Olympia lernen: "Hier ist eine große Welle in Bewegung" : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
"Was bedeutet uns die olympische Idee?", so lautet ein gewagtes, aber beeindruckendes Pilotprojekt an der IGS "Grünthal" in Stralsund, das gemeinsam von der Deutschen Olympischen Gesellschaft und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gefördert wird. Es wird die Lernkultur an der Ganztagsschule im Norden wohl nachhaltig verändern - und es eignet sich als bundesweites Beispiel.
Zwei Wochen segelt die 7a der Integrierten Gesamtschule "Grünthal" in Stralsund bereits auf dem olympischen Ozean: Mit einem multimedialen Pilotprojekt zum Völkerfest Olympia. "Wie heißt unser großes Schiff, mit dem wir durch die Stundentafel segeln wollen?", fragt Sabine Schweder, Medienpädagogin und Projektleiterin vom Schulamt Greifswald die Klasse 7a. Es ist Olympia 2004, das vom 13. bis zum 29. August in Athen stattfindet. Das große Olympia hat bereits die Ziellinie überquert. Dann segelt die IGS "Grünthal" Stralsund mit ihrem olympischen Pilotprojekt noch zwei Wochen bis zum 10. September weiter. Die Breite der beteiligten Fächer ist beeindruckend: Mathe, Informatik, Französisch, Religion, Geographie, Biologie, Physik, Sport, Kunst, Deutsch, Geschichte, Englisch, Philosophie.
Olympia ist an der IGS "Grünthal" Stralsund die Blaupause für ein fächerverbindendes, multimediales Lern- und Unterrichtsprojekt auf der Grundlage von Schola 21. Das Internetportal Schola 21, das von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung und der Stiftung Mercator GmbH unterstützt wird, stellt der 7 a den virtuellen Lernraum DO IT zur Verfügung. Ein Klassenzimmer und eine Arbeitsoberfläche im Netz also, das eine hochaktuelle Leitfrage beantworten soll: "Was bedeutet uns die olympische Idee?".
Im Plattenbaugebiet: Eine Schule, die bezaubert
Sabine Schweder hat mit der IGS "Grünthal" eine bemerkenswerte Schule für ein bundesweites Pilotprojekt ausgesucht. Das Gebäude liegt eingebettet in ein Plattenbaugebiet des Stralsunder Stadtteils Grünhufe. Die äußerlich auf den ersten Blick wenig einladende Schule befindet am Rande der Hansestadt Stralsund: hier fällt eine hohe Arbeitslosigkeit auf. Oben im zweiten Stock hat Sabine Schweder zusammen mit der Schulleiterin Christine Kieschnick am 16. August den Startschuss für das vierwöchige Projekt gegeben.
Projektleiterin Sabine Schweder und die Klasse 7a
Zwei helle Räume, ein orange gestrichener Computerraum und ein direkt anschließender gelber Klassenraum mit vielen Bildern, Zetteln und Tafeln an den Wänden stehen dem Projekt zur Verfügung: eine einladende Lernumgebung für die Schülerinnen und Schüler.
Auf die Plätze, fertig... los
Sieben Arbeitsgruppen der Klasse 7a sind an diesem olympischen Vormittag an den Start gegangen: Die Arbeitsgemeischaften Boxen, Handball, Radrennen, Schwimmen, Tischtennis, Kanu und die Springer. Außerdem zwei AGs, die das Unterrichtsprojekt dokumentieren. Es ist beinahe griechisches Wetter draußen - warm und sonnig - und die 7a, die sich in Kleingruppen aufgeteilt hat, achtet kaum auf die Lehrer. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 7a fertigen Steckbriefe an: sie sollen Aufschlüsse geben über ihre Person sowie über die ersten Eindrücke über das gerade angelaufene Projekt. Noch ist es laut zwischen den vielen Computern, man fühlt sich wie unter einem Schwarm von Möwen, die sich schnatternd ihr Futter aus dem Meer picken. "Es ist lebendig, aber produktiv", sagt Sabine Schweder, die Schola 21 für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung mitentwickelt hat und nun hautnah an der Realisierung dieses Projektes partizipiert. Noch ist Schweder für die Schüler und Lehrer eine Schaltstelle, quasi die letzte Instanz, die bei auftretenden Problemen eingeschaltet wird.
