Neue Ideen für die Ganztagsschulen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" ist jetzt das Begleitprogramm der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" an die Seite gestellt worden. Im ersten Teil des Berichts geben wir einen Überblick über die wichtigsten Redebeiträge auf der Konferenz und die Hintergründe des Begleitprogramms.
"Das zeigt, dass die Leute wirklich etwas ändern wollen" sagt Mareike Gerlach. Die Schülerin steht vor einer großen Deutschlandkarte, sie ist 18 Jahre alt und besucht die Integrierte Gesamtschule Alfred Wessner aus Hessen. Auf der Karte sind alle 16 Länder abgebildet, und mit orangenen Punkten versehen. Die meisten befinden sich in Berlin, Hessen und Nordrhein-Westfalen.
Mareike Gerlach vor der Deutschlandkarte
Von den 1200 Besuchern, die zum Ganztagsschulkongress "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" angereist sind, haben an diesem sonnigen Mittag im Berliner Congress Center bereits zahlreiche Leute an dem Ausstellungsstand der Kirchhainer Gesamtschule Station gemacht. Sie sind gekommen, um bei Mareike Gerlach ihren Punkt zu kleben. Die aufgeweckte Schülerin aus Hessen, die ein orangenes T-Shirt trägt, ist eine der vielen Helferinnen und Infoscouts in Orange, die überall auf dem Kongress zugange sind: lebendige und aufgeschlossene junge Menschen vom Bundesarbeitskreis "Schüler gestalten Schule", die an eine bessere Zukunft glauben.
"Wirklich etwas ändern wollen"
Wo man auch hinschaut, im Foyer, an den Ausstellungsständen der Schulen, in den Gängen und Arbeitsräumen ist viel Schwung und Aufbruchsstimmung unter den Kongressteilnehmern wahrzunehmen. "Wirklich etwas ändern wollen" könnte der Leitsatz dieser Großveranstaltung in Berlin lauten.
Eine einladende Umgebung
Mit Ideen für gelungene Ganztagsschulen, die dazu beitragen sollen, dass das deutsche Bildungssystem endlich aus der Krise herausfindet. Die Schulen in Deutschland sind seit PISA in Bewegung geraten, zunächst zwar mit Anlaufschwierigkeiten, doch nun immer schneller. Doch die Ganztagsschulen in Deutschland suchen noch ihr Selbstverständnis, ihre inhaltliche Identität.
3030 neue Ganztagsschulen
Um die Ganztagsschulen in den Bundesländern bei dieser qualitativen Arbeit zu unterstützen, hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung damit beauftragt, das inhaltliche Begleitprogramm zum Ganztagsschulausbau zu konzipieren. Ein Baustein für das mehrjährige Programm ist dieser Kongress am 17. und 18. September in der Kongresshalle am Berliner Alexanderplatz.
"Vor einem Jahr haben wir in Berlin die Startkonferenz zum Ganztagsschulausbau veranstaltet. Seitdem haben 3030 Schulen den Aufbau begonnen. Das ist gut investiertes Geld", sagt Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn in ihrem Grußwort an die Kongressteilnehmer. Am Beispiel dreier zentraler Thesen betont Bulmahn die Dringlichkeit einer umfassenden Bildungsreform - und damit auch des zügigen und flächendeckenden Ganztagsschulausbaus: "Bildung entscheidet in zunehmendem Maße über die Chance, Erfolg im Leben zu haben. Innovation und Fortschritt sind nur mit gut ausgebildeten Menschen möglich. Das Bildungsniveau muss insgesamt erhöht werden: in der Breite und Tiefe, in Schule und Hochschule".
Bulmahn sieht neue Kultur der Zusammenarbeit
Die neue Kultur der Zusammenarbeit, die seit der Startkonferenz 2003 in den Ganztagsschulen sichtbar geworden sei, ist für Bulmahn der Garant für den Erfolg des Bundesprogramms. "Ich bin begeistert von dem Engagement der Lehrer, Schüler und Eltern", so die Ministerin weiter. Die Ministerin zeigte sich erfreut, mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung einen kompetenten Partner für die Verwirklichung des Begleitprogramm gefunden zu haben.
Während das Bundesinvestitionsprogramm (IZBB) des Bildungsministeriums in die Hardware der Ganztagsschulen investiert - also in Baumaßnahmen, Technik, Geräte, Mobiliar etc. - sorgt das Begleitprogramm der DKJS "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" für die Software. Also für neue Partizipationsmodelle, qualitative Beratung, neue Unterrichtsmethoden, Internetdatenbanken, regionale Servicestellen in den Bundesländern, die bundesweite Verbreitung von "Best Practice"- Beispielen sowie die Einrichtung von vier Werkstätten als inhaltliches Gestaltungswerkzeug von Ganztagsschulen.
