"Ganztagsschule muss in der Öffentlichkeit stattfinden" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Am zweiten Tag des vom 1. - 3. November 2006 in Bremen stattfindenden Bundeskongresses des Ganztagsschulverbandes standen Schulbesuche auf dem Plan. Das Schulzentrum an der Lehmhorster Straße beeindruckte die Besucher durch seinen rhythmisierten und binnendifferenzierten Unterricht, die Einbindung von Sozialpädagogen und die Arbeit mit den Tischgruppen in den 5. und 6. Klassen des Gymnasiums.

Insgesamt 19 Besuchsschulen standen auf dem Bundeskongress des Ganztagsschulverbandes in Bremen zur Auswahl, davon eine in Niedersachsen. "Der Vorteil bei einem kleinen Bundesland wie unserem besteht darin, dass ich alle diese Schulen auch schon besucht habe", scherzte Willi Lemke beim Empfang der Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer am zweiten Kongressabend im Rathaus. Der Bildungssenator erklärte: "Es ist unsere Verpflichtung, jedes Kind so gut zu fördern wie wir können. Wir müssen endlich die unselige Kopplung von Bildungserfolg und sozialer Herkunft überwinden."

Eine der Schulen, die in einem nicht einfachen Umfeld versucht, ihre Schülerinnen und Schülern bestmöglich zu fördern, ist das Schulzentrum an der Lehmhorster Straße, das unter einem Dach Gymnasium, Sekundar-, Haupt- und Realschule vereint. "Wir gelten als eine der schwierigsten Schulen Bremens", begrüßte Ganztagsschulkoordinatorin Rosemarie Lange die Besuchergruppe des Kongresses. Knapp 1.000 Schülerinnen und Schüler besuchen die 43 Jahre alte Schule, die architektonisch wenig zu bieten hat und sich um so mehr bemüht, das Gebäude mit einer modernen Pädagogik zu füllen. Das Schulleitbild ist im Motto "Alle sollen sich wohlfühlen" zusammengefasst.

Bildungssenator Willi Lemke beim abendlichen Empfang im Bremer Rathaus

Das Schulzentrum im Norden Bremens ist eine Ganztagsschule im Aufbau: In den 5. und 6. Klassen des Gymnasiums findet im gebundenen Modell ein rhythmisierter Tagesablauf mit Wochenplanarbeit, jahrgangsgemischtem Unterricht, Projektunterricht und Wochenplanarbeit statt. "Wir hatten einen sehr schwierigen Start", berichtete Schulleiter Günther Vogel. "Aber wir haben uns gesagt, dass es besser ist, einen Anfang zu wagen als zu warten."

Tischgruppenarbeit ein "Muss", Wochenplanarbeit das "Herzstück"

Die Ganztagsschulkoordinatorin Rosemarie Lange ist überzeugt: "Die Ganztagsschule ist die richtige Schulform. Was Professor Roth gestern in seinem Vortrag zum Beispiel zum Wert des Lobens ausgeführt hat, kommt bei mir aus dem Bauch." Ein "Muss" bei ihrer Arbeit als Klassenlehrerin ist die Tischgruppenarbeit. "Ich habe damit nur gute Erfahrungen gemacht, finde die Arbeit mit Tischgruppen zum Beispiel ruhiger. Aber nicht alle Kolleginnen und Kollegen ziehen mit." Diesen dürfe man diese Art der Lernmethode nicht aufzwingen: "Eine Ganztagsschule bringt man nicht mit der Brechstange voran."

In Bremen entscheiden allein die Eltern nach der vierten Klasse, auf welche weiterführende Schule sie ihr Kind schicken. In den Gymnasialklassen der Lehmhorster Straße herrscht eine große Leistungsheterogenität. "Die Vermischung in Tischgruppen ist daher sinnvoll: Die leistungsstärkeren Schüler lernen, den schwächeren zu helfen, und diese profitieren von dieser Hilfe. Auch für die Binnendifferenzierung sind sie sehr hilfreich", so Rosemarie Lange. Einmal in der Woche trifft sie sich mit einer der fünf Tischgruppen zum Mittagessen. Eine Tischgruppe versammelt sich auch bei jeweils einem der Kinder zu Hause, um sich besser kennen zu lernen. Neben der Kennenlernfahrt der drei Ganztagsklassen des 5. Jahrgangs hilft dies, eine Gemeinschaftsstimmung entstehen zu lassen.

