Ganztagsschulen im Norden : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

Am 24. April wurde auf der Landestagung "Gebundene Ganztagsschule - ein zukunftsfähiges Schulmodell" der Ganztagsschulausbau in Mecklenburg-Vorpommern vermessen. Schon 114 Ganztagsschulen - Tendenz steigend - sind auf dem Weg in ein bessere Bildungslandschaft, die den Einzelnen wirkungsvoller in der Gemeinschaft fördert: Beispielsweise an der IGS Grünthal, Stralsund.

Güstrow, das im "Herzen Mecklenburg-Vorpommerns" liegt, schätzt sich glücklich Heimstatt eines bedeutenden Künstlers zu sein. Am 24. April 2004 war es Schauplatz der Landestagung "Gebundene Ganztagsschule - ein zukunftsfähiges Schulmodell" zur Entwicklung von Ganztagsschulen in Mecklenburg-Vorpommern. Das "Paris des Nordens", wie die Kreisstadt auch genannt wird, liegt eingebettet in der Mecklenburger Seenplatte. Hier lebte auch der expressionistische Maler und Bildhauer Ernst Barlach. Zu Barlachs bedeutensten Werken gehört "Der lesende Klosterschüler", eine Holzplastik, die durch ihre Schlichtheit, Lebenskraft und den Wunsch nach Individualität besticht. Das kunstvolle Holzstück, das von den Nazis als entartete Kunst verunglimpft wurde, gehört als Skulptur nun zum kulturellen Erbe Güstrows. Es ist auch dieser Hintergrund, der die Kleinstadt im Norden zu einem geeigneten Ort macht, um die Ganztagsschulentwicklung im Land zu vermessen.

Schule verändert mit dem Ganztagsschulprogramm allmählich ihr Gesicht in Mecklenburg-Vorpommern, dies verdeutlichte auch die Landestagung. "Im Mittelpunkt stehen die individuelle Förderung der Schüler und alle Bemühungen, Schule zum Identität stiftenden regionalen Zentrum und zum Ort für lebenslanges Lernen zu machen", heißt es in dem "Integrativen Leitbild" zur Landesentwicklung des Kultusministeriums.

Ein Vorbild: Barlachs "Lesender Klosterschüler"

Gewünscht sind Ganztagsschulen, die eine bessere Tagesstruktur und Schulkultur für die Schülerinnen und Schüler ermöglichen. "Die Tagung soll aufzeigen, wie Ganztagsschulen am besten gemacht werden und wie man die Lernprozesse gestaltet", bemerkt Heike Neitzert, Pressesprecherin im Schweriner Kultusministeriums. Zugleich soll ein erstes Fazit zum Ganztagsschulausbau in Mecklenburg-Vorpommern gezogen werden.

Plenum auf der Landestagung

Gegenwärtig gibt es im Land 114 Ganztagsschulen, was einem Zuwachs von 49 Schulen im Vergleich zum Schuljahr 2002/03 entspricht. Für Mecklenburg-Vorpommern stehen bis 2007 rund 94 Mio. Euro aus dem Bundesinvestitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" zur Verfügung.
"Das Interesse im Land ist groß", kommentiert Neitzert die Entwicklung des Ganztagsschulausbaus.

Das spiegelte auch die große Resonanz und die Stimmung auf der Landestagung eindrucksvoll wider. An der Tagung, die vom Kultusministerium und dem Landesinstitut für Schule und Ausbildung veranstaltet wurde, nahmen rund 350 Interessierte teil: Lehrkräfte, Schulräte, Ministerialbeamte. "Ich war fast erschlagen: es gab Schulen, die 20 Kollegen mitbrachten", sagt Astrid Abraham, Stufenleiterin und Koordinatorin für die Klassen 5 bis 7 des Erasmus Gymnasiums in Rostock. "Die Stimmung auf der Tagung war sehr lebhaft und ermutigend", fügt sie hinzu.

Labor Ganztagsschule

Nach der Begrüßungsrede von Kultusminister Prof. Hans-Robert Metelmann erörterte Prof. Annemarie von der Groeben in ihrem Eröffnungsvortrag ein großes Spektrum an Erfahrungen und mögliche Wege zur Ganztagsschule. Hintergrund ihrer Ausführungen waren die Erfahrungen und die Lernprozesse mit der Laborschule Bielefeld, deren didaktische Leiterin sie ist. Einige Zuhörer merkten in der anschließenden Diskussion an, dass viele Dinge, die an sich sehr interessant seien, nicht einfach von Bielefeld auf die Ganztagschulen in Mecklenburg-Vorpommern übertragen werden könnten.