Nicht nur die leistungsstarke Klasse 7a befindet sich auf der Suche nach neuen Ufern im Rahmen des Unterrichtsprojektes, auch die Lehrer wollen mit multimedialer Technik die Unterrichtsqualität verbessern. Und das in allen Fächern der Stundentafel. "Wir wollen zeigen, dass solch ein Arbeiten möglich ist, ohne dabei den Schulstundenplan zu verändern" unterstreicht die Schulleiterin Kieschnick. Damit haben sich die Lehrer auf etwas zunächst Ungewisses, Neues, eingelassen.
"Diese Chance habe ich nie wieder"
"Wir möchten austesten, wie viel die Schüler und Lehrer annehmen", sagt Sabine Schweder. Die Schulleiterin Christine Kieschnick und die Ganztagsbeauftragte Petra Thümmel haben sofort erkannt, dass es bei dem Modellprojekt um etwas Wichtiges geht: "Sie schlagen eine Innovationsschneise", so Schweder. Es ist ihnen auch gelungen, das Lehrerkollegium - davon 15 Fachlehrer - in das Boot zu holen und ihnen die Berührungsängste mit den neuen Medien zu nehmen. "Diese Chance habe ich nie wieder. Wenn die Kollegen sehen, wie es gelingt, habe ich nicht nur ein Drittel, sondern alle im Boot" erläutert Schulleiterin Kieschnick. So hat das Olympia-Modellprojekt genügend Rückenwind, um auch nach Abschluss in anderen Formen an der Schule fortgeführt zu werden. Das Pilotprojekt ist Teil des Begleitprogramms der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung - und es klopft vor Ort die Gelingensbedingungen für ein "ganzheitliches und fächerverbindendes Unterrichtsmodell" ab, so Schweder.
Für Jenny Schanze, zwölf Jahre, ist der erste Tag noch ziemlich anstrengend: "Um genau zu sein, ich verstehe eigentlich gar nicht so recht, was das alles hier soll.
Jenny Schanze vom "Rasenden Reporter" und der AG Dokumentation
Jenny, die kein Blatt vor dem Mund nimmt, ist in der AG Dokumentation und dort zuständig für das Schülermagazin "Der rasende Reporter". Tag für Tag werden die Mitschüler von ihr und ihren Kollegen über ihre Befindlichkeit befragt, oder die Arbeitsaufgaben werden im virtuellen Klassenzimmer in Form eines Tagebuches protokolliert. Der Rollenwechsel von einer eher zuhörenden Schülerin zu einem selbstverantwortlichen Mitglied in der AG fällt ihr zunächst schwer. Hinzu kommt die sportliche Konkurrenz zwischen den Arbeitsgruppen und die unvermeidlichen Gruppenkonflikte. Alles Neuland für die Klasse 7a, doch auf der anderen Seite nichts anderes als die Wirklichkeit draußen im Arbeitsleben.
Das kleine ABC von Olympia
Der kleine Anpassungsschock hält auch am zweiten Tag, dem 17. August, an. Nun kommen nacheinander die Arbeitsaufträge der Fachlehrer. Klasse 7a versammelt sich in dem gelben Klassenraum. Ines Hollatz, die Englischlehrerin gibt ihren Arbeitszettel aus und geht die einzelnen Aufgaben mit der Klasse 7a durch. "Find out which sports are done at the Olympic Games. Make a crossword about the topics sport", lauten zwei der Aufgaben.
Englischlehrerin Ines Hollatz
Nachdem die Lehrerin noch Fragen der Schülerinnen und Schüler beantwortet hat, muss jede AG das Arbeitsblatt in das Journal ihres virtuellen Klassenzimmers eintragen. Leichte Unruhe kommt auf, als die Jugendlichen sich vor ihre Computer begeben. Nun müssen sich die AGs intern abstimmen, wie und wann sie den recht umfangreichen Aufgabenzettel bearbeiten wollen.