Ganztagsschulkoordinatorin Rosemarie Lange

Das Herzstück der Ganztagsschularbeit ist für die Lehrerin die Wochenplanarbeit, die seit dem Schuljahr 2005/2006 den Unterricht inhaltlich gestaltet und rhythmisiert. In drei bis fünf Stunden pro Woche arbeiten die Schülerinnen und Schüler vollkommen eigenständig. Sie teilen sich ihre Zeiten frei ein und entscheiden, in welcher Reihenfolge sie Aufgaben der Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik bearbeiten möchten. Neben der möglichen Unterstützung durch die Lehrkraft gibt es zu allen Aufgaben Zusatzinformationen und Kontrollblätter. Die Schülerinnen und Schüler beurteilen die Wochenplanarbeit selbst, indem sie schreiben, welche Aufgaben ihnen leicht gefallen sind und bei welchen sie sich schwer taten. Darüber hinaus schreiben die Kinder einen Vorsatz "Daran will ich diese Woche denken". Von der Klassenleitung gibt es ein schriftliches Feedback. Alle Wochenpläne werden dann von den Eltern unterschrieben und in einem Portfolio-Ordner, der damit als eine Art Lerntagebuch die Lernfortschritte dokumentiert, abgeheftet.

Die Lehrerin ist morgens als erste da

Die Klasse 6A präsentierte der Besuchergruppe in einem Ensemblevortrag die Wochenplanarbeit und beeindruckte die Gastpädagoginnen und -pädagogen durch ihre Ausdrucksfähigkeit. "Das hätte meine Klasse so nicht hinbekommen", staunte eine Lehrerin. Auch die Kinder mit Migrationshintergrund - im Gymnasium lernen rund 50 Prozent solcher Schülerinnen und Schüler - zeigten keinerlei Sprachschwierigkeiten.

Der Tag beginnt mit einem offenen Beginn um 7.45 Uhr. "Früher habe ich mich durch die lärmende, vor der Klassentür wartende Schülerschar durchgekämpft", erzählte Rosemarie Lange. "Heute bin ich als erste da und kann mit ebenfalls früher eintreffenden Schülerinnen und Schüler schon mal Einzelgespräche führen. Die Kinder wiederum haben Gelegenheit, schon ihre Erlebnisse vom Vortag oder Wochenende loszuwerden, was früher während des Unterrichts geschah. Für alle Beteiligten ist das viel entspannter. Schule muss sich auch dort ändern, wo es nichts kostet."

 

Das Schulzentrum an der Lehmhorster Straße mit der Klasse 6A

An den Ganztagsschultagen findet zwischen 12 und 14 Uhr die Mittagsfreizeit statt. In der Mensa können die Kinder ein dort frisch zubereitetes Mittagessen mit reichlich Salat genießen, aber die Zeit auch im Computerraum, in der Cafeteria, dem Stillarbeitsraum und der Turnhalle verbringen.

An einem Ganztag haben die Parallelklassen Projektschienenunterricht im Fach Wirtschaft/Arbeit/Technik (WAT), an einem zweiten Tag findet Wahlpflichtunterricht statt. Für jeweils ein halbes Jahr wählen die Schülerinnen und Schüler dort aus etwa 15 Angeboten eines verpflichtend aus. Die Angebote gruppieren sich unter den Überschriften "Lernen und Vertiefen", "Darstellen und Gestalten", "Knobeln und Entdecken" und "Mitspielen und Trainieren". Hier findet jahrgangsübergreifender Unterricht statt. Ein wichtiger Bestandteil des Nachmittags ist der verbindliche Förderunterricht, in dem die Schülerinnen und Schüler ihre Wissenslücken schließen können. Schulschluss ist um 16 Uhr.

