Thüringen und die Sehnsucht nach dem Mehr

Nicht wenige Kinder und Jugendliche lassen sich vom Flimmern des Fernsehers und Computers einfangen. Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck oder Rückenschmerzen haben vermehrt auch Kinder. Auf der Tagung "Ganztägig lernen in Thüringen. Unterstützungsmöglichkeiten für Ganztagsschulen" vom 4. bis zum 5. Oktober 2005 in Erfurt diskutierten Praktiker, wie Ganztagsschulen präventiv einen Beitrag zur Gesundheit der Kinder und Jugendlichen in Thüringen leisten können.

Es gibt eine stattliche Anzahl von Kindern und Jugendlichen in Thüringen, die schon früh eine schwere Bürde zu schultern haben: Auf ihrer Wanderung durch die schulischen Stationen schwitzen die Übergewichtigen schon bei der ersten Steigung. Dann gibt es die Erschöpften und die Müden. Oder die Depressiven. Nach einiger Zeit beschwert sich eine ganze Reihe der jungen Wanderer über Rückenschmerzen. Die Gesundheit wie die Bildungschancen vieler Kinder und Jugendlichen sind in Thüringen, aber auch in anderen Ländern, ungleich verteilt.

Einer neueren Studie zufolge schätzen 14,5 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Thüringen ihren Gesundheitszustand als mäßig bis schlecht ein. Das Land Thüringen möchte durch mehr ganztägige Bildung und Betreuung nun ein Zeichen gegen die gesundheitlichen Risiken in der Kindheit setzen.

"Ganztägig lernen in Thüringen. Unterstützungsmöglichkeiten für Ganztagsschulen" lautete der Titel, unter dem die Serviceagentur in Thüringen am 4. und 5. Oktober 2005 offiziell eröffnet wurde. Mit dabei: Über 100 Lehrerinnen und Lehrer, Sozialarbeiter, Partner aus Wirtschaft und Gesellschaft. Doch schon seit dem 1. Juni 2005 hatte die Serviceagentur ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist bei der Arbeitsstelle Schuljugendarbeit am Schulamt Jena angesiedelt.

Die 2, die 16 und die neue Serviceagentur

Serviceagenturen und damit professionelle Unterstützung für die inhaltliche Gestaltung der Ganztagsschulen, gibt es mittlerweile in 13 Ländern. Ausnahmen bilden nur noch: Baden-Württemberg, Bayern und das Saarland. Als ein Baustein in der Architektur der Unterstützungssysteme fungiert die Serviceagentur in Thüringen. Sie versteht sich als Schulentwicklungsagentur und wird von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) unterstützt. Bei der Schulentwicklung haben die Ganztagsschulen aller Schulformen eine Menge Freiräume, das Land Thüringen beschränkt sich auf "Rahmenvorgaben".

Ein ganzheitliches Bildungskonzept soll den Lebensweg der Kinder von zwei Jahren bis in die Jugend begleiten. Die Ganztagsschulen sind ein Bestandteil eines mit den kommunalen Spitzenverbänden zu schließenden Paktes "Bildung und Betreuung von 2 bis 16", wonach Bildung und Betreuung im Land bezahlbar und verlässlich bleiben und regionale Netzwerke aufgebaut werden sollen. Wenn man in Thüringen einen weiten Begriff von Ganztagsschule nach den Vorgaben der Kultusministerkonferenz zugrunde legt, käme man - da die Grundschulen mit Hort dazu zählen - auf über 750 Ganztagsschulen. Allerdings haben nur 77 Thüringer Schulen 2004 auch Mittel aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) erhalten.  

Die Sozialpädagogin Christine Wolfer und die Lehrer Rosa Maria Haschke und Wolfgang Koß haben die Aufgabe, Schulen im Lande zu begleiten, mit Partnern - wie dem Thüringer Institut für Lehrerfortbildung, Lehrplanentwicklung und Medien (Thillm), den Schulämtern, den Landeselternvertretungen und den Schülervertretungen - zu kooperieren sowie mit Partnern aus der Wirtschaft ansprechende Projekte zu realisieren. Oder mit Schulentwicklungsprogrammen wie "Eigenverantwortliche Schule" und "Schüler unternehmen was" Schnittstellen für eine Zusammenarbeit zu nutzen. Für Staatssekretär Kjell Eberhardt aus dem Thüringer Kultusministerium ist die Serviceagentur "ein Glücksfall". Die Serviceagentur kümmere sich um die Vernetzung der Schulen mit außerschulischen Partnern und den Erfahrungsaustausch, sie vermittele Experten und moderiere Workshops.