Ganztagsschule verändert Kinder und Lehrer
Nach der Eröffnung des zweitägigen Kongresses durch Bildungsministerin Edelgard Bulmahn bestiegen zwei Ganztagsschulleiter die Arena, Ruben Herzberg vom Ganztagsgymnasium Klosterschule in Hamburg und Alfred Hinz von der Bodenseeschule St. Martin in Friedrichshafen. "Was sind die Gelingensbedingungen von Ganztagsschulen?", fragte Moderator Sven Kunze von der ARD.
Austausch mit zwei Schulleitern: Alfred Hinz (l.) und Ruben Herzberg (r.)
"Es lohnt sich, anzufangen und eine Ganztagsschule auf die Beine zu stellen", sagt Rektor Alfred Hinz. Und wer das Abenteuer Ganztagsschule ernsthaft beginnt, hat meist gewonnen: "Ganztagsschule verändert die Kinder und Lehrer - und verbessert die Balance zwischen emotionaler und kognitiver Leistung", so Hinz weiter. Nicht ein einziges Kind dürfe der Volkswirtschaft verloren gehen. Demgegenüber gehört für Ruben Herzberg nach PISA und dem OECD-Bericht "Bildung auf einen Blick" der "fragend entwickelnde Unterricht auf den Prüfstand". Gefragt sei die Rhythmisierung des Unterrichts.
Im Rhythmus kreativer Ideenströme
Apropos Rhythmisierung: der Ablauf des Vormittags im Rhythmus von Begrüßung, zwei Podiumsdiskussionen und Vorstellung des Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" gab bereits einen Vorgeschmack auf die Auflösung starrer Zeitstrukturen, die am Nachmittag in den sieben Arbeitsforen ebenfalls noch zur Anwendung kommen sollte. Im Plenarsaal konzentrieren sich hunderte Besucher auf den Input, der aus den Podiumsdiskussionen hervorging, während draußen im Foyer und auf den Gängen ein Marktplatz aus 40 Ausstellern - davon 32 Ganztagsschulen - auf die Kongressteilnehmer wartete und orangene Helfer wie die Bienen herumschwärmen, um den Kongress als Ort überraschender Begegnungen, aber auch verlässlicher Abläufe erlebbar zu machen.
"Das wichtigste Ziel dieser Konferenz lautet: Wir brauchen Ihre Meinung und Ihre Ideen, um das Begleitprogramm im Sinne der Ganztagsschulidee und einer Pädagogik der Vielfalt weiter zu entwickeln", so Heike Kahl, Geschäftsführerin der DKJS in ihrer Begrüßungsansprache
"Ein Komplettaustausch von Lehrern"
Ein Strom von Ideen und der Dialog zwischen unterschiedlichen Akteuren im Ganztagsschulleben bringt meist neue Erkenntnisse, so auch in der ersten Podiumsdiskussion "Ganztagsschule neu gestalten". Ein erfolgreicher Weg zu einer verlässlichen Ganztagsschule ist aus Sicht von Petra Köster-Gießmann der Aufbau einer verbindlichen und verlässlichen Ganztagsschule durch das Hochwachsen von unten nach oben: "Wir haben mit einer Klasse angefangen, die dann hochgearbeitet wurde".
Die erste Podiumsdiskussion "Ganztagsschule neu gestalten"
Die Schulleiterin der Grundschule Borchshöhe in Bremen verdeutlichte eindrucksvoll den tiefgreifenden Wandel einer Einrichtung auf dem Weg zur Ganztagsschule: Klassenstrukturen wurden aufgelöst, das Lehrpersonal erhielt Autonomie und die Präsenzzeit wurde auf 35 Stunden in der Woche erhöht. "Dadurch gab es fast einen Komplettaustausch von Lehrern", so die Schulleiterin. Um solche und andere Aufgaben zu bewältigen, brauchen Schulleiterinnen und Schulleiter Managementkenntnisse, die sie sich in Bremen durch Qualifizierungsmaßnehmen erwerben können, noch bevor sie mit der Schulleitung beauftragt werden. "Wichtig ist auch die Verzahnung von Vormittag und Nachmittag und die frühe Sprachförderung von Migrantenkindern", ergänzte Bianca Bollweg, Lehrerin an der Europaschule Nordhorn in Herford.
Elternzimmer und mehr Schülerverantwortung
Ein Lob übrigens der Einrichtung von Elternzimmern, wie in der Waldhof Grundschule in Templin: "Wenn mein Kind nicht nach Hause kommt, dann kann ich in die Schule gehen", sagte Antje Lachmann von der Elternvertretung unter Applaus des Publikums. Ebenso wichtig ist die frühe Berufsorientierung durch die außerschulischen Partner: "Motivation durch Qualifikation" heißt das Zauberwort von Daniel Körbel dazu. Wer ausbildet, sollte den Schülern auch Verantwortung geben, ergänzte der Ausbildungsleiter beim Arbeiter Samariter Bund in Worms. Das alles zahlt sich für Schülerinnen und Schüler offensichtlich aus: "In der Ganztagsschule lernt man selbstständig lernen, aber auch mit unterschiedlichen Leuten zusammen zu arbeiten", sagt die Schülerin Anne Müller von der Jenaplan Schule in Jena.
