuern vor Ort. Sie bekommen einen Wochenplan mit konkreten Aufgaben, und es finden regelmäßige Leistungskontrollen durch Klassenarbeiten statt. Unterrichtet werden die Fächer Deutsch, Englisch, Mathematik, Moderne Kommunikation. Am Ende des online gestützten Fernunterrichts steht eine Abschlussprüfung, etwa der Hauptschulabschluss in Deutschland an.
Integration statt Exklusion
Und wie sieht der Schultag vor Ort für die Schülergruppen aus? Zwischen acht und neun Uhr lokaler Zeit melden sich die Schülerinnen und Schüler im Chat an. Dann arbeiten sie bis 13 Uhr an den Unterrichtsmaterialien: ihre Tagesergebnisse schicken sie per Fax an die Lehrerinnen in Tuttlingen. Diese wiederum - nachdem sie von acht bis zehn Uhr mit den sogenannten "Morgenproblemen" zu tun hatten - können die Korrekturen zeitnah bearbeiten und bis nachmittags das Feedback zurückschicken.
Die Vorteile des virtuellen Klassenzimmers liegen für Pustlauk auf der Hand. Zum einen gelingt es, rund 50 Prozent der "unbeschulbaren" Kinder und Jugendlichen, wieder in das Schulsystem einzugliedern, zum anderen ermöglicht das veränderte Lehrer-Schüler-Verhältnis eine bessere individuelle Förderung und eine stärkere Motivation. Schwierigkeiten bereiten dagegen die aufwendigen Lerninhalte, die Schulung der Betreuer sowie die unvermeidlichen technischen Probleme.
Wo sich die Geister treffen
Die Diskussionen in den anderen Arbeitsgruppen knüpften in wesentlichen Bereichen dort an, wo die AG Online-gestütztes Lernen aufhörte.
Lehrer, die in virtuellen Klassenzimmern arbeiten, wurden in der AG als "Vorreiter" verstanden. In Pilotprojekten, wie zum Beispiel zum Thema Olympia an der IGS Stralsund wurden der gegenseitige Respekt und die Hilfe, die sich die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von mediengestützten Unterrichtsprojekten geben, hervorgehoben. Rhythmisierung - so ein anderer AG-Teilnehmer - sei grundsätzlich auch in offenen Ganztagsschulen möglich. "Eo ipso verändern die neuen Medien nichts": das Medium könne hilfreich sein, wenn es in veränderten Unterrichtsformen eingebunden werde, sagte ein weiterer Teilnehmer. Wichtig sei der modulare Aufbau von Unterrichtsprojekten oder eine Lehrerausbildung, die sich auf Ganztagsschulen und neue Medien ausrichtet. Außerdem müsse es an Ganztagsschulen Lehrerarbeitsplätze geben.
Endlich nicht mehr Einzelkämpfer
Wie neue Medien die Ganztagsschule verändern, schilderte Schulleiter Mario Dobe von der Hunsrück-Grundschule in Kreuzberg. An der gebundenen Ganztagsschule, die 333 Schülerinnen und Schüler hat, wurde eigens ein Medienkonzept entwickelt, das vom Raumkonzept mitgetragen wird. So gibt es nicht nur in jedem Klassenraum Medienecken mit zwei PCs und einem Farbdrucker, sondern zusätzlich einen Medienraum.
Schulleiter Mario Dobe
Im Medienkonzept der Schule, das Nutzen und Ziele der digitalen Medien definiert, sind Computer Werkzeuge, die zur Erstellung von Unterrichtsprodukten dienen und die Qualität des Unterrichts etwa durch Gruppenarbeit und variables Üben verbessern helfen. Nicht zuletzt unterstützen die neuen Medien an der Grundschule laut Schulleiter Dobe "das selbstbestimmte Lernen und den Projektunterricht".
An der Hunsrück-Grundschule haben die Lehrerinnen und Lehrer eigene Arbeitsplätze, um den Unterricht vorzubereiten. Was dies wert ist, zeigt letztendlich ein zufriedenes Lehrerinnenteam. Vier Lehrerrinnen und eine Praktikantin erstellten gemeinsam den Wochenplan in den Fächern Deutsch, Mathematik, Sachkunde, Musik und Kunst. Ein überaus ungewohntes Bild: Lehrer als Teamplayer. "Die häusliche Arbeitszeit reduziert sich enorm", sagte eine Lehrerin. Gemeinsam tauschten sie sich auch über ihre Klassen aus: "Die Klassengemeinschaften werden besser, und wir haben einen entspannteren Vor- und Nachmittag".
