Verschiedenheit als Stärke : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
"Ausgrenzen - Abgrenzen? Integration in der Ganztagsschule" - der etwas provokativen Überschrift zum Trotz zeigte die Fortbildungsveranstaltung der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Thüringen am 3. April 2008 in Erfurt gute und konkrete Beispiele für die Integration/Inklusion geistig und körperlich behinderter Kinder in den Regelunterricht.
"Wir hören hin, welches die Themen sind, die interessieren", erklärt Rosa Maria Haschke, die Leiterin der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Thüringen. Ein Thema, das die an Ganztagsschulen Beschäftigten ganz offenkundig interessiert - nimmt man die vollbesetzte Aula der Staatlichen Integrierten Gesamtschule Erfurt am 4. April 2008 zum Maßstab -, ist die Integration/Inklusion von Kindern mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung in den Regelunterricht.
Unter dem Titel "Ausgrenzen - Abgrenzen? Integration in der Ganztagsschule" hatte die Serviceagentur und das Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm) zu einer Fortbildungsveranstaltung eingeladen. Rund 50 Pädagoginnen und Pädagogen waren der Einladung gefolgt, um sich durch konkrete Beispiele Anregungen zu holen, wie der Unterricht mit behinderten Kindern aussehen kann.
Im Laufe der Jahrzehnte hat sich die Bildungspolitik in diesem Bereich stark gewandelt: Während Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen früher gesondert unterrichtet oder auch nur betreut wurden - man also paradoxerweise eine Integration in die Gesellschaft durch Aussondern in der Schulzeit erreichen wollte -, bemüht man sich heute um Inklusion, wie die Diplom-Pädagogin und Bildungsberaterin Sylvia Koppe darlegte. Bereits 1973 riet der Deutsche Bildungsrat dazu, die "Tendenzen der Separation zu begrenzen". 1994 empfahl die Kultusministerkonferenz den "Abschied vom Begriff der Behinderung" mit der Folge, dass Sonderschulen nicht mehr als einziger Förderort gelten, sondern die Integration in die Regelschulen nahe gelegt wird. Zunehmend wird anstelle des Begriffs Integration der Begriff Inklusion verwendet, dem ein Verständnis grundsätzlich gleichberechtigter Einbeziehung behinderter wie nicht behinderter Menschen in einer "Schule für alle" zugrunde liegt.
Gemeinsamer Unterricht hat Vorrang im Schulgesetz
Thüringen hat diese Empfehlungen durch eine Novellierung des Schulgesetzes 2003 konkret umgesetzt: "Schulen sollen den Bedürfnissen des Kindes entsprechen und nicht das Kind den institutionellen Erfordernissen der Schule." Der gemeinsame Unterricht habe Vorrang vor dem Unterricht in der Förderschule, wenn die Eltern dies wünschen. "Die gesetzlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen für gemeinsamen Unterricht sind in Thüringen optimal", resümierte Andrea Glink, Diplom-Pädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Erfurt. Das Schulgesetze bejahe klar den gemeinsamen Unterricht. Aber wie könne man dies im konkreten Schulalltag realisieren?
Schulleiter Bernd Wilhelm begrüßt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in der IGS Erfurt
Für die Freie integrative Ganztagsgrundschule Jena beschrieben die Lehrerin und Sonderpädagogin Katrin Martick und die Sonderpädagogin Gabriele Kühlshammer, wie sich der Prozess in ihrer Einrichtung entwickelt hat. Bereits seit Anfang der neunziger Jahre gab es in Jena einen Kindergarten, der einen integrativen Ansatz verfolgte und einen so großen Zulauf erlebte, dass die Kapazitäten nicht mehr ausreichten. Eltern fragten, warum mit diesem Konzept nach Ende der Kindergartenzeit Schluss sein müsse und die Kinder wieder aufgeteilt würden. Diese Anregung nahmen die Pädagoginnen auf und sondierten 1997, wie ein solches integratives Konzept in einer Grundschule aussehen könne. "Dazu besuchten wir Schulen in Brandenburg, die dies bereits praktizierten", berichtete Gabriele Kühlshammer.
1998 stellte man das Schulkonzept im Schulamt vor, und zum Schuljahr 2000/2001 eröffnete die Ganztagsgrundschule in freier Trägerschaft. Zur Zeit lernen in vier jahrgangsgemischten Stammgruppen der Jahrgänge eins bis vier jeweils zwischen 17 und 19 Kinder, von denen bis zu fünf sonderpädagogischen Förderbedarf haben. Jede der Stammgruppen wird von einer Lehrerin, einer Sonderpädagogin und ein bis zwei Sozialarbeiterinnen, Erzieherinnen und Motopädinnen unterrichtet, sodass über den gesamten Tag immer zwei Pädagoginnen zeitgleich anwesend sind. Die Kinder lernen entsprechend den Thüringer Lehrplänen und Förderrichtlinien. Über die Entwicklungsfortschritte der Kinder werden halbjährlich ausführliche, individuelle Zeugnisberichte geschrieben.