 

 

Staatssekretär Kjell Eberhardt begrüßt die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung. Christine Wolfer und Rosa Maria Haschke erläutern die Aufgaben der Serviceagentur Thüringen.

"Ganztagsschulen sind nützlich und entlasten die Eltern"

So Staatssekretär Kjell Eberhardt in seinem Grußwort zum Beginn der Tagung. Sie ermöglichten eine engere Beziehung zwischen Lehrkräften und Schülern. Doch, und das betont der Staatssekretär, sie seien "kein Ersatz von Familie", sondern deren "Ergänzung". Auch innerhalb der Schule sollten sich die Kinder vom täglichen schulischen Alltag entspannen können, durch eine Fülle von "Rückzugsmöglichkeiten".

Das Vertrauen in die Schulen insgesamt ist auch im vereinten Deutschland nicht besonders hoch. Der Gallup-Studie in 47 Ländern zufolge genießt hierzulande das größte Vertrauen die Polizei und nicht die Erzieher und Pädagogen. Schulen kommen erst an elfter Stelle. Um Vertrauen zu schaffen, favorisiert Dr. Heike Kahl, die Geschäftsführerin der DKJS einen an "Stärken orientierten Ansatz", wonach man den jungen Menschen durchaus etwas zutrauen und sie aktiv am Schulleben partizipieren lassen müsse. Nach Kahl ist in Deutschland schon so etwas wie eine "Ganztags-Community" gewachsen, die die Stärken der Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund stellt und nicht ihre Defizite.

Dr. Heike Kahl erläutert in ihrem Vortrag "Wer will was" die Bedürfnisse der Kinder und Erwachsenen.

Würde Churchill das heute noch sagen?

"No sports" - oder wie wir Deutschen gern sagen: "Sport ist Mord" - dieses Klischee hat sich in der Mediengesellschaft überholt. Verzicht auf Sport in der Kindheit kann fatale Auswirkungen haben. Nach Untersuchungen von Prof. Frank Bittmann vom Institut für Sportmedizin und Prävention an der Universität Potsdam ist inzwischen jedes zehnte Kind übergewichtig. In Deutschland soll es rund eine Million Kinder und Jugendliche geben, die schwer überwichtig (adipös) sind. Auch die Untergewichtigkeit, vor allem bei Mädchen, spielt eine große Rolle.

In seinem Vortrag "Gesundherhaltung von Kindern - Welche Chancen bietet die Ganztagsschule?" weist der Sportmediziner darauf hin, dass es einen "straffen Zusammenhang" zwischen Schulbildung und Übergewicht gebe. Einer Langzeitstudie von Prof. Klaus Bös zufolge sei die körperliche Leistungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen im Zeitraum von 1975 bis 2000 um zehn Prozent zurückgegangen. Mit der Sportmüdigkeit nehmen Krankheiten wie Jugenddiabetes, Bluthochdruck und Rückenschmerzen zu. Jedes vierte Kind im Alter von 11 bis 17 Jahren klagt bereits über Rückenschmerzen.

 

Sport ist nicht Mord: Prof. Frank Bittmann erläutert die Folgen von Fehlernährung und Bewegungsmangel bei Schülerinnen und Schülern. 



Ein bewegungsarmer Lebensstil beschert den jungen Menschen offenbar auch psychosomatische Probleme, wie Prof. Wolfgang Melzer in seinem Vortrag "Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen in Thüringen" diagnostiziert. "Die Hälfte unserer Schüler fühlt sich regelmäßig müde und erschöpft", so Melzer. Fast 15 Prozent der Schülerinnen und  Schüler in Thüringen bezeichneten ihren Gesundheitszustand als mäßig oder schlecht. Das ergab die Studie "Health Behaviour in School-aged Children" der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die u. a. in Thüringen Fünftklässler, Siebt- und Neuntklässler aus 35 Schulen befragte. 45 Prozent der Mädchen und Jungen kämen aus Patchworkfamilien oder hätten allein erziehende Eltern. Hier sieht Prof. Melzer einen "leichten Zusammenhang" zwischen mangelndem Wohlbefinden und familiärer Situation. "Ein Schlüssel zur Prävention ist die Verbesserung der Schulkultur, die die Individuen stärkt." Hierbei kommen die Ganztagsschulen ins Spiel, die nicht von Einzelkämpfern geprägt sind, sondern von eingespielten Teams.



