Mehr Schülerbeteiligung oder: "Meine Traumschule, die ferrückte Schule" : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

"SCHÜLERBETEILIGUNG groß geschrieben", so lautete eine Fachtagung, die am 17. Juni 2008 im Alten Rathaus in Potsdam stattfand. Das ließen sich die Schülerinnen und Schüler nicht zweimal sagen, so dass sie auf der gut besuchten Veranstaltung sogar die Überzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer stellten. Dabei kamen nicht nur die Schülerprojekte zu Wort, sondern auch die erwachsenen Experten, die das große Potenzial der Schülerpartizipation in Brandenburg herausstellten.

Aller Anfang ist bekanntlich schwer. Daher empfiehlt es sich zuweilen zu träumen, bevor man die ersten Schritte in die raue Wirklichkeit wagt. Nichts anderes unternahmen die Kinder und Jugendlichen. Sie entwarfen - so wie man es vom Prinzip der Zukunftswerkstätten her kennt - ihre ganz persönliche Traumschule. Die Gelegenheit dazu ergab sich im Rahmen der eigens für die Kinder geschaffenen Gruppen von "Kinder aktiv".

"Meine Traumschule, die ferrückte Schule", tauften sie das gemeinsame Kind, das zum Abschluss der Tagung auf einer Stellwand als eine Art Modellskizze bestaunt werden konnte. Zu sehen war ein Ensemble aus vielfältigen Räumen, mit den "ferrücktesten" Funktionen: Dabei nahm der "Schulhof von der ferrückten Schule" einen großen Platz in der Modellskizze der Schülerinnen und Schüler ein.

Bei näherem Hinsehen entpuppte sich die "ferrückte Schule" als eine Schule, die den Unterricht mit einem vielfältigen Lern- und Freizeitangebot verknüpfte. Sie war der Inbegriff einer Ganztagsschule, in der viel mehr möglich ist, als in einer Schule ohne Schülerbeteiligung. Sie war auch Ausdruck eines kindlichen Gestaltungsdrangs, der Karen Dohle, die Leiterin der Serviceagentur Ganztag Brandenburg, zum Abschluss der Veranstaltung "Schülerbeteiligung groß geschrieben" so zufrieden stimmte. 

Mit Sack und Pack ins Alte Rathaus

Selbst das sommerliche Prachtwetter schaffte es nicht, den Schülerelan zu bremsen. Es war der Tag der Kinder und Jugendlichen, denn manche Schule reiste sogar mit ihrem kompletten Kinderparlament an. Beleg der überwältigenden Schülerbeteiligung: Von den 165 Teilnehmerinnen und Teilnehmern waren 60 Prozent Kinder und Jugendliche. 

Dabei war die Veranstaltung "Schülerbeteiligung großgeschrieben", laut Dohle ursprünglich für die Erwachsenen konzipiert worden. Auch sie erlebten einen ereignis- und ertragreichen Tag, knüpften Kontakte und nahmen viele Ideen mit nach Hause. Übrigens stellten die Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendarbeit nach den Schülern den größten Anteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, gefolgt von den 25 Lehrerinnen und Lehrern.

Lernfeld Demokratie

In seinem Grußwort zur Tagung verdeutlichte Burkhard Jungkamp, Staatssekretär im brandenburgischen Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, welchen Stellenwert das Thema Schülerbeteiligung und Demokratie für ihn persönlich hat: "Ich habe mich riesig auf die Veranstaltung gefreut." Die Schülerbeteiligung, die auch im Brandenburgischen Schulgesetz fest verankert ist, sei ein  wichtiges Lernfeld für die Demokratie.

"Die Stimmen der Schülerinnen und Schüler zählen genauso viel wie die der Lehrerinnen und Lehrer", erläuterte Jungkamp die Mitwirkungsrechte, die das Schulgesetz den Schülerinnen und Schülern einräumt. Neben der breit angelegten Schülerpartizipation in den Gremien der Schulen hat das Land Brandenburg einen weiteren Schwerpunkt in der Förderung von Projekten wie Schülerclubs bzw. Schülerfirmen.

Sie gehören in vielen Ganztagsschulen des Landes mittlerweile zum festen Alltagsbild, und sie werden in Brandenburg sogar als Tradition betrachtet. Doch Partizipation von Schülerinnen und Schülern sei auch im Unterricht, sogar im Fach Mathematik, möglich.