Individuelle Planung für jeden Schüler
"Die Ganztagsschule ist ein wichtiges Standbein unserer Schule, denn sie bietet Zeit und Raum für die Kinder", so Katrin Martick. "Die Spannweite im Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler ist sehr groß, und um sie individuell fördern und herausfordern zu können, benötigen wir diese Zeit und diesen Raum." Die Arbeitsformen sind bunt: Neben Frontalunterricht haben offener Unterricht, Gruppenarbeit, Arbeit am Wochenplan und "Lernen lernen" ihren festen Platz. Sowohl der Tages- als auch der Wochen- und der Jahresrhythmus sind immer gleich strukturiert. So zeichnet sich der Tagesablauf durch einen Wechsel aus Lernen, Entspannen und Spielen aus, der laut Gabriele Kühlshammer "sehr wichtig" ist.
Andrea Glenk (l.) und Sylvia Koppe informieren über die rechtlichen Rahmenbedingungen in Thüringen
Von 6.30 bis 8.00 Uhr können die Schülerinnen und Schüler in ihren Stammgruppen ankommen. Von 8.00 bis 10.00 Uhr lernen und frühstücken sie dort. Von 10.00 bis 12.00 findet Kursunterricht in den Fächern Mathematik, Deutsch, Kunsterziehung, Musik, Englisch in Jahrgangsklassen statt, der von einer halbstündigen Gartenpause unterbrochen wird. Von 12.00 bis 13.00 Uhr gibt es ein Mittagessen, und es besteht die Möglichkeit, sich auszuruhen oder zu spielen. Danach kommen die Kinder wieder in ihren Stammgruppen zusammen, um im Schulgarten zu arbeiten oder in den Fächern Werken, Sport, Ethik und Religionslehre zu lernen. In diese Zeit fallen auch Förderunterricht und Freizeitangebote wie zum Beispiel die Kreativwerkstatt, Bewegung und Wald, Theater und Musikwerkstatt. Mit Freizeit klingt der Schultag von 15.00 bis 16.30 Uhr aus.
Jede Woche findet ein Morgenkreis zu sozialen Themen statt: "Die Kinder können dort loswerden, was ihnen auf der Seele liegt", so Katrin Martick. Das Schuljahr wird durch Feste und drei Projektwochen strukturiert: Die erste Projektwoche findet stammgruppenintern statt, die dritte ist schulübergreifend organisiert. Die zweite Projektwoche ist jeweils dem Thema Lesen gewidmet. Die Integration/ Inklusion spielen auch bei der Schulorganisation die entscheidende Rolle: Alle am Schulleben Beteiligten finden Gehör und arbeiten mit. "Was jeder Schüler benötigt, ergibt sich individuell und wird jedes Schuljahr neu geplant", so die beiden Pädagoginnen.
Nun besteht - analog zur Entwicklung vor Einführung der integrativen Ganztagsgrundschule - der Wunsch nach integrativen weiterführenden Schulen. Ein Antrag liegt im Thüringer Kultusministerium vor, und 2009 könnte eine solche Schule in Jena Wirklichkeit werden.
Tief greifende konzeptionelle Veränderungen
Die Staatliche Integrierte Gesamtschule Erfurt hat mit dem laufenden Schuljahr mit der Integration von jeweils zwei Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen pro Klasse in der Jahrgangsstufe 5 begonnen: Kinder mit Autismus, Down Syndrom oder Lernbehinderung sind zum Beispiel darunter. Der Wunsch zu dieser Form des Lernens kam aus dem Kollegium, und auch dank der "vielen interessanten Fortbildungen und Unterstützungen der Serviceagentur", wie Schulleiter Bernd Wilhelm erklärte, konnte dieser verwirklicht werden.
Lehrerin Steffi Grossert stellt das Schulkonzept der IGS Erfurt vor
"Ein solcher Schritt bringt tief greifende konzeptionelle Veränderungen im System Schule mit sich", beschrieb Lehrerin Steffi Grossert den Prozess. "Man muss Schule anders denken: Es braucht eine stärkere Rhythmisierung, mehr individuelle Förderung, gemeinsames Lernen, eine veränderte Lehrerrolle, eine bessere Einbeziehung der Familien, eine motivierende Lernumgebung, vernetzendes Lernen und eine verlässliche Nachmittagsbetreuung."