Vier Wochen haben sie Zeit, um vier größere Aufgaben mit ca. drei Unteraufgaben zu erledigen. Immer, wenn ein Auftrag erteilt wird, setzen sich die AGs an die Computer, recherchieren oder dokumentieren ihre Aufgaben. Doch es kommen noch die übrigen Aufgabenpakete in Deutsch, Mathe, Geschichte usf. Man sieht Köpfe ,rauchen': "Wie soll ich das schaffen?" hört man die ersten Zweifler. Jenny macht sich Sorgen, dass ihre AG das Tempo der anderen nicht mithalten kann. Ein kleiner olympischer Wettbewerb hat begonnen: wer ist schneller, besser. Das ist durchaus gewollt, erinnert Schulleiterin Kieschnick: "Der olympische Gedanke im Rahmen dieses Projektes bedeutet für uns: Durchhaltevermögen, Ehrgeiz, Teamgeist zwischen den AGs und den Fächern".
"Heute ist die Stimmung komplett gekippt"
Nur eine Woche später hat sich die Szenerie im Olympia-Projekt grundlegend gewandelt. Am 24. August schreibt Jenny in das Online-Tagebuch: "Heute verfliegt die Zeit eigentlich wie im Fluge. Wir haben alle zu tun (...). Hoffentlich geht das Projekt nicht so schnell vorbei". Einen Tag später, am 25. August stellt auch Sabine Schweder einen Umbruch fest: "Heute ist die Stimmung komplett umgekippt. Jenny hat kaum Zeit für eine Besprechung mit mir: ,Zehn Minuten, mehr Zeit hab ich nicht'". Jenny oder Hannah, die zu Beginn des Projektes noch große Bedenken hatten, haben nun alle Hände voll zu tun. Als Reporterinnen machen sie Interviews mit den Mitschülern oder der Schulleitung. Außerdem sind ja noch die Auftragspakete in Deutsch, Englisch oder Mathe und den übrigen Fächern zu erledigen.
Jenny lernt, dass sie ihre Zeit selber organisieren muss, sie muss Fair Play und Teamgeist entwickeln, Prioritäten setzen und außerdem ihren Schultag selbstständig strukturieren. Mit Olympia als Hintergrund lernen die Schülerinnen und Schüler individuelle Förderung und soziale Kompetenz aus einer Hand - im virtuellen Klassenzimmer Schola 21 und kraft des Projektmanagements durch Sabine Schweder und der Schulleiterin Christine Kieschnick. "Die Kinder verteilen sich in beide Räume. Jetzt kommen wir in die ideale Teilung", stellt Schweder fest.
Solche Entwicklungen bleiben natürlich auch den Eltern nicht verborgen. Diese waren ja zunächst sehr skeptisch und hatten zunächst viele offene Fragen. Doch auf einer Teamsitzung berichtete Jennys Mutter von einem bemerkenswerten Wandel ihrer Tochter: morgens stehe sie motiviert auf und freue sich auf die Schule.
Werden unsere Kinder auch benotet?
Doch die größte Nuss kann erst geknackt werden, wenn man außer den Schülern und Lehrern auch die Eltern für ein solches Projekt gewonnen hat. "Am meisten Widerstand gibt es bei der Leistungsbewertung der Kinder", sagt Sabine Schweder. Auch dafür hat sich Schweder mit dem Lehrerkollegium eine Lösung einfallen lassen.
Auf der ersten Lehrerteamsitzung am 17. August, die mit elf Fachlehrerinnen, drei Fachlehrern sowie der Schulleitung bereits lebhaft über die Bewertungskriterien diskutiert hat, schälte sich eine für alle Seiten akzeptable Lösung heraus.
Besprechung der Lehrerinnen und Lehrer
Nachdem von allen beteiligten Fachlehrern die Aufträge an die AGs ergangen sind, beginnt ab dem 18. August eine systematische Beobachtung. Diese dient dazu, methodische, soziale und individuelle Kompetenzen aller Schüler einzuschätzen. Ein Element der Beobachtung ist eine Art Sprechstunde.
Die eigentliche Schülerbewertung setzt sich aus zwei Fachnoten und einem Lernfortschrittsbericht zusammen: letzterer dient übrigens der Gesamteinschätzung. Die sonst übliche normative Bewertung wird durch eine verbale Gesamteinschätzung ergänzt - was einer durchaus ungewöhnliche Praxis an staatlichen Schulen entspricht. An diesen ist die Bewertung bislang auf auf die Halbjahres- bzw. Jahreszeugnisse beschränkt.