Ort der Tagung an der FH Güstrow



Am Nachmittag verteilten sich die Besucher der Landestagung auf 15 verschiedene Arbeitsgruppen im roten Backsteingebäude der Fachhochschule Güstrow. Auf der Agenda standen wichtige Eckpunkte von Ganztagsschulen wie Rahmenbedingungen und inhaltliche Gestaltung. Dabei reichte das Spektrum von der Tagesgestaltung durch Rhythmisierung des Unterrichts über Organisation von Lernprozessen im Mathematik- bzw. Deutschunterricht bis zur Schülermitwirkung.

Im Rampenlicht

Vorbilder sollen Schule machen: So stand die Integrierte Gesamtschule "Grünthal", wie schon auf der Startkonferenz zum Bundesinvestitionsprogramm am 8. und 9. September 2003 in Berlin auch diesmal im Rampenlicht. Mit einer Fülle von Präsentationsmaterial veranschaulichten Schulleiterin Christine Kieschnick und Ganztagsbeauftragte Petra Thümmel das Ziel der IGS Grünthal in Stralsund eine gute Schulkultur zu entwickeln. Kieschnick hob drei Eckpunkte zur Entwicklung ihrer Schule hervor: Verbesserung der Qualität des Unterrichts, Zeit für mehr individuelle Förderung und Raum für Begegnungen.

"Wer eine Ganztagsschule machen will, muss als erstes über Rhythmisierung nachdenken - nicht nur bezogen auf die Zeitstruktur, sondern auch auf die Inhalte", bemerkt Kieschnick.

Nach hundert Jahren Einsamkeit

Schule war in der Industrialisierung ein Ensemble von Räumen und Zeitstrukturen, das als Belehrungsschule mit Frontalunterricht die Schüler und Schülerinnen zum Funktionieren und zur Einsamkeit anhielt. So regierte vor hundert Jahren in erster Linie Disziplin und unkreatives Rekapitulieren von Büchern. Es war eine Schule, die eines nicht wollte: die Individualität und den Eigensinn des Barlachschen "lesenden Klosterschülers". Das ist heute grundsätzlich anders: "Unser Ziel ist es, eine Schule zum Wohlfühlen zu gestalten", erläutert Christine Kieschnick.

Mit der Auflösung des 45-Minutentaktes an der IGS Grünthal können fächerübergreifende pädagogische Angebote in mindestens zwei Blöcken pro Tag gemacht werden. So werden z.B. bestimmte Schwerpunktfächer in Deutsch, Mathematik oder Englisch für leistungsstarke oder schwache Schülergruppen gebildet. "Die gebundene individuelle Förderung, die wir an der Schule eingerichtet haben, ermöglicht unser breites Angebot an Projekten und AGs", sagt die Schulleiterin. 

 

Gründergeist an der IGS Grünthal



Für die Schülerinnen und Schüler öffnet sich darüber hinaus ein größeres individuelles Zeitfenster, das mehr Kontaktaufnahmen ermöglicht. Sie stimmen sich schon am frühen Morgen auf den Ganztag mit Gesprächen und Austausch von Erfahrungen ein.

Gründergeist

Kein schlechtes Umfeld, um mehr Eigenverantwortung in Schülerfirmen zu wagen. "Eigenverantwortung, Zusammenarbeit und Management lernen die Schülergruppen am besten in selbstgesteuerten Firmen", erläutert die Schulleiterin der IGS Grünthal. Die Schülerfirma Mephisto - ein Schülercafe, das von rund zehn Jugendlichen betrieben wird - lebt vom Verkauf diverser Erfrischungen. Die Schülerinnen und Schüler, die dort arbeiten, erbringen gute Schulleistungen: Sie sollen mit der Firma individuell besser gefördert werden.

Das gilt auch für die Schülerfirma "PIC IT" mit ihren rund zehn MitarbeiterInnen. "Sie begleiten unser gesamtes Schulleben", stellt die Schulleiterin fest. Die Firma erstellt Dokumentationen für die Schule, sie macht die Bilder für die Homepage und nimmt auch Aufträge von außen an - das alles übrigens sehr erfolgreich.

Aufblühen in Matheclubs oder im Sport

Das Spektrum an ergänzenden Fördermöglichkeiten an der IGS Grünthal lässt sich sehen: In Matheclubs pauken leistungsstarke Schüler nicht nur für die Schule, sondern auch für regionale Wettbewerbe.

