Ganztagsschule und Gerechtigkeit
"Jeder Misserfolg ist ein Versagen des Lernsystems". Doch wer hat ein Interesse an einem selektiven Bildungssystem? Der 24. Deutsche Lehrertag am 14. April 2005 in Freiburg suchte Antworten auf komplexe Probleme im deutschen Bildungssystem.
Ein heißes Eisen stand auf der Tagesordnung des 24. Deutschen Lehrertages: "Schule und Gerechtigkeit". Das Publikum schaute in der vornehmen Aula der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg auf das Bild gewordene Motto des diesjährigen Lehrertages: Eine Justitia, in zeitgenössischem Pädagogenlook, mit Waage und verbundenen Augen. Die Botschaft war unübersehbar: Es ging um die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit bei der Verwirklichung von Chancengleichheit, der sich das öffentliche Bildungssystem durch das Grundgesetz verpflichtet sieht.
Die Lehrerinnen und Lehrer sind seit PISA massiver öffentlicher Kritik ausgesetzt. Sie gelten als überbezahlt, ineffizient und wehleidig. Kurzum, der Lehrerberuf ist in den Medien ein Sündenbock geworden. Gelegenheit, sich aus dieser Rolle zu befreien, sollte der 24. Deutsche Lehrertag bieten - und die nutzten dessen Vertreter ausdrücklich. "Ich brauche keine Gnade, ich will Gerechtigkeit", zitierte der baden-württembergische Landesvorsitzende des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) Rudolf Karg den Dichter Lessing in seiner Begrüßungsrede. Und Karg erläuterte diesen Satz wie folgt: "Der Kampf um Gerechtigkeit ist ein Kampf um soziale Gerechtigkeit." Dazu gehöre auch Arbeitszeitgerechtigkeit für die Lehrerinnen und Lehrer.
Gnade oder Gerechtigkeit?
Der Deutsche Lehrertag, zu dem bundesweit rund 200 Lehrerinnen und Lehrer, Schulleiterinnen und Schulleiter, Verantwortliche aus Kultusministerien sowie der Schulaufsicht und nicht zuletzt Politiker angereist waren, wurde mit Bedacht nach Freiburg vergeben: "Unsere Gastgeberrolle unterstreicht die besondere Rolle, die wir dem Lehrerberuf entgegenbringen", sagte der Prorektor der Universität Prof. Karl-Reinhard Volz. Die Lehrerausbildung genieße in Freiburg eine große Wertschätzung.
Tagungsort: Die Freiburger Universität
Gegen "vorschnelle Antworten auf PISA" positionierte sich in seinem Grußwort der Staatssekretär im baden-württembergischen Kultusministerium Helmut Rau. Nach PISA I (2000) habe die Antwort "Ganztagsschule und Einheitsschule" geheißen, meinte er. Er sprach vom "verbreiteten Vorurteil", Finnland als Beispiel für ein Ganztagsschulsystem zu nennen. Das Beispiel Finnland offenbare für ihn gerade, dass nicht die Frage der Schulorganisation entscheide, sondern dass unterschiedliche Wege zum Erfolg führten. Selbstbewusst formulierte Rau die Schulpolitik seines Landes: "Wir fördern im gegliederten System." Es müssten nun andere Politikbereiche in die Pflicht genommen werden, führte er weiter aus: "Die Lehrer sollen sich nicht als Sündenböcke fühlen." Sie bräuchten aber nicht nur Gerechtigkeit, sondern auch Gnade.
Vom Buhlen um Gnade war der Bundesvorsitzende des VBE, Dr. Ludwig Eckinger, weit entfernt. Dazu passte weder der Austragungsort Freiburg noch das Selbstverständnis des VBE. Im Gegenteil: "Was ist gerecht? Ist Gerechtigkeit selektiv?", fragte Eckinger zu Beginn seines Vortrags.
Sozialer Sprengstoff im Bildungssystem
Der Befund des VBE zum Thema "Gerechtigkeit" ist schockierend: Demnach verlässt jeder Zehnte die Schule ohne Abschluss, jeder fünfte 15-Jährige in Deutschland kann außerdem kaum lesen, ist also "designierter Analphabet", und viele Lehrerinnen und Lehrer würden zur Zielscheibe gescheiterter Lebensentwürfe ihrer Schülerinnen und Schüler. "Warum leisten wir uns einen derartigen sozialen Sprengstoff?"
Prorektor Karl-Reinhard Volz (l.) und Kultusstaatssekretär Helmut Rau
Zwei Drittel aller so genannten "Drop outs" sind männlichen Geschlechts, jeder fünfte zudem ein ausländischer Jugendlicher. Im deutschen Schulsystem entscheide die soziale Herkunft über Schulleistung und Bildungsweg.
