"Lernen - ein individueller Prozess im sozialen Kontext"
"Lernen - ein individueller Prozess im sozialen Kontext"
Die Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler als bereichernde Vielfalt im Unterricht zu betrachten, rät Wolfgang Endres. Im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org betont der Sozialpädagoge und Gründer des Studienhauses Sankt Blasien die besonderen Chancen, die der Ganztag für individuelle Förderung und zugleich das gemeinsame Lernen bietet.
Online-Redaktion: Wie heterogen sind Schulklassen?
Wolfgang Endres: Jedes Kind lernt anders. Jedes Kind ist anders begabt. Deshalb ist eine Schulklasse so heterogen, wie Kinder darin sitzen. In welcher Schule auch immer. Und doch bilden alle Kinder zusammen eine Klassengemeinschaft. Keines ist ausgenommen. Jedes Kind lernt für sich. Aber alle lernen auch gemeinsam: miteinander und voneinander. Da wird Vielfalt zur Chance. Der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal hat das schon vor mehr als 350 Jahren etwas dramatischer so ausgedrückt: "Vielfalt, die sich nicht zur Einheit ordnet, ist Verwirrung. Einheit, die sich nicht in Vielfalt gliedert, ist Tyrannei."
Wolfgang Endres in angeregter Diskussion mit Tagungsteilnehmerinnen in Garching. Foto: Julia Thalhofer.
Online-Redaktion: Wie können Pädagogen die Unterschiedlichkeit erkennen?
Endres: Indem sie jedes Kind wahrnehmen und gezielt beobachten, immer wieder mal ein anderes Kind in ihren Fokus nehmen: Wie packt dieses Kind eine Aufgabe an, wie selbstständig lernt es, wie lange kann es konzentriert bei einer Sache bleiben, wie verhält es sich anderen Kindern gegenüber? Was kann es besonders gut? Welchem anderen Kind könnte es dabei helfen?
Online-Redaktion: Wie können Pädagogen darauf im Unterricht eingehen, sprich den unterschiedlichen Entwicklungsständen, aber auch Interessen und Fähigkeiten in einzelnen Fächern/Qualifikationen gerecht werden?
Endres: Da übernehme ich gerne eine Empfehlung des großen Theologen und Pädagogen Johannes Amos Comenius, der vor fast 400 Jahren in seiner "Didactica magica" gefordert hat, die Unterrichtsmethode an den kindlichen Lernprozess anzupassen: "Lehrer, unterrichtet weniger, damit die Schüler mehr lernen." Das heißt nicht, der Lehrer wäre überflüssig. Aber er setzt andere Akzente: Lernen ist ein individueller Prozess, der sich zugleich in einem sozialen Kontext vollzieht. Lernen ist angewiesen auf kooperatives Handeln, auf Erforschen und Erproben. Das bildet den Kern von Bildung. Die wichtigste Aufgabe der Schule ist es, Lernen so anzulegen, dass daraus Bildung werden kann.
Online-Redaktion: Welchen Beitrag kann die Ganztagsschule leisten, diese Heterogenität aufzufangen - oder besser: zu nutzen?
Endres: Die Ganztagsschule bietet mehr Zeit und Raum für handlungsorientierten Unterricht und selbstgesteuertes Lernen. Durch das längere Beisammensein kann sich eine besondere Beziehungskultur entwickeln. Eine Kultur, die geprägt sein sollte von Wertschätzung, Anerkennung, Ermutigung und gemeinsamer Anstrengung. Das zu lernen und einzuüben, braucht Zeit. Oder wie Wolfgang Edelstein es auf die Formel bringt: "Der Stoff, aus dem das Lernen ist, ist die Zeit."
Online-Redaktion: Wie findet der Pädagoge die Balance, dass sich jedes Kind wohl fühlt und seine Lernmotivation hoch halten kann?
Endres: Dafür gibt Maria Montessori uns mit einem einzigen Satz eine hilfreiche Empfehlung:
"Hilf mir, es selbst zu tun!" - Selbstständiges Lernen ist die erste Forderung.
"Hilf mir, es selbst zu tun!" - Selbsttätigkeit ist die zweite Forderung.
"Hilf mir, es selbst zu tun!" - Hilfe zur Selbsthilfe ist die dritte Forderung.
Online-Redaktion: Welche Chancen bietet die Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler, die Sie "als normal zu betrachten" empfehlen?
Endres: Indem Kinder ihr eigenes Lernen reflektieren und ihre Lernerfahrungen austauschen, wird die Vielfalt sichtbar, sie ist zu hören und zu spüren. So werden Lernprozesse im positiven Sinne "bunter". Dabei kann die wichtige Aufgabe, in Zusammenhängen zu lernen, schon damit beginnen, bestimmte Lerninhalte mit markanten Lernorten zu verknüpfen. Die Kinder könnten einmal ausprobieren, ob sie sich einen Sachverhalt besser merken, wenn sie diesen im Schulgarten oder vor einem Gemälde, auf einer Treppe oder in einer Ecke des Klassenzimmers bearbeiten. Auf diesem Weg können sie erfahren, wie viel Sinn sie für Struktur und Systematik haben. Oder wer die Erfahrung macht, wie gut das Lernen durch Lehren gelingt, ist gut beraten, immer wieder Situationen zu suchen, einem anderen etwas erklären zu können.
Online-Redaktion: Welche Rolle kann das Lehrerraumprinzip spielen?
Endres: Die Formulierung "Schüler besuchen die Schule" ist im Lehrerraum wörtlich zu nehmen. In seinem Klassenzimmer ist der Lehrer "Gastgeber", die Schüler besuchen ihn. Aus dieser anderen Perspektive ergeben sich andere Möglichkeiten, auch im Umgang mit der Zeit. Damit es für die Schüler kein Rennen von Raum zu Raum wird, ist eine größere Verweildauer sinnvoll. Das Doppelstundenmodell und Projektphasen bieten mehr Zeit für Vertiefung und reflexives Wissen. Hierfür bietet die Ganztagsschule einen günstigen Rahmen.
Wolfgang Endres
ist Lehrer, Sozialpädagoge und Referent in der Lehrerfortbildung sowie Autor und Herausgeber von zahlreichen Veröffentlichungen zur Lernmethodik. Er gründete das Studienhaus am Dom in Sankt Blasien.
Kategorien: Service
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