"Jede Stunde ist auch Deutschunterricht"
"Jede Stunde ist auch Deutschunterricht"
Freitagmorgen, kurz vor 10 Uhr: Auf dem Schulhof in Duisburg-Marxloh herrscht reges Leben. Stimmengewirr, Lachen, Laufen, Plaudern in der kleinen Gruppe kennzeichnen die friedlich, fröhliche Atmosphäre. Deutsch hört man nur selten. Dafür vielerlei andere Sprachen. Die Pause spiegelt die Herbert-Grillo-Gesamtschule eins zu eins wider und beweist: Integration kann gelingen.
Duisburger Herbert-Grillo-Gesamtschule (alle Bilder von Markus Bernard)
Die Voraussetzung dafür schafft das Kollegium dieser Ganztagsschule. Nicht die Schülerinnen und Schüler müssen sich den Vorstellungen der Schule anpassen. Die von einem hochmotivierten Lehrkräfteteam getragene Schule passt sich den Bedürfnissen und der Ausgangslage der jungen Menschen an. Als da etwa die bunte Mischung der Nationalitäten und Kulturen wäre. Schülerinnen und Schüler aus 20 verschiedenen Nationen treffen sich hier, um zu lernen und zu leben. Der größte Teil (75 Prozent) hat türkische Wurzeln. Gerade einmal zehn Prozent sind Deutsche. Schülerinnen und Schüler finden das gut. Yasars bester Freund stammt aus Syrien. "Durch ihn lerne ich viel über eine andere Kultur. Überhaupt steigert der Kontakt zu jungen Menschen aus anderen Ländern mein Allgemeinwissen", sagt der 16-Jährige.
25 Prozent schaffen Sprung in die Oberstufe
Er steht vor einer emotional schwierigen Phase. Seine Schulleistungen sind so gut, dass im Sommer der Wechsel zum Gymnasium wartet. Als eine von wenigen Gesamtschulen in NRW existiert an der Herbert-Grillo-Gesamtschule keine Oberstufe. "Noch", wie die didaktische Leiterin Elke Vella betont. Sie weiß, dass "ihre" Schülerinnen und Schüler nur ungern nach dem zehnten Schuljahr aus dieser großen Familie gerissen werden. Betroffen von dem erneuten Wechsel sind jährlich rund 25 Prozent der rund 620 Schülerinnen und Schüler. Eine unglaubliche Zahl: Verfügt doch jährlich gerade einmal knapp ein Prozent der neuen Fünftklässler über eine von der Grundschule ausgesprochene Gymnasialempfehlung. Diejenigen, die den Sprung ins Oberhaus des deutschen Schulsystems dennoch schaffen, verdanken es auch "TrOst" - dem systematischen Training für die Oberstufe. Es ist in Ergänzungsstunde der Jahrgangsstufe neun und zehn integriert. In zwei Stunden pro Woche steht die Beschäftigung mit dem gymnasialen Unterrichtsstoff auf dem Stundenplan. Sachverhalte zu abstrahieren, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und selbst präsentieren zu können, werden hier ebenfalls eingeübt.
Sprachförderung wird in den Fachunterricht integriert
Wer verstehen will, was den Erfolg und das Klima dieser Schule ausmacht, muss sie besuchen, mit Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften reden. Ihnen gelingt es, Barrieren im Kopf abzubauen. Beispiel Nachhilfe- und Förderunterricht. "Beides soll keine Strafe darstellen oder die Kinder bloßstellen", sagt Elke Vella stellvertretend für das Lehrerteam. Noch erhalten viele Kinder individuellen Förderunterricht, u.a. mit Hilfe von Studenten des Mercator-Förderinstituts und der Duisburger Werkkiste, einer facettenreichen Einrichtung der Jugendberufshilfe. Künftig aber soll Sprachförderung (Vella: "Deutsch ist die Schlüsselkompetenz für Bildungserfolg in Deutschland") in den Fachunterricht integriert werden. Ab Sommer arbeiten die Klassen in Lernbüros und in Freiarbeit. Jede Schülerin, jeder Schüler strukturiert, plant und reflektiert seinen Lernprozess.