"Mut, gegen den Strom zu schwimmen"

Zum Stichwort Ganztagsschule führte Jungkamp, an die Schülerinnen und Schüler gewandt, aus: "In der Ganztagsschule habt ihr fast eine Verpflichtung, euch einzumischen." Dabei wusste der Staatssekretär aus eigener Erfahrung zu berichten, dass die Entscheidungsfindung und Meinungsbildung ganz schön schwierig ist: "In der Demokratie braucht man Argumente und Durchhaltevermögen."

Wenn man die Demokratie festigen wolle, müsse man sie gegen ihre Widersacher behaupten, und das erfordere, dass man den Mut aufbringt, gegen den Strom zu schwimmen. "Sie sehen mich sehr offen, wenn es darum geht, über neue Formen der Schülerbeteiligung zu reden", ermutigte er die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, sich mit Ideen in die Debatte einzubringen.

Die Serviceagentur "Ganztägig lernen" Brandenburg

Mit der Serviceagentur "Ganztägig lernen" Brandenburg hat das Bildungsministerium einen geeigneten Partner gefunden, um das Themenfeld Partizipation in den Ganztagsschulen landesweit zu verankern. So hat die Serviceagentur seit Anfang 2007 eine halbe Stelle sowie eine abgeordnete Lehrkraft hinzugewonnen, um das Thema voranzubringen: "Zu dem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass Partizipation der Schwerpunkt des diesjährigen bundesweiten Ganztagsschulkongresses werden würde."

Den erforderlichen Rückenwind für das Thema Schülerbeteiligung bekamen Karen Dohle und ihr Team auch durch die Ergebnisse der "Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen" (StEG), die im März 2007 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Diese offenbarten, dass die Teilnahme an den Ganztagsangeboten bei den älteren Schülerinnen und Schülern ab der Sekundarschule I rapide nachlässt.

Im Ministerium sowie in der Serviceagentur Ganztag erkannte man frühzeitig, über welchen Schatz das Land Brandenburg mit seinen umfangreichen Mitwirkungsrechten qua Schulgesetz bereits verfügte: "Die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern ist ein bundesweit herausragendes Projekt", so Dohle. Im Ganztag sei das sogar noch viel umfassender möglich.

Ein Schatz, der nun gehoben wird

Ein kurzer Blick auf die umfangreiche Liste der Beteiligungsprojekte (landesweite Fortbildung für Schülerinnen und Schüler, Schülerclubs, Partizipation im Unterricht, Schulgesetz, beteiligungsorientierte Kooperationen zwischen Schule und außerschulischen Partnern, Mitsprache in den Schulgremien etc.), die auf der Tagung vorgestellt wurden, lässt vermuten, dass man in Brandenburg kaum eine Pädagogin oder einen Pädagogen von der Bedeutung der Schülerbeteiligung überzeugen musste.

Christiane Giese, Referentin für Schulentwicklung am Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM), erläuterte die Schülerbeteiligung als Qualitätselement von Schulentwicklung. "Die Schülerbeteiligung fördert das Lernen in vielen Bereichen".

Damit zog sie den Kritikern der Partizipation, die ihre Vorbehalte mit dem Defizit in Sachen Lernen und Leistung begründen, gleich den Zahn: Voraussetzung sei aber, dass der Veränderungsprozess an den Schulen von den Schülerinnen und Schülern, Lehrkräften und Eltern gemeinsam getragen werde. Drei Beispiele illustrierten ihre These.

Das Mentorensystem, das die Eduard-Spranger-Schule Reutlingen entwickelt hat, zeigt, dass beides möglich ist: "Die Schülerinnen und Schüler übernehmen Verantwortung und es ist gleichzeitig Unterricht." Schüler werden als Mentoren ausgebildet und kümmern sich dann um andere Kinder. Das Mentorensystem ist Teil des Unterrichts und wird dort auch reflektiert. Die Teilnahme am Projekt wird mit einem Zertifikat honoriert.

Müssen, Wollen, Können = Schulentwicklung

Das Gymnasium Rangsdorf hat eine Feedbackkultur entwickelt. Dabei geben die Schülerinnen und Schüler ihren Lehrkräften regelmäßig Rückmeldungen über deren Unterricht: "Die Bereitschaft der Lehrkräfte, ihren Unterricht zu verändern, hat dadurch deutlich zugenommen", erläuterte Giese. Der nächste Schritt, der auch als Qualitätsmerkmal verstanden wird, ist die Einführung eines flächendeckenden Feedbacks.