Eckinger fragte, wer ein Interesse daran habe, Bildungschancen ungleich zu verteilen: Lehrerinnen und Lehrer an Hauptschulen, besser verdienende Eltern oder die Wirtschaft? "Jeder, der um diese Schieflage zwischen Bildung und Gerechtigkeit, um diesen Widerspruch, um diese Ungerechtigkeit weiß, ist mitverantwortlich." Das gegenwärtige Bildungssystem steht für den VBE im krassen Widerspruch zum Grundgesetz.
Integrieren statt Selektieren
Eckingers Auftreten war kämpferisch und engagiert. Er forderte eine "konsequente Beseitigung des selektiven Ansatzes im deutschen Bildungssystem". Die Bildungsreformen dürften nicht in eine neue soziale Selektion münden.
Für den Bundesvorsitzenden des VBE gehört das deutsche Bildungssystem "vom Kopf auf die Füße gestellt". Dabei betonte er, dass die Lehrerinnen und Lehrer sich für einen Paradigmenwechsel zu einem fordernden und fördernden Bildungssystem einsetzen würden: "Eine Bildungskarriere beginnt nicht in der Sekundarstufe II. Wir müssen früh beginnen und das Fundament im Elementar- und Primarbereich stärken." Wenn die skandalöse Unterscheidung in "niedere und höhere Lehrer" überwunden würde, könnte sich das Ansehen der Lehrerprofession immens erhöhen.
VBE-Vorsitzender Ludwig Eckinger (l.) und Prof. Helmut Heid
Ein Problem sah Eckinger auch darin, dass die Schülerinnen und Schüler im Rahmen von Qualitätssteigerung und Evaluation immer häufiger "vermessen" würden. Aus seiner Sicht komme es darauf an, weiche Faktoren wie Schulklima und Atmosphäre zu fördern. Schule solle ein Lern- und Lebensort sein. Kindergärten sollten für alle zugänglich sein und in einer mindestens sechsjährigen Grundschule sollten gemeinsame Unterrichtszeiten stattfinden. Eckinger zufolge ermöglicht erst eine fundierte Breitenbildung wirkliche Elitenbildung. "Die Botschaft des VBE lautete: jeder und jede wird gebraucht, jeder ist wichtig."
"Wozu werden Menschen verglichen?"
Wem beim Deutschen Lehrertag daran gelegen war, das Bild der blinden Justitia, also das Wesen der (Un-)Gerechtigkeit im föderalen deutschen Bildungssystem tiefgreifender zu verstehen, dem wurde mit einem Vortrag des Erziehungswissenschaftlers Prof. em. Helmut Heid (Universität Regensburg) auf die Sprünge geholfen. Er trug den Titel "Gerechtigkeit als Regulativ unterrichtspraktischen Handelns". Klang der Titel noch eher dröge, so ermöglichte die souverän und engagiert vorgetragene Rede von Helmut Heid eine grundlegende und kritische Verständigung über das Thema Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der Bildungsreform.
In der allgemeinen Diskussion über Gerechtigkeit werde ein entscheidendes Problem vernachlässigt: das Beschäftigungssystem. "Die objektiven Bedingungen der Realisierung von Chancen werden meist aus dem Blick verloren", sagte Heid. Gerechtigkeit bzw. Ungerechtigkeit meine die ungleiche Verteilung erstrebenswerter Güter, wozu auch die Lerngelegenheiten gehörten. Heid unterschied drei Muster von Gerechtigkeitssystemen.
Ungleichheit von Menschen könne als eine Tatsache, etwas Natürliches verstanden werden. Ungleichheit könne auf der anderen Seite etwas absolut Wünschenswertes sein. Und Ungleichheit könne als Skandal empfunden werden, der Entrüstung auslöst. "Ungleichheit an sich gibt es nicht", erläuterte Heid das Problem. Sie setze vielmehr einen Vergleich voraus. Aber: "Wozu werden Menschen verglichen?"
Das wiederum hänge von bestimmten Interessen ab, die eine Ungleichwertigkeit des Ungleichen suggerierten. Die Tradition der Rechtfertigung von Ungleichheit sei sehr alt und beständig, so Heid. Man finde sie schon in Aristoteles' Nikomachischer Ethik oder später bei Max Planck. Bis heute habe sie ihre Wirksamkeit im Handeln und Denken der Menschen behalten.
"Die Gesellschaft braucht und will Selektion"
Denktraditionen pflanzten sich fort, auch in den Schlagworten des Bildungssystems: "Das Konstrukt Begabung wurde erfunden", so Heid. Es gehe bei dem Konstrukt um einen interessegeleiteten Vergleich: "Was Begabung ist, entscheiden diejenigen, die als begabt gelten." Die dahinter stehende Selektivität sei institutionell gewollt.
"Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht hat, dem wird genommen", zitierte Heid das Matthäus-Prinzip. Schulversagen müsse vor diesem Hintergrund anders betrachtet werden: Brasilianische Straßenkinder, die in kein Bildungssystem mehr zu integrieren seien, zeichneten sich zum Beispiel durch "eine unglaubliche Genialität und Power aus und eine phänomenale Variationsbreite von Tüchtigkeit".
