Haus voller Aufgaben - Teil 1 : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Schulen zu ermutigen und zu unterstützen, den für sie besten Weg zur Ganztagsschule einzuschlagen - das ist die Aufgabe der Werkstätten und Serviceagenturen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Am 9. und 10. Juni 2005 fand in der Universität Dortmund die Auftaktveranstaltung der Werkstatt 1 "Organisation und Entwicklung von Ganztagsschule" im Rahmen des Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" statt. Wie bereits auf der Göttinger Tagung der Werkstatt 2 versammelten sich Fachleute aus Wissenschaft und Praxis, die ihr Wissen austauschten, Probleme nicht verschwiegen und Lösungsvorschläge machten.
Was können Ganztagsschulen? Welche Unterstützung brauchen sie, um ihren Zielsetzungen gerecht zu werden? Es waren diese Fragen, die der zweitägigen Veranstaltung der Werkstatt 1 "Entwicklung und Organisation von Ganztagsschule" zu Grunde lagen. Am 9. und 10. Juni 2005 versammelten sich rund 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund, um den Bedürfnissen der Serviceagenturen in den Ländern zuzuarbeiten, sich über gelungene Praxisbeispiele auszutauschen - und vor allem um zu diskutieren.
Den Veranstaltern vom IFS, dessen Leiter Prof. Heinz Günter Holtappels und Mitarbeiterin Dr. Katrin Höhmann die Projektleitung der Werkstatt 1 innehaben, war es gelungen, einen guten Mix aus Wissenschaft und Praxis zu versammeln. "Wir wollen Ganztagsschulen unterstützen, beraten und gut vorantreiben", begrüßte Holtappels das Plenum. "Gemeinsam wollen wir überlegen, wie wir Schulen Unterstützung geben können."
Den acht Workshops zu Themen wie "Lernorganisation" oder "Hausaufgabenbetreuung" schloss sich jeweils eine Diskurswerkstatt an, die von Lehrerinnen oder Lehrern geleitet wurden, welche gute Beispiele ihrer Ganztagsschulen vorstellten. Das spürbare Interesse der Beteiligten, Probleme zu diskutieren und zu Lösungen zu kommen, spiegelte sich dabei in der lebhaften Beteiligung wider.
Ganz zu Beginn der Expertentagung war allerdings erst mal Zuhören angesagt. Heinz Günter Holtappels hielt einen Vortrag "Ganztagsschule gestalten und entwickeln - Zielorientierungen, Gestaltungsbereiche und Schulorganisation". Ihm folgte Prof. Klaus-Jürgen Tillmann von der Universität Bielefeld zur Frage: "Ganztagsschule - die richtige Antwort auf PISA?"
Das Mehr an Zeit nutzen
Holtappels stellte Ganztagsschulen als "Antwort auf das Problem der Verknüpfung von sozialer Herkunft und Bildungschancen" dar. "Sie sind eine Antwort auf gewandelte Bildungsanforderungen. Schüler brauchen heute mehr Schlüsselqualifikationen wie Analysedenken, Kommunikation und Querdenken", so der Schulentwicklungsforscher. Ganztagsschulen böten die Chance differenzierter Lehr- und Lernformen, erhöhter Partizipation der Schülerschaft und mehr individueller Förderung. Wichtig sei dabei die Öffnung der Schule.
"Ich sehe die derzeitige Entwicklung optimistisch", meinte Holtappels, "aber es gibt auch Probleme: Wir brauchen mehr Diagnose- und Förderkompetenzen beim Lehrpersonal. Räume und Verpflegung müssten oft noch verändert werden. Es braucht mehr an gemeinsamen, auch schulinternen Fortbildungen. Bei der Zeitorganisation müssen wir ebenfalls noch zulegen. Das Mehr an Zeit sollte auch genutzt werden." Der Wissenschaftler kritisierte den mangelnden Austausch der Fachkräfte in additiven Ganztagsmodellen, der häufig zu Unruhe und Konflikten führe. "Personalkontinuität ist wichtig. Derzeit läuft laut Umfrage die Kommunikation nur an 60 Prozent der Schulen zufriedenstellend", berichtete Holtappels, der seinen Beitrag mit den Worten beendete: "Jede Innovation braucht eine Vision. Unsere Vision ist die Änderung der Schulkultur."
Heinz Günter Holtappels (l.) und Klaus-Jürgen Tillmann
Klaus-Jürgen Tillmann bemängelte, dass man sich in Deutschland noch an Debatten verausgabe, "die im Ausland schon lange kein Thema mehr sind". Dort gebe es keine frühe Selektion, der oder die Einzelne werde gefördert, Ganztagsschulen seien die Regel. Doch so "sozialpolitisch begrüßenswert" der Pädagogikprofessor die Offene Ganztagsschule fand, so kritisch bewertete er in diesem Modell, dass sich hier keine Veränderung von Schulkultur ergäbe. "Für deutsche Verhältnisse ist die Offene Ganztagsschule zwar ein großer Sprung nach vorne, aber nur eine begrenzte Antwort auf PISA", resümierte Tillmann. Nicht alle Zuhörerinnen und Zuhörer wollten sich dem anschließen. Auch die Offene Ganztagsschule ermögliche bereits individuelle Förderung und vor allem soziales Lernen, wandten sie ein.