Sozialpädagogen bringen frischen Wind

Auf Lehrerseite sind in den 5. und 6. Klassen Jahrgangsteams tätig. Die Wochenpläne werden sowohl klassenintern als auch im Jahrgang abgesprochen. Ein Austausch über die Klassenarbeiten und Absprachen zur inhaltlichen Gestaltung des Fachunterrichts finden in den regelmäßigen Teamsitzungen statt. Das allein macht für Rosemarie Lange noch keine erfolgreiche Ganztagsschularbeit aus, zwingend gehört für sie die Arbeit von Sozialpädagogen dazu, die "für unsere Schule ein Motor" sei: "Sie bringen frischen Wind und neues Lernen."

Am Schulzentrum an der Lehmhorster Straße unterstützen drei sozialpädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das ganztägige Lernen, indem sie im rhythmisierten Unterricht mitwirken, Wahlpflichtstunden anbieten, den Freizeitbereich gestalten und mit den Schülerinnen und Schülern Sozialtraining üben, zum Beispiel bei einer Ausbildung am Kletterturm.

 

Mens sana in corpore sano: Das Herzstück des Schulzentrums an der Lehmhorster Straße - Veranstaltungsort und Versorgungsstation mit frischem Salat

Doch eine Ganztagsschule verändert sich nicht nur im Innern, sie "muss auch in der Öffentlichkeit stattfinden", findet Rosemarie Lange. "Sie sollte sich mit öffentlichen Präsentationen zeigen, Schnupperkurse für Grundschulklassen anbieten und mit Vereinen kooperieren."

Wie wichtig Öffentlichkeitsarbeit ist, erwiesen auch die Diskussionen im Workshop "Öffentlichkeitsarbeit in der Ganztagsschule", die der Hamburger Journalist Andreas Kuschnereit leitete, der bei der Behörde für Bildung und Sport der Hansestadt tätig ist. "Das Bild von Schulen und Lehrern ist schlecht, deshalb sollten Schulen selbstbewusst zeigen, was sie tun und können", eröffnete Kuschnereit den Workshop.

Bevor eine Schule mit gezielten Informationen an die Öffentlichkeit tritt, müsse in einem internen Diskussionsprozess zunächst das Image der Schule geklärt werden und welche Botschaften man diesem entgegensetzen oder zur Verstärkung einsetzen könne. Die Verantwortlichkeiten müssen geklärt und zeitliche Ressourcen gewährt werden. "Öffentlichkeitsarbeit ist nichts, was eine Schule so nebenbei leisten kann", meinte der Journalist. "Im Alltag versandet sonst zu viel."

Kontakte sind wichtig

Öffentlichkeitsarbeit führt laut Kuschnereit zu Transparenz und damit zur Glaubwürdigkeit. Die Schule müsse dann aber auch ein geschlossenes Bild nach außen abgeben: "Eine angekündigte Anti-Gewalt-Woche nützt nichts, wenn sich die Jugendlichen auf dem Schulhof prügeln." Um das Bild einer Schule aufzuwerten, benötige sie nicht immer großartige Veranstaltungen und Projekte, auch guter Unterricht reiche schon. Durch Schülerzeitungen, den Kontakt mit lokalen Wochenblättern und den Tageszeitungen, die man heutzutage leicht per e-mail-Verteiler erreichen könne, könne man Stärken wie Theateraufführungen, Sport, Projektarbeit oder ehrenamtliches Engagement von Eltern und Schülern im Ganztagsbereich transportieren. "Kontakte sind unglaublich wichtig", betonte der Workshop-Leiter. Wenn sich eine weiterführende Schule um Grundschulkinder bemüht, ist es laut Kuschnereit sinnvoll, die Kinder direkt anzusprechen - mit Schülerpräsentationen und Mitmachtagen.

Auch auf Krisensituationen sollte sich eine Schule vorbereiten. Als positives Beispiel präsentierte Kuschnereit eine Hamburger Schule. Auf einer Klassenfahrt in den Harz hatte sich eine Klasse daneben benommen - die Kunde davon erreichte die Hansestadt eher als die Klasse selbst. Die Schule hatte sich aber mit einem Krisenplan auf eine solche Situation schon vorbereitet und informierte ihrerseits die Medien über die Maßnahmen, die nach der Rückkehr der Schülerinnen und Schüler getroffen werden würden. "Die Schule trat als positiver, handelnder Akteur auf", so Kuschnereit. "Nach zwei Tagen war das Thema aus den Medien verschwunden."


Lesen Sie hier den 1. Teil unserer Kongressreportage.

 

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