Schulhof und Schilderwald
Muttersprache als zusätzliche Kompetenz
Sie bestimmen ihr Lerntempo. Ihre Eigenständigkeit ist gefragt, wenn sie beispielsweise in Mathematik versuchen, eine in deutscher Sprache formulierte Aufgabe zu verstehen und sie zu lösen. Allein gelassen werden sie aber nicht. Die Lehrkraft steht beratend zur Seite. Das Gespräch mit dem Mitschüler ist ausdrücklich erwünscht. Auch in der Unterrichtstunde. So gelingt Sprachförderung. "Dann ist jede Stunde auch Deutschunterricht", beschreibt Elke Vella das Ziel. Dennoch käme es dem Kollegium niemals in den Sinn, den Schülern die Muttersprache zu verbieten. "Im Gegenteil. Erstens ist es unrealistisch zu glauben, dass die türkischen Kinder beispielsweise untereinander und zuhause immer Deutsch sprechen. Und zweitens haben sie einen großen Vorteil. Sie sprechen später zwei Sprachen. Das ist eine besondere Kompetenz", weiß Elke Vella. Da ist es nur von Vorteil, dass fast jede fünfte Lehrkraft auch türkisch spricht.
"Marxloh": ein besonderer Duisburger Stadtteil
In seinem Beitrag über die Schule für den Film "Treibhäuser der Zukunft" formulierte es der Journalist Reinhard Kahl so: Eine Schule, in der die Schüler gerne lernen und selber lernen und nicht belehrt werden." Weil sich diese Form der individuellen Förderung in kleinen Gruppen leichter realisieren lässt, werden die Klassen auf maximal 20 Schülerinnen und Schüler verkleinert. Das dafür erforderliche zusätzliche Personal wird durch Zuschüsse aus den Integrations- und Sprachfördermitteltöpfen des Landes finanziert. Das Geld allein aber macht es nicht möglich. Entscheidender ist der Blick aufs Kind und seine Herkunft. Marxloh ist ein "besonderer" Stadtteil. Einst lockte die Stahlindustrie Gastarbeiter in großer Zahl. 40 Prozent der in den Straßen rund um die vor vier Jahren eröffnete DITIB-Merkez-Moschee lebenden Menschen haben türkische Wurzeln. Da kann eine deutsche Schule nur funktionieren, wenn sie im Stadtteil verankert ist, ein gutes Netzwerk knüpft und sich den hier lebenden Menschen und ihrer Ausgangsposition annimmt.
Berufsvorbereitung ein Schwerpunkt
Eine ist die Tatsache, dass 75 Prozent der Fünftklässler mit einer Hauptschulempfehlung die Grundschule verlassen haben. Sie und ihre Eltern denken nicht an ein späteres Studium. Es geht darum, die jungen Menschen für einen Beruf zu begeistern und sie darauf vorzubereiten. Der Grundstein dafür wird in der siebten Klasse mit einem Kompetenzcheck gelegt. Samira besucht die achte Klasse und weiß nach ersten Betriebsbesichtigungen bereits, in welche Richtung es gehen könnte. "Ich möchte Einzelhandelskauffrau werden", sagt die 15-Jährige. In der Schülerfirma "Back4you" sammelt sie Erfahrungen. "Back4you" liegt das gleiche Konzept wie der nach dem Stifter Herbert Grillo benannten Schülerfirma GrilloInc zugrunde.
Respekt: ein gelebter Wert an der Herbert-Grillo-Gesamtschule
Beide agieren wie eigenständige kleine Firmen, entwickeln Firmenideen und -konzepte und setzen sie um. Die eine bietet einen Catering-Service, die andere hat sich darauf spezialisiert, mit unterschiedlichen Werkstoffen große Spiele zu erstellen und diese auch zu vertreiben. Monique (14) weiß die Vorzüge dieser Form der Berufsbereitung zu schätzen: "Hier lernen wir auch respektvoll miteinander umzugehen. Wir lernen, wie man sein sollte." Respekt wird ohnehin großgeschrieben an dieser Duisburger Schule. Das bestätigt auch der Umgang mit der Schulpflegschaftsvorsitzenden und Leiterin der Mensa, Hava Sayimer. Alle dürfen sie mit ihrem Vornamen Hava ansprechen. Doch aus Respekt fügen alle "Abla", die türkische Bezeichnung für "große Schwester", an. Dass es neben den Schülerfirmen auch zahlreiche Berufsvorbereitende Arbeitsgemeinschaften gibt, findet die 15-jährige Sabiha "klasse". Eine dieser von der Duisburger Werkkiste geleiteten AGs beschäftigt mit dem Pflegeberuf. Nachdem Sabiha ihn auf diese Weise kennen- und schätzen gelernt hat, glaubt sie: "Ja, das könnte eventuell mein späterer Beruf sein."
