Nils Neuber: "Kinder sind leibliche Wesen und keine Lernmaschinen"

25.05.2012 - Autor/in: Stephan Lüke

Als Königsweg der Kooperation zwischen Sportlehrern, Übungsleitern, aber auch weiteren Fachkräften, z.B. Studenten, die häufig als Übungsleiter im Ganztag tätig sind, sollte deren gemeinsame Qualifikation angestrebt werden. Dafür plädiert der Leiter des Arbeitsbereichs Bildung und Unterricht und Sprecher des Centrums für Bildungsforschung im Sport (CeBiS) am Institut für Sportwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Prof. Dr. Nils Neuber.

Prof. Dr. Nils Neuber (Bild: Internationales Centrum für Begabungsforschung (ICBF) an der WWU)

Online-Redaktion: Mit Beginn der Ganztagsoffensive in Deutschland bekam das Miteinander von Schulen und Sportvereinen immer größere Bedeutung. Gelingt das Zusammenspiel?

Nils Neuber: Kooperationen von Schulen und Sportvereinen gibt es schon lange. Dabei drehte es sich bisher oft um Angebote zur Talentförderung. Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote im Ganztag sind breiter angelegt. Als Freizeitangebote sind sie einerseits an den Interessen und Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen orientiert. Zugleich bieten sie über die motorische Förderung hinaus zahlreiche Lerngelegenheiten, z.B. im Bereich des sozialen Lernens. Dabei ist der organisierte Kinder- und Jugendsport ein wichtiger Partner. An vielen Schulen gelingt die Zusammenarbeit gut. Doch es gibt auch die Klage der Vereine über eine zu geringe Akzeptanz und Absprache. Da liegt die Verantwortung auch bei den Schulleitungen. Es geht darum, die drei Systeme - Schule, Jugendhilfe und Sportvereine - zusammenzuführen und Standesdünkel zu überwinden.
 
Online-Redaktion: Wie müsste das Miteinander organisiert sein?

Neuber: Neben einer konzeptionellen Zusammenarbeit auf Augenhöhe würde ich mir wünschen, dass die Sportlehrkräfte stärker als bislang Koordinations- und Moderationsaufgaben übernehmen. Inhaltliche und organisatorische Absprachen, Vernetzung von Vor- und Nachmittagsangeboten, innovative Schulsportprojekte, gemeinsame Weiterbildungsmaßnahmen - es gibt viele Möglichkeiten, die Ganztagsangebote im Sinne der Schulsportentwicklung zu nutzen. Umgekehrt sollten die Vereine aktiv auf Sportlehrkräfte und Schulleitungen zugehen und ihre Ideen und Vorstellungen einbringen. 

Online-Redaktion: Wird Sport zu häufig noch als "Nebenfach" betrachtet?

Neuber: An vielen Schulen sicher nicht, an anderen unbewusst wohl doch noch häufig. Dabei gehören Bewegung und Lernen untrennbar zusammen. Bewegung macht fit fürs Lernen. Das gelingt aber nur, wenn man eine tatsächliche Rhythmisierung des Schulalltags hinbekommt und Bewegung in der Schulkultur fest verankert ist. Dabei geht es nicht nur um Sportstunden. Man kann Bewegung auch in den Unterricht anderer Fächer integrieren. Die Ganztagsgrundschulen sind da oft schon sehr weit. Viele verdienen den Titel "Bewegte Schule" zu Recht. In den weiterführenden Schulen ist das nicht immer so einfach.

Online Redaktion: Warum?

Neuber: In den Sekundarstufen I und II ist das Lernen stärker abstrahiert. Aber es wäre durchaus möglich, den Erwerb von Fachwissen handlungsorientierter zu inszenieren. Ich erinnere mich an den Besuch einer Hauptschule in Herne. Als ich dort hinkam, liefen gerade die Schülerinnen und Schüler mit riesigen Latten und Geodreiecken über das Schulgelände und haben das Schulgebäude vermessen. In dieser Form von bewegungsorientiertem Unterricht wird Geometrie erlebbar und greifbar.

Online-Redaktion: Kommen wir aber noch einmal auf das Zusammenwirken von Sportlehrern und Übungsleitern zurück. Wie kann es erfolgreich harmonieren?

Neuber: Der Königsweg der Kooperation zwischen Sportlehrern, Übungsleitern, aber auch weiteren Fachkräften, z.B. Studenten, die häufig als Übungsleiter im Ganztag tätig sind, wäre die gemeinsame Qualifikation. Die außerschulischen Partner sollten an Fachkonferenzen teilnehmen und dafür auch bezahlt werden. Beide Professionen bringen wichtige Erfahrungen mit, von denen die anderen profitieren können. Sportangebote  - ob als unterrichtliche oder außerunterrichtliche Angebote - können viel zur Entwicklung der Schülerinnen und Schüler beitragen.

Online-Redaktion: Mitunter stehen die drei Stunden Sport pro Woche nur auf dem Stundenplan.

Neuber: Die Gefahr sehe ich insbesondere beim auf acht Jahre verkürzten Abitur. Viele Gymnasien gelten nur als Ganztagsschulen, weil sie wegen der erhöhten Stundentafel bis in den Nachmittag arbeiten, aber kaum, weil sie Rhythmisierung und auch ausreichende Bewegungsmöglichkeiten anbieten. Da darf der Sportunterricht dem G-8-Diktat nicht zum Opfer fallen. Sport hat eine wichtige Ausgleichsfunktion und Kinder sind leibliche Wesen und keine Lernmaschinen.

Online-Redaktion: Diese leiblichen Wesen wünschen sich oft, bei der Gestaltung des Sportangebots mehr beteiligt zu werden. Geht ihr Wunsch in Erfüllung?