Und was tut die Politik?
Was die Praktiker von der Politik erwarten können, war Gegenstand der zweiten Podiumsdiskussion "Ganztagsschule unterstützen - Aufgabe der Politik".
Für Bundesbildungsministerin Edelgard Buhlmann ist der Ganztagsschulausbau unumkehrbar geworden: "Der Wandel der Schulkultur ist nicht mehr zurückzudrehen, das, finde ich, ist der eigentliche Erfolg". Mit dem Bundesinvestitionsprogramm habe der Bund eine Initialzündung gegeben. "Ganztagsschulen werden nun in die Breite umgesetzt", sagte die Ministerin. In allen Schulen finde ein Lernprozess statt. Spürbare Erfolge gibt es für Bulmahn in der verbesserten Kooperation mit externen Partnern. "Ganztagsschulen sind eine wirkliche Unterstützung der Familien".
Politiker diskutieren Ideen für die Praxis
Die "gute Zusammenarbeit zwischen dem Bund und den Ländern" und den vorhandenen Gestaltungsspielraum lobte die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen. In Rheinland-Pfalz gäbe es eine gute personelle Ausstattung für die Ganztagsschulen, Fortbildungen für Lehrer und funktionierende Netzwerke vor Ort. "Ganztagsschulen leisten einen Beitrag dafür, dass das Bildungssystem insgesamt besser wird." Auch Kultusminister Jan-Hendrick Olbertz, Kultusminister von Sachsen-Anhalt, lobte das Investitionsprogramm des Bundes zum Ausbau der Ganztagsschulen: "Es ist ein Strukturprogramm, dass Rahmenbedingungen schafft für die Schulentwicklung." Prof. Olbertz forderte aber eine stärkere Beachtung der Familie, eine wissenschaftliche Begleitung des Ganztagsschulausbaus und die Reform weiterer Bildungsbereiche.
Demokratie lernen und Selbstständigkeit fördern
Für die Städte bekräftigte Wolfgang Rombey den eingeschlagenen Weg des Ganztagsschulausbaus: "Noch nie haben die Kommunen so schnell Bewilligungsbescheide ausgestellt. In den Städten gibt es einen Druck nach mehr Ganztagsschulen", so der Stadtdirektor von Mönchengladbach.
Nach Rombey müssen aber die Qualität des Unterrichts und die Kooperation mit der Jugendhilfe verbessert werden. Im Zuge ihres Resumees regte Christine Grefe von DIE ZEIT mehr "Selbstbestimmung der Schulen und Demokratie lernen" an.
Die kleine Schwester
Den ersten Teil der Startkonferenz beendete Heike Kahl mit der Vorstellung des Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen": "Das große Investitionsprogramm des Bundes hat eine kleine Schwester bekommen, das inhaltliche Begleitprogramm." Die Deutsche Kinder und Jugendstiftung ist für Heike Kahl ein unabhängiger Partner, "der die Impulse der Länder aufnehmen kann".
Heike Kahl stellt das Begleitprogramm "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" vor
Die Bildungsprobleme könnten nicht alleine der Staat oder die Wirtschaft lösen, sondern es bedürfe auch bürgerschaftlichen Engagements. Mit dem Begleitprogramm möchte die DKJS Wissen in die Breite tragen und Transferleistungen anbieten.
Ein Symbol für Veränderung
Ganztagsschulen, das sagte am zweiten Tag der Startkonferenz der wohl gefragteste Bildungsexperte, Andreas Schleicher, sind noch "keine Garantie für Erfolg", doch sie stellen die "entscheidende Voraussetzung" dafür dar. Moderne Gesellschaften, so Schleicher weiter, müssten "junge Menschen darauf vorbereiten, die Zukunft zu gestalten". Um Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern, sind dem Bildungsfachmann zufolge die Ganztagschulen entscheidend.
PISA-"Vater" Andreas Schleicher
"Die Startkonferenz steht als Symbol für Veränderung: hoffen wir, dass sich daraus etwas entwickelt", so Schleicher weiter. Genau diese Hoffnung war es, die Mareike Gerlach veranlasst hatte, trotz "langer Unterrichtszeiten in der Oberstufe" die Reise nach Berlin auf sich zu nehmen.
Lesen Sie hier Teil 2 unserer Reportage über den Ganztagsschulkongress.
Kategorien: Service
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