Das Lehrerinnenteam an der Hunsrück-Grundschule
Alle verfügen über einen eigenen PC, und trotzdem sind sie keine Einzelkämpferinnen mehr, die "alleine an der Front kämpfen". Wichtig war dem Team die "Zugehörigkeit" zu einem Schulkörper, in dem man sich wohlfühlen und zugleich weiterentwickeln kann.
Verschmelzung der Epochen - Mischklassen in Berlin-Kreuzberg
Ganztagsschulen erkennt man gegenwärtig an den Baustellen. Wo Baustellen sind, verschmelzen mitunter ganze Epochen innerhalb einer Gesamtarchitektur. So hat der viergeschossige Backsteinbau, der direkt neben der Synagoge Kreuzberg liegt, nicht nur einen modernen mehrstöckigen Anbau mit Mensa bekommen, sondern es gibt darüber hinaus einen älteren Plattenbautrakt, der ebenfalls im Zuge der Renovierung mit Mitteln aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" des Bundes wärmegedämmt wird. Betrachtet man das Bauprojekt als Synthese verschiedener Architekturen, ist es als geradezu vorbildlich einzustufen.
Baustelle an der Hunsrück-Grundschule, Berlin
Unterstützung des Bundes
Ralf Münchow, geschäftsführender Vorstand von Schulen ans Netz e. V., dankte dem Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung für die Unterstützung und Vernetzung im Rahmen der bundesweiten Treffen. "Unsere Unterstützung besteht darin, einen Erfahrungsaustausch zu ermöglichen, zu vernetzen und negative Erfahrungen zu vermeiden", sagte Münchow.
PISA hatte bereits auf die Gefahren eines Bildungssystems aufmerksam gemacht, das selektiert, statt Chancengleicheit zu gewährleisten. Dr. Andreas Vogel vom Bundesministerium für Bildung und Forschung betonte dementsprechend die Bedeutung der flächendeckenden Einführung von Ganztagsschulen: Mit dem Begriff PISA verbinde sich nicht nur der schiefe Turm von Pisa, sondern eine Schieflage im Bildungssystem", sagte Dr. Vogel. Das Kerndefizit, das PISA diagnostiziert habe, sei die Erkenntnis, dass viele Kinder und Jugendliche nicht für das duale Bildungssystem geeignet seien. Doch er äußerte sich zuversichtlich, dass die umfassende Reform des Bildungssystems diese Defizite beheben werde. Einen großen Stellenwert habe die Ausstattung der Ganztagsschulen mit neuen Medien, die Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn mit dem Investitionsprogramm ausdrücklich fördere.
Wie die neuen Medien an Ganztagsschulen am sinnvollsten eingesetzt werden sollten, das offenbarten die Empfehlungen, die der dritte bundesweite Erfahrungsaustausch "Ganztagsschulen und Neue Medien" am zweiten Tag erarbeitete.
Empfehlungen für die Praxis
Die wichtigsten Empfehlungen lauteten wie folgt: Schule muss sich öffnen, Unterricht sollte medienadäquat rhythmisiert werden, die Unterrichtsformen sollten den neuen Zeitstrukturen entsprechend verändert werden, Lehrer- und Schülerrollen sollten im Sinne von mehr Verantwortung und Gruppenprozessen verändert werden, durch Erwerb von Medienkompetenz sollte die individuelle Förderung verbessert werden, Unternehmen sollten beauftragt werden, die Funktion der Technik an den Schulen zu gewährleisten, der Kreis der beteiligten Personen an Fortbildungen sollte auf Sozialarbeiter, Erzieher etc. ausgeweitet werden, es sollte 20 Minuten-Fortbildungen geben und die Einführung von E-Learning-Programmen an den Schulen bedacht werden. Das alles sind natürlich ehrgeizige Ziele, deren Verwirklichung die Schulen aber zu Orten der Zukunft werden lässt.
Kategorien: Service
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