Neuber: Es ist ja bekannt, dass das Land NRW und der Landessportbund NRW den Aufbau von Strukturen für die Kooperation von Schule und Sportvereinen unterstützt. Wir evaluieren gemeinsam mit der Universität Duisburg-Essen und dem Willbald-Gebhardt-Institut "Bewegungs-, Spiel- und Sportangebote  in der Ganztagsgrundschule". Ein Teilprojekt, das von Ahmet Derecik, Nils Kaufmann und mir betreut wird, betrifft die Partizipation von Kindern in der OGS. Dabei haben wir festgestellt, dass Partizipation von den Übungsleiterinnen und Übungsleitern zwar oft als Ziel genannt wird, die Umsetzung aber häufig noch unzureichend ist. Es zeigt sich ein deutlicher Bedarf an didaktisch-methodischem Handwerkzeug zur Umsetzung von Partizipation. Mit den empirischen Ergebnissen können wir nicht nur Aussagen zu den Rahmenbedingungen der Partizipation machen, sondern wir können auch praktische Hinweise zur Förderung von Partizipation liefern.

Online-Redaktion: Wie weit sollte Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern gehen?

Neuber: Sicher ist, dass Extremformen wenig hilfreich sind. Eine völlige Fremdbestimmung führt zu "Muss-Stunden", wie ein Kind sagte, in denen es keine Möglichkeiten der Partizipation gibt. Bei einer völligen Selbstbestimmung kommt es zu einer ungleichen Partizipation aufgrund der Dominanz der stärkeren Kinder. In diesem Extremfall fehlt eine Erziehung zum demokratischen Handeln. Eine pädagogische Partizipation zeigt sich in einem vielfältigen Spektrum zwischen Fremdbestimmung und Selbstbestimmung, in dem Kinder demokratisches Handeln lernen und zugleich auch praktizieren können.

Online-Redaktion: Wie könnte das konkret aussehen?

Neuber: Nehmen Sie ein einfaches Beispiel wie die Trinkpause. Es gibt Lehrkräfte, die legen einfach fest, wann getrunken werden darf. Andere fragen: "Wie sollen wir es halten?" Das Ergebnis kann natürlich nicht sein, dass hinterher alles erlaubt ist. Kinder brauchen Strukturen. Aber wenn die Kinder erfahren, dass sie an der Entscheidung beteiligt werden, tragen sie diese mit Sicherheit stärker mit. Das erleichtert auch die Gestaltung der Sportangebote.

Online-Redaktion: Die Vermutung liegt nahe, dass solch eine Erleichterung auch eintreten könnte, wenn kulturelle und ethnische Integration gelingt.

Neuber: Unsere Untersuchungsergebnisse zeigen, dass kulturelle und ethnische Differenzen von Kindern, Lehrkräften und Übungsleitern zwar erkannt werden, dass diese aber für die Befragten nur ein Aspekt von Heterogenität unter vielen ist. Insbesondere für Grundschulkinder ist er nicht weiter relevant. Dennoch werden vielfältige Möglichkeiten von Bewegung, Spiel und Sport für einen bewussten Umgang mit Differenz und Fremdheit und für Anerkennung und soziale Zugehörigkeit im Sinne einer interkulturellen Bewegungserziehung gesehen.

Online-Redaktion: Findet eine Verknüpfung von Bewegung und interkulturellem Lernen statt?

Neuber: Nur selten. Insofern verweisen die Untersuchungsergebnisse auf eine doppelte Paradoxie: Zum einen ist Ethnizität auf den ersten Blick in der Wahrnehmung der Lehrkräfte keine relevante Kategorie und wird erst auf den zweiten Blick im Zusammenhang mit dem Einfluss der Eltern auf die Kinder thematisiert. Zum anderen herrscht eine Ambivalenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit interkultureller (Bewegungs-)Erziehung: Dem interkulturellen Lernen wird zwar eine hohe Relevanz beigemessen, zugleich wird es aber kaum situationsbezogen umgesetzt. Zudem wird interkulturelles Lernen oft sehr defizitorientiert charakterisiert.

Online-Redaktion: Was empfiehlt der Wissenschaftler als Konsequenz für die Ausbildung von Lehrkräften und Übungsleitern?

Neuber: Zunächst sollte klar sein, dass pädagogisch inszenierte Sportangebote nicht nur motorische, sondern auch außersportliche Ziele verfolgen. In der Sportpädagogik sprechen wir vom Doppelauftrag einer Erziehung zum und durch Sport. Dafür müssen Sportlehrkräfte und Übungsleiter sensibilisiert werden. Neben konkreten Kenntnissen und didaktisch-methodischem Handwerkszeug betrifft das vor allem die Entwicklung eines pädagogischen Selbstverständnisses, einer Haltung, die die pädagogischen Chancen von Bewegung, Spiel und Sport erkennt, ohne sportliche Grundstrukturen zu negieren.

Online-Redaktion: Wie sieht das konkret aus?

Neuber: Wenn Kinder lernen sollen, mit Sieg und Niederlage umzugehen, dürfen sie nicht nur Spiele ohne Sieger spielen, sondern sie müssen weiterhin Wettbewerbssituationen erleben dürfen - was sie ja auch wollen! Aber wir sollten diese Situationen angemessen reflektieren. Für die Ausbildung von Lehrkräften und Übungsleitern bedeutet das, dass wir das eigene Verständnis von Sport, Leistung, Gesundheit usw. reflektieren, um den eigenen Standpunkt erkennen zu können. Das gelingt besonders gut in projektorientierten Lernformen, die praktische und theoretische Anteile verknüpfen. In der Sportlehrerausbildung können wir so im Zusammenspiel mit wissenschaftlichen Theorien zur Entwicklung eines professionellen Selbst beitragen. 

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