Prof. Wolfgang Melzer: "Viele Schüler fühlen sich regelmäßig müde und erschöpft".

                                             


Die Sehnsucht nach dem Mehr



Tag zwei der Tagung: In fünf Workshops loten die pädagogischen Akteure aus Thüringen die Möglichkeiten aus, die Ganztagsschulen in Thüringen konzeptionell mit Leben zu füllen. Die Themen ranken sich um Organisation und Strukturen in der Ganztagsschule, die Teamentwicklung in der Ganztagsschule oder die demokratische Schulentwicklung bis hin zur Schuleingangsphase in Thüringen. Es zeigt sich: Besonders viel "Nachhilfeunterricht" besteht in der Teamentwicklung der Kollegien.


"Wie bringt man Menschen dazu, ein Schiff zu bauen?" fragt Moderatorin Hiltrud Werner (Workshop 2), Teamtrainerin in Erfurt. Ist es der Wunsch nach Modellschiffchen, der die Menschen bewegt, Flotten zu bauen? Nein. "Man weckt die Sehnsucht nach dem Meer", sagt die Trainerin. Für sie sind Ganztagsschulen "neue Kontinente", die man erkunden muss. Es ist die Sehnsucht nach den unendlichen Möglichkeiten des Lernens, die über das hinausgehen, was die Schulen derzeit bieten. Vorher müsse man, so Werner, die Probleme ansprechen, wie Bedenken wegen des Zeitaufwandes, Verschulung der Kindheit, Unterfinanzierung. Jede Veränderung bringt immer auch Widerstände mit sich. Über diese müsse man reden, um Bedürfnisse nach Sicherheit und Verlässlichkeit ernst zu nehmen.

Arbeit für die Basis: fünf Workshops auf der Veranstaltung in Thüringen.



Geld oder Engagement


In Thüringen engagieren sich rund 700.000 Menschen ehrenamtlich. Die meisten in Sportvereinen. Angesichts der pädagogischen Herausforderungen brauchen gerade Schulen Geld und Engagement. Im Workshop 3 "Ehrenamtliches Engagement", moderiert von Doris Voll, Bürgerstiftung ZwischenRaum in Jena, suchen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach Wegen, den Ganztagsschulmotor auch ohne viel Geld zum Laufen zu bringen. Das geht nicht ohne ehrenamtliches Engagement. Doch auch für ehrenamtliche Arbeit bedarf des eines Budgets. "Man kann Ehrenamt nicht rein ehrenamtlich koordinieren", sagt Doris Voll.


Allein die Stadt Erfurt fördert 50 Projekte im sozialen Bereich und kein einziges im schulischen Umfeld. "Da sind noch unheimlich große Reserven für Schulen, sich einzuklinken", sagt Anette Morhard vom Bildungswerk der Thüringer Wirtschaft in Erfurt. Um Ehrenamtliche dazu zu bewegen, sich im Bereich Erziehung und Schule zu engagieren, ist es wichtig, einen festen Ansprechpartner zu benennen und den Ehrenamtlichen auch Verantwortung zu geben. Die lateinische Sentenz "do ut des" oder "gib, dann wird dir gegeben", bringt das Verhältnis zwischen Schule und Ehrenamtlichen auf den Punkt.


Das Verhältnis der Schülerinnen und Schüler bringt hingegen Maurice Helm, 14 Jahre, von der G.E. Lessing-Regelschule in Erfurt auf den Punkt: "Die Schüler denken, Ganztagsschule bedeutet, sie müssen den ganzen Tag am Schreibtisch sitzen." Unwissenheit über Ganztagsschule ist in seinen Augen das größte Problem. Dass sich die Kinder in der Ganztagsschule mehr bewegen können und sollen als je zuvor, ist vielen gar nicht bekannt.

 

Zwei Schüler berichten über viel Unwissenheit in Sachen Ganztagsschule. Doch "Schule ist wichtiger als alles andere."



Mit Sport, Musik, Schulgemeinschaft, dem Wechsel von Anspannung und Entspannung, Teamgeist und ehrenamtlichem Engagement könnte aus dem beschwerlichen und bisweilen langweiligen Marsch durch die schulischen Institutionen eine lohnende Entdeckungsreise werden. Der Wille ist da, aus den über 700 ganztägigen Angeboten zur Bildung und Betreuung richtige Ganztagsschulen zu machen - ein langer Marsch für alle.  


 


Autor/in: Arnd Zickgraf
Datum: 14.10.2005
© www.ganztagsschulen.org

Kategorien: Service

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