Bilder von der Veranstaltung "Starke Typen" 2006 mit Ursula von der Leyen und Ralf Möller
Intensive Elternarbeit
In all diese Überlegungen werden die Eltern von Beginn an selbstverständlich einbezogen. So selbstverständlich wie es auch ist, dass Mutter und Vater beide gemeinsam mit dem Kind zur Anmeldung erscheinen sollen. Ohne Anwesenheit des Kindes ist die Anmeldung schlicht nicht möglich. Die Elternarbeit an der Herbert-Grillo Gesamtschule ist geprägt vom intensiven Austausch über die Entwicklung des Kindes. Er findet in der Schule beim regelmäßigen Schüler-Lehrer-Elternsprechtag, gegebenenfalls aber auch im Elternhaus statt. Einen festen Bestandteil dieser Kooperation stellt auch die Elternschule dar. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Eltern Wissen über die Bedeutung der Mehrsprachigkeit zu vermitteln. Die Elternschule zeichnet sich durch die Module "Sprachbildung im Alltag" und "Sprachbildung im Lernalltag" aus und wird von immer mehr Eltern besucht.
Lehrer gestalten und arbeiten im Ganztag mit
Die und ihre Kinder wissen um den Einsatz des Kollegiums, das die kommissarische Schulleiterin Susan Kletzin als "unbeschreiblich hoch" schätzt. Er drückt sich in der täglichen Anwesenheit von 8 bis 15.45 Uhr, in hoher Zuverlässigkeit, großer Hilfsbereitschaft und Innovationsfreude, besonders aber auch im ausgeprägten Teamgedanken aus. Wenn eben möglich begleitet ein Lehrerteam die Schüler von Klasse fünf bis zehn. Dabei nimmt es gerne in Kauf, fachfremd zu unterrichten. Als Bezugsperson Kinder auf ihrer Schullaufbahn zu begleiten, gilt als höherer Wert. Im Team wird beraten und beschlossen, welches Konzept zu welcher Klasse passt. "Wir reagieren jedes Jahr aufs Neue flexibel auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler", schildert Elke Vella. Da kann es beispielsweise sein, dass sich der Unterricht in Klasse 8a deutlich von dem in Klasse 8b unterscheidet.
Lob von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
Diese Abkehr von Routine erfordert Zeit und Kreativität. Einmal wöchentlich trifft sich das Lehrerteam, um die Entwicklung der Klasse zu analysieren und auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können. Susan Kletzin: "Wenn man im Brennpunkt arbeitet, muss man immer besser als andere sein. Marxloh heißt, 100 Prozent geben." Dass dies an der Herbert-Grillo-Gesamtschule geschieht, bestätigte unlängst NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD): "Sie ist eine der herausragenden Schulen des Landes." Möglich wird dies auch durch die nach dem Unternehmer Herbert Grillo benannte Stiftung. Sie unterstützt die Schule wann immer es nötig ist. Zuletzt stiftete die Unternehmerin Gabriela Grillo 30 iPads. Deren Einsatz im Unterricht soll die Lernfreude und -motivation zusätzlich steigern. Und damit dazu beitragen, dass die ohnehin schon geringe Zahl (unter drei Prozent) derer, die die Schule bislang noch Abschluss verlassen, möglichst auf null sinken zu lassen.
Während die neueren Gebäude vor 15 Jahren errichtet wurden, sind die Hauptgebäude z. T. 100 Jahre alt.
Kategorien: Service
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