Die Lehrerinnen und Lehrer der IGS Erfurt arbeiten in Teams, jede Klasse wird von einem Duo geleitet, was "gut für die Schülerinnen und Schüler gerade in Konfliktsituationen ist", wie Steffi Grossert meinte. Die Kinder lernen im Kleingruppentischmodell, also in festen, nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählten Teams aus vier bis sechs Schülerinnen und Schülern an einem Tisch.
Vernetztes Lernen kommt Kindern zugute
Der Schulalltag wurde neu strukturiert: Die Fünf-Minuten-Pausen sind abgeschafft, stattdessen lernen die Kinder in drei großen Blöcken: Offener Unterricht von 7.55 bis 9.20 Uhr und je zwei Stunden fachgebundener Unterricht von 9.50 bis 11.25 Uhr und von 12.35 bis 14.10 Uhr. Zwischen diesen beiden Fachunterrichtsblöcken liegt eine 75 Minuten lange Mittagsfreizeit mit dem Mittagessen. Dienstags bis donnerstags findet am Nachmittag eine verlässliche Betreuung mit Arbeitsgemeinschaften statt, der Montag ist für Konferenzen reserviert.
Einmal monatlich bietet die Schule mit "Schule vor Ort und Stelle" einen Exkursionstag an oder lädt einen Experten ein: So berichtete ein ehemaliger Schiffskapitän den Kindern von seiner Arbeit, und die Schülerinnen und Schüler bauten ein Faltboot, banden Knoten und führten Experimente mit Wasser durch. "Dieses vernetzende Lernen, das Themen lebenspraktischer aufgreift, kommt allen Kindern zugute", meinte Steffi Grossert.
Die vollbesetzte Aula der IGS Erfurt
Die IGS Erfurt würde gerne zu einer gebundenen Ganztagsschule werden. Doch auch die teilgebundene Form hilft bereits, überraschende Entdeckungen zu machen. So fing ein autistisches Kind, das vorher kein Wort gesprochen hatte, beim Besuch einer AG "Kochen mit Opa" ganz wie selbstverständlich mit dem Senior zu reden an. "Der Mann fragte uns, welches Kind denn nun dasjenige sei, das nicht spricht", erinnerte sich die Lehrerin. Nach und nach öffnete es sich dann auch den Lehrerinnen und Lehrern.
"Manches klappt so richtig gut"
"Wir wollen keine Konkurrenz zu Förderschulen sein", betonte Steffi Grossert, "aber es gibt Familien, die sich für ihre Kinder nun mal anderes wünschen." Die Sonderpädagogin Ina-Maria Visy pendelt zwischen den drei 5. Klassen und unterstützt die Lehrerinnen bei ihrer Arbeit. "Ohne sie könnte ich diese Arbeit nicht machen", berichtete Klassenlehrerin Regina Kluth-Walsch, "denn manche Dinge weiß ich einfach nicht und wäre überfordert. Da braucht man diese professionelle Unterstützung."
"Manches klappt so richtig gut", meldete eine Lehrerin den Wasserstand nach sieben Monaten Arbeit im integrierten Modell. Aber natürlich ist auch noch vieles zu optimieren: Der Tagesablauf ist laut Aussage der Beteiligten noch nicht optimal für alle Kinder strukturiert, und trotz Ganztagsschule fehlt es noch immer an Raum und Zeit, um sich in Ruhe besprechen zu können. Der Aufwand zu Beginn der Einführung integrierter Klassen ist für eine Lehrerin wie Regina Kluth-Walsch dazu noch immens hoch: "Es müssen ja alle Arbeitsmaterialien nun auch auf die Fähigkeiten der Kinder mit Behinderungen abgestimmt werden. Die mussten wir alle selbst zusammensuchen oder herstellen."
Die Kolleginnen und Kollegen, die im kommenden Schuljahr den 5. Jahrgang übernehmen, werden darauf zurückgreifen können, aber für alle folgenden Jahrgangsstufen stellt sich immer wieder die Aufgabe, diese Arbeitsmaterialien zu organisieren und die zahllosen Arbeitsblätter, mit denen hier anstelle von Hausaufgabenheften gearbeitet wird, anzufertigen. Aber missen möchte den integrativen Unterricht niemand mehr: Besonders schön sei es zu beobachten, wie sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig aus Motivationslöchern holten. "Wir haben einfach auch viel Spaß zusammen", berichtet Regina Kluth-Walsch aus ihrer Klasse auf diesem "schwierigen und spannenden Weg".
Kategorien: Service
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