Förderung durch Teamarbeit



Wer will, kann eine Keyboardausbildung machen oder Gitarre lernen. Im Wettkampfsport für Behinderte hat eine Schülerin der Klasse 5 den Landespreis im Schwimmen gewonnen.

Überhaupt das Wasser: Drei Viertel der Erde bestehen aus Wasser. Doch nur 0,5 Prozent dieses Wassers ist süß, und nur 0,01 davon wiederum trinkbar. Da die IGS Grünthal auch Unesco-Projektschule ist, nutzte sie den alle zwei Jahre stattfindenden internationalen Projekttag der Unesco-Projektschulen am 26. April 2004 auf vielfältige Weise. Diesmal rund um das Thema Wasser: Klasse 5 war auf der Suche nach den Sagen um Rügen und Hiddensee; die 6a und 6b entdeckten die Wassermusik oder arbeiteten im Umweltlabor; Klasse 7 wandelte auf den Spuren der Romantik und des Wassers. "Alles dies", sagt Kieschnick, "dient keiner Showveranstaltung, sondern ist im Rahmen der Rhythmisierung Teil der gesamten inhaltlichen Planung." Die Zusammenarbeit mit der Unesco erfüllt dabei die Aufgabe der Werterziehung und der Umweltarbeit, entsprechend den Zielen der Unesco.

Antikes Rom in Neuen Medien

Gute, ermutigende Erfahrungen mit fächerübergreifenden Ganztagsangeboten hat auch das Erasmus-Gymnasium Rostock gemacht: "Wir legen großen Wert auf Teamarbeit in der Schule", sagt Astrid Abraham. Dafür gibt es eigens an zwei Tagen in der Woche fächerübergreifenden Projektunterricht in Informatik, Geografie, Arbeit/ Wirtschaft/ Technik, Religion und Philosophie. Als das antike Rom Schwerpunktthema war, konnte es von den unterschiedlichen Fächern und von verschiedenen Seiten aus betrachtet werden: wie ein Hologramm, das je nach Lichteinfall seine Formen und Farben wechselt.

Mit fächerübreifendem Unterricht in Musik, Kunst, Informatik ist es dem Gymnasium gelungen, die ausgesprochen kompliziert geltende Klasse 9 an die Inhalte des Projektunterrichtes zu binden: "Die Schülerinnen und Schüler lagen zum Lernen sogar auf dem Boden und haben intensiv gearbeitet. Da haben wir gewusst, dass wir auf dem richtigen Weg sind", erläutert Abraham. Die Entwicklung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens hat im Ganztagskonzept des Erasmus-Gymnasiums Rostock übrigens einen besonderen Stellenwert.

Mittel aus dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" will das Gymnasium, das seit 1997 Ganztagsschule ist, für den Bau eines Atriums verwenden. Doch Geld alleine löst noch nicht alle Probleme: Ganztagsschulen können nicht alle Missstände der Gesellschaft angehen und neben dem vom Bund für bauliche Maßnahmen zur Verfügung gestellten Geld müssen auch die Rahmenbedingungen an der Schule stimmen.

Raum für Begegnungen

"Im Ergebnis ist auch eine Menge ohne Geld möglich, wie Lösen von Planungsfragen oder Überzeugungsarbeit zu leisten", bestätigt Schulleiterin Kieschnick von der IGS Grünthal. Sie wünscht sich eine "warme Schule" mit vielen Farben und vor allem lebensnah. Voller Staunen hat sie die "Hundertwasserschule" in Wittenberg erlebt: Da auch ihre Schule ein Plattenbaugebäude ist, gibt es begründete Hoffnung auf eine Schule, die "Raum für Begegnungen" ermöglicht.

Eingangsbereich der IGS Grünthal

Der Förderantrag aus Bundesmitteln ist bereits gestellt: Ende 2005/ 2006 soll es eine komplette Erweiterung des Flurbereichs sowie eine Multifunktionshalle geben. Dann wäre das Gebäude mit seiner umweltfreundlichen Schulwaldanlage mehr als aufgewertet.

Raum für wertvolle Begegnungen und für einen Erfahrungsaustausch von Praktikern und Bildungsfachleuten hat auch die Landestagung in der Güstrower Fachhochschule ermöglicht: "Es waren wirklich alle Schulformen auf der Tagung vertreten", so Abraham. Und Kieschnick fügt hinzu: "Unsere Arbeit ist bei den Zuhörern gut angekommen". Am 24. April - ein wichtiger Tag für Güstrow - war die Aura des "lesenden Klosterschülers" ganz hautnah unter den Ganztagsschulen Mecklenburg-Vorpommerns zu spüren.

 

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