Soziale und individuelle Kompetenzen aus einer Hand
Bei der Beobachtung der sozialen und individuellen Kompetenzen einigte sich das Kollegium auf insgesamt acht Kompetenzbegriffe (vier individuelle und vier soziale), wie Selbstständigkeit, Kreativität, Teamfähigkeit, Fähigkeit zur Selbsteinschätzung und Kritikfähigkeit etc. Bewertet werden ferner alle Fächer im Rahmen einer differenzierten Qualitätseinschätzung. In die Benotung soll schließlich auch die Projekthomepage mit Startseite und projektbezogene Ergebnisse in Form eines Portfolio usw. eingehen. Alles in allem ein sehr elaborierter Bewertungsschlüssel bei dem im gesamten Lehrerkollegium und in partnerschaftlicher Atmosphäre Einigkeit hergestellt wurde.
Das fliegende Lehrerzimmer
"Ich habe unterschätzt, wie gerne die Lehrer hier experimentieren", sagt Sabine Schweder - und sich weiter entwickeln wollen, könnte man ergänzen. Ein Beispiel: Ohne qualifizierte Trainer wären viele Athleten bei Olympia nur halb so gut. Gute Trainer orientieren sich an erfolgreichen, zeitgemäßen Übungsmethoden. Das scheinen die Lehrerinnen und Lehrer an der IGS "Grünthal" in Stralsund in besonderer Weise zu beherzigen: Sie stellen sich gerne auf eine andere, mehr moderierende Rolle ein, wollen erfolgreich sein, eben auf der Höhe der Zeit. "Nach einer Woche hat sich der Blick der Lehrer völlig geändert. Sie arbeiten nun an einem neuen Lehrerbegriff", erläutert Sabine Schweder. Viele Lehrerinnen und Lehrer haben einen Teil ihrer Studienzeit noch in der DDR absolviert. Die Schulen dort waren bereits Ganztagseinrichtungen. "Was wertvoll ist, sollte man auch erhalten, das sind Werte wie z.B. Toleranz, Höflichkeit, Kritikfähigkeit, Fleiß" ergänzt Christine Kieschnick. Das kommt der IGS "Grünthal", an der nicht nur im Lehrerzimmer eine zutiefst offene und freundliche Atmosphäre herrscht, nun zugute.
Das fliegende Lehrerzimmer der IGS Stralsund
Wenn etwas fehlt, dann wohl nur eine moderne Trainingsanlage, also eine verbesserte räumliche Schulumgebung. Auch die ist bereits ins Visier genommen worden: "Aus unserem grauem Plattenbau soll etwas orange Leuchtendes werden - und das in sehr kurzer Zeit", sagt Christine Kieschnick, die immer ein offenes Ohr für die Kinder hat. Dafür hat die Schulleiterin bereits 2,2 Mio. Euro aus dem Bundesprogramm beantragt, die bis Anfang 2007 in breite Flure, mehr Licht und Raum und eine Multifunktionshalle investiert werden sollen. Der Abteilungsleiter der Schulverwaltung Stralsund, Steffen Grieser, sowie die Schulamtsleiterin des Staatlichen Schulamtes Greifswald, Jutta Paprott, haben bereits grünes Licht gegeben.
Welche Perspektiven ergeben sich für die IGS Stralsund aus dem Pilotprojekt? "Beobachtung des nächsten Vorhabens an der IGS "Grünthal", Durchführung einer Langzeitstudie der Klasse 8a und eine November-Feedback-Runde ,Sehnsucht nach Athen'", sagt Schweder. Außerdem wird Schweder auf der Auftaktkonferenz "Ideen für mehr - Ganztägig lernen" am 17. und 18. September von ihren Erfahrungen an der IGS "Grünthal" in Berlin berichten. Den treffendsten Ausdruck für das Phänomen Stralsund hat wohl Sabine Schweder gefunden: "Hier ist eine große Welle in Bewegung." Das Schiff, die IGS "Grünthal" in Stralsund, hat volle Segel bekommen und Fahrt aufgenommen.
Kategorien: Service
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