Hamburg streicht Richtlinien für Hausaufgaben
Wenn aber die Änderung der Schulkultur das Ziel ist, mit welchen Maßnahmen können Ganztagsschulen sie erreichen? Ein festzementierter Pfeiler der Halbtagsschule, die Hausaufgaben, sollte in Ganztagsschulen keinen Platz mehr finden, waren sich alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops "Hausaufgabenbetreuung" einig. "In der jetzigen Form dienten Hausaufgaben einzig dem Erfindungsreichtum der Schülerinnen und Schüler, sich vor Stundenbeginn noch irgendetwas Schriftliches zu verschaffen oder im Erfinden von Ausreden zu üben - das war doch zu unserer aktiven Schulzeit genauso", meinte Martin Busenius von der Paul-Gerhard-Grundschule in Attendorn. Von kontrolliertem Üben oder Unterrichtsergänzung könne oft keine Rede sein, individualisiert seien Hausaufgaben schon gar nicht.
"Wir bräuchten ein Haus voller Aufgaben statt Hausaufgaben", erklärte Workshop-Moderatorin Katrin Höhmann. Hausaufgaben sollten sinnvoll aufgegriffen und eingebettet, ritualisiert, und in ausreichender Zeit gestellt werden. "Sie sollten zu eigenverantwortlichem und selbstständigen Arbeiten anregen. Das Kind lernt, seine Pflichten wahrzunehmen und seine Freizeit einzuteilen", befand die Wissenschaftlerin. Derzeit würden Hausaufgaben nur aufgegeben, weil sie schon immer aufgegeben worden seien - "blind, nur aus Tradition".
Doch reiche es nicht, in Ganztagsschulen Erzieherinnen die Hausaufgabenstunden begleiten zu lassen, wenn diese sich nicht mit dem Lehrpersonal absprechen könnten. Heinz Willi Räpple vom rheinland-pfälzischen Bildungsministerium berichtete vom Modell der "Häuser des Lernens", wie es an der Kerschensteiner-Hauptschule in Worms praktiziert werde: Dort seien ausschließlich Fachlehrer in der Hausaufgabenbetreuung. In Nordrhein-Westfalen gehe der Trend dagegen zunehmend zu "Ein-Euro-Kräften", wie Erzieherin Christine Riesewieck von der Friedrich-Kayser-Schule in Schwerte beobachtet hat.
Katrin Höhmann
Eigentlich gehörten Hausaufgaben ganz abgeschafft, vor allem der Begriff, meinten die Workshop-Teilnehmer. "Wenn aber die Lehrer schon nicht von der Gewohnheit abzubringen sind, Hausaufgaben aufzugeben, dann sollte wenigstens kontrolliert werden, ob die Kinder das können, und dazu braucht es den Rückkoppelungsprozess zwischen Vor- und Nachmittag", forderte Dieter Wunder, Berater des rheinland-pfälzischen Bildungsministeriums. Thomas Krall vom Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg berichtete, dass in seinem Land immerhin die Richtlinien für Hausaufgaben demnächst ganz gestrichen würden.
Statt der traditionellen Hausaufgaben könnten die so genannten I-Stunden, die Friedhelm Lischewski vom Clauberg-Gymnasium in Duisburg vorstellte, ein Weg sein: Im Jahrgang 7 erhalten die Schülerinnen und Schüler eine nicht fachgebundene Lernzeit von acht Wochenstunden, die diese eigenständig gestalten und in einem Lerntagebuch festhalten. Die Lernzeit ist mit dem Unterricht verknüpft, und die Aufgaben, welche sich die Jugendlichen stellen, werden mit den Lehrern abgestimmt. "Durch die Individualisierung des Unterrichts wird der Lehrer zum Moderator und der Schüler zum Lerner", erklärte Lischewski.
"Öffnung von Schule heißt: Selber hingehen"
Elementar für Ganztagsschulen sind neben der Hausaufgabenbetreuung die Arbeitsgemeinschaften und Projekte. Im Workshop zu diesem Thema vertrat Herbert Boßhammer von der Margarethenschule Münster die Auffassung, dass AGs eher akzeptiert würden, wenn sie von Lehrerinnen und Lehrern angeboten würden. Die Angebote sollten in jedem Fall jahrgangsübergreifend gestaltet sein und alle zentralen Bildungsbereiche abdecken, um eine umfassende Förderung von Begabung und Interessen zu gewährleisten. "Es wäre sinnvoll, Qualitätsstandards für AG-Angebote einzuführen oder zumindest eine Art Ausschreibung und Vorstellungsrunde von Angeboten außerschulischer Partner durchzuführen", riet Boßhammer.
Ulrich Sauter von der Gesamtschule Lüdenscheid empfahl in seiner anschließenden Diskurswerkstatt, AG-Leiterinnen und -Leiter ohne pädagogische Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern in einem Mentorensystem begleiten und beraten zu lassen. "Kooperation ist die Basis guter Arbeit auch im AG-Bereich", so der Lehrer. Wie viel durch das Engagement Einzelner möglich wird, illustrierte Sauter durch sein eigenes Beispiel. Dank guter Kontakte und ständiger Bemühungen zu Sportartikelherstellern, denen er Publizität durch Pressemitteilungen und Berichte der Tagespresse zusagte, konnte der Sportlehrer 300 Inline-Skates, 26 Fahrräder, 60 Golfschläger-Bags und 40 Tennisschläger an Land ziehen und den AG-Angeboten der Gesamtschule, die 1.400 Schülerinnen und Schüler besuchen, zur Verfügung stellen.
Ulrich Sauter
"Öffnung von Schule heißt auch, selber hinzugehen", mahnte Sauter an. "Mit dem Deutschen Golfverband ist zum Beispiel eine Menge möglich, die stellen 2.600 Euro pro Schule zur Verfügung, nur wissen das die meisten nicht." Auch dürfe man nicht immer nur in eingefahrenen Kategorien denken. So gebe es an seiner Adolf-Reichwein-Gesamtschule auch die AG "Toben und Raufen".
Lesen Sie hier den zweiten Teil unserer Reportage über die Tagung der Werkstatt 1 in Dortmund.
Kategorien: Service
Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000