Die Zuhörer in der Aula der Universität
Für Heid richtet der Begabungsbegriff daher nur Unheil an. "Jeder Misserfolg ist ein Versagen des Lernsystems." Man müsse die Lernansprüche so dosieren, dass die Lernenden Aussicht haben, erfolgreich zu sein. Dass die Bedingungen dazu fehlen, sei aber kein pädagogisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. "Die Gesellschaft braucht und will Selektion. Und wer macht das? Wir Pädagogen machen das, wir legitimieren das."
Auch bei der Debatte um Schlüsselqualifikationen und Leistung war Helmut Heid unwohl zumute. "Es gibt keine Leistung: Sie ist das Resultat der Bewertung einer Handlung." Menschen partizipieren dem Experten zufolge zu ungleich, um zu bestimmen, was als Leistung anerkannt wird. Auch das Leistungsprinzip habe das Kriterium des Interesses und der Ungleichheit bereits in sich aufgenommen.
Mehr kritische Urteilsfähigkeit statt Fremdbestimmung
"Wo waren die Gebildeten im Dritten Reich?", fragte Heid. "In moralischer Hinsicht kann Widerstand eine sehr viel höhere Leistung sein als Anpassung an Eltern oder Lehrer." Wünschenswert seien Menschen, die gelernt haben zu beurteilen, was von ihnen verlangt wird, und die ihre Überzeugungen in den Prozess einbringen.
Helmut Heidt erhielt anhaltenden Applaus für seine unbequeme Rede. "Ein sehr bedeutender Vortrag", kommentierte Eckinger.
Die zweite Runde des Deutschen Lehrertags am Nachmittag fand in acht unterschiedlichen Gesprächskreisen statt. Es wurden Themen angeboten, die Lehrerinnen und Lehrern Nachts den Schlaf rauben können.
Die Ganztagsschularbeitsgruppe
Den direktesten Bezug zur Ganztagsschule besaß die Gesprächsrunde 5: "Schule den lieben langen Tag lang - Wie geben wir Kindern Anregung, Hilfe, Orientierung?" Anregende Informationen enthielt der Vortrag von Heinz Wagner, Schulleiter der Friedrich-von-Spee-Gesamtschule in Paderborn: Es gebe momentan noch keine empirischen Daten über den Erfolg von Ganztagsschulen in Deutschland, sagte er.
Dennoch hätten die Schülerzahlen im Ganztagsbereich deutlich zugenommen. Im Schuljahr 2003/04 gab es bereits 960.000 Schülerinnen und Schüler. Das waren 100.000 mehr als im Vorjahr, also elf Prozent unterhalb der Sekundarstufe II. Die größten Schülerzahlen weisen Integrierte Gesamtschulen auf: 324.000 (68%), die wenigsten die Realschulen mit 55.000 (4%). Gymnasien kommen auf 93.000, Grundschulen auf 160.000, Hauptschulen auf 126.000 und Sonderschulen auf 132.000 Schülerinnen und Schüler.
Die soziale Verpflichtung des Staates
Aufschlussreich war ein Vergleich der Unterrichtszeiten an den allgemein bildenden Schulen in Europa. Finnland habe mit 5.500 Stunden die geringsten Unterrichtszeiten und den größten Lernerfolg, während Deutschland 6.900 Stunden jährlich aufwendet, schwach im Ergänzungsunterricht und Spitzenreiter bei den durch Eltern extra bezahlten Nachhilfestunden sei.
Wagner forderte mehr Gerechtigkeit im Bildungssystem: "Wenn es uns nicht gelingt, jungen Leuten eine Chance zu bieten, dann werden wir uns in zehn Jahren nicht mehr frei in den Städten bewegen können."
Echte Ganztagsschulen erkennt man Wagner zufolge an der Rhythmisierung. Schulen, die sich auf diese Herausforderung einlassen, sollten aber einschätzen können, was auf sie an Veränderungen zukommt. Der Referent ließ die Teilnehmer der Gesprächsrunde - allesamt Lehrerinnen und Lehrer - anschließend in drei Schritten eine Rhythmisierung planen: Pflichtstundenverteilung auf den Wochenplan, dann Planung des Personals und der Zusatzangebote, schließlich Erstellen eines Antrags. Wer einen Antrag stellt, sollte pädagogische und gesellschaftliche Bedingungen berücksichtigen.
Lehrerinnen und Lehrer können konstruktiv und motiviert mit Problemen umgehen, soviel wurde in dem Gesprächskreis deutlich. Zu bedauern war allerdings, dass die Ergebnisse der verschiedenen Arbeitsgruppen nicht mehr im Plenum zusammengeführt wurden. Um 16 Uhr war der 24. Deutsche Lehrertag bereits Geschichte - und die Pädagogen zerstreuten sich mit ihrem Gepäck an neuem Wissen und Problembewusstsein wieder in alle Himmelsrichtungen.
Autor/in: Peer Zickgraf
Datum: 22.04.2005
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