Vergleichbar schwört die Werner-Stephan-Oberschule Berlin-Tempelhof auf "ELSA" (Eltern-Lehrer-Schüler-Aushandlungsrunden). ELSA besteht aus einer 30-köpfigen Gruppe aus Eltern, Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern, die sich im Konsensverfahren über zentrale Themen der Schulentwicklung einigen. In lediglich zwei Jahren hat es bereits 23 Aushandlungsrunden gegeben. Dies dokumentiere eine beteiligungsorientierte Schulentwicklung, so Christiane Giese.

Müssen, wollen, können: Nur, wenn diese drei Momente zusammenwirkten, sei eine beteiligungsorientierte Schulentwicklung möglich. Kurz: Wenn bei Schulen das Müssen überwiegt, ist eine wirkliche Veränderung bzw. Verbesserung der Schülerbeteiligung nicht zu erwarten. Daher kommt es bei den Schulen auch auf das Können an: Schüler- und Elterntrainings bzw. Lehrerfortbildungen tragen dazu bei, diese Seite der Schulentwicklung zu stärken. Allerdings ist es auch notwendig, die Veränderungen zu wollen, das heißt alle Beteiligten erzielen einen Konsens über die gemeinsamen Ziele.

"Was bedeutet für dich persönlich Demokratie?"

Die frisch gebackene Abiturientin des Rangsdorf-Gymnasiums, Annemarie May, sprach von ihren Erfahrungen und illustrierte so die Ausführungen ihrer Vorgängerin. "Ich habe mich vor fünf Jahren gefragt: Was bedeutet Demokratie für mich persönlich?" Weil Annemarie May klar wurde, dass Schülerpartizipation Bestandteil der Demokratie ist, kam es für sie nun darauf an zu handeln, statt zu klagen.

Dabei waren Stolpersteine aus dem Weg zu räumen, denn den Lehrerinnen und Lehrern fiel es schwer, Verantwortung abzugeben. "Anfangs wussten wir gar nicht, dass die Chance der Mitgestaltung an der Schule besteht", so May. Der Anstoß zur Einrichtung einer Feedbackkultur sei von der Schulleitung ausgegangen. Doch schon bald übernahmen die Schülerinnen und Schüler das Zepter.

Entspannte Pädagogen - bessere Unterrichtsqualität

Bei der Feedbackkultur komme es darauf an, alle Beteiligten dort abzuholen, wo sie stehen. "Das Feedback ist ein Entwicklungsinstrument. Es verbessert das Vertrauen zwischen den Lehrkräften sowie den Schülerinnen und Schülern", erläuterte Annemarie May. Es lebe davon, dass die Akteure in andere Rollen schlüpfen, das heißt Schüler versetzen sich in die Lehrer und umgekehrt.

Das Resultat: "Die Lehrerinnen und Lehrer wurden entspannter, die Qualität besser." Eine neue Lernkultur sei in die Schule eingezogen, die sich darin ausdrücke, dass man gemeinsam Probleme überwindet, so May weiter.

"Nach und nach forderten wir immer mehr Verantwortung ein." So viel Schülerpower konnte und wollte der Schulleiter nicht mehr bremsen. Er beauftragte daher die Schülerinnen und Schüler damit, eine komplette Projektwoche in Eigenregie zu konzipieren. Nun merkten die Schülerinnen und Schüler, was es heißt, in die Rolle der Lehrkräfte zu schlüpfen, und wie viel Vorbereitung es bedarf, um den Stoff für die Projektwochen zu konzipieren.

Ein abschließendes i-Tüpfelchen der Veranstaltung war eine Art Deklaration der Partizipationsrechte. Sie wurde von den Schülerinnen und Schülern auf einer Stellwand ausgestellt: "Jedes Kind und jeder Jugendliche hat das Recht, seine eigene Meinung zu sagen, zu malen und zu gestalten, um damit auszudrücken, was er denkt und fühlt.

Das heißt, jedes Kind und jeder Jugendlicher hat auch das Recht, mit Menschen auf der ganzen Welt zu reden, zu schreiben oder auf andere Art und Weise Kontakt aufzunehmen, allerdings ohne jemanden zu verletzen." Ein bisschen "ferrückt" muss man schon sein, wenn man etwas in der Schule bewegen will.

 

Kategorien: Service

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