Entwicklungsprozesse an Ganztagsschulen

Sieben Monate nach der ersten Tagung hat die Werkstatt 1 "Entwicklung und Organisation von Ganztagsschulen" des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IfS) ihre zweite Fachtagung durchgeführt: Am 23. und 24. Januar 2006 beleuchteten in Dortmund Experten aus ganz Deutschland "Entwicklungsprozesse an Ganztagsschulen" aus verschiedenen Perspektiven.

Im Juni 2005 veranstaltete die Werkstatt 1 "Entwicklung und Organisation von Ganztagsschulen" im Rahmen des Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) ihre erste zweitägige Tagung. Nun versammelten sich am 23. und 24. Januar 2006 wiederum im Dortmund über 50 Ganztagsschulexpertinnen und -experten aus ganz Deutschland, um "Entwicklungsprozesse an Ganztagsschulen" aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.

"Wir hatten ein größeres Interesse als beim letzten Mal", begrüßte Heinz Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung (IfS) das Plenum in einem Dortmunder Hotel und freute sich über die "schöne Zusammensetzung" der Teilnehmenden. Viele Lehrerinnen und Lehrer waren angereist, dazu kamen Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik - ganz im Sinne der Veranstalter, die theoretische und praktische Blickpunkte miteinander verbinden wollten. Die in den Diskussionsrunden und Workshops erarbeiteten Ergebnisse sollten von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Alltag in ihren Ganztagsschulen genutzt, aber auch von ihnen als Multiplikatoren an Schulen weitergetragen werden.

Blick in eine der "Stolpersteine"-Arbeitsgruppen

"Wir wollen Qualität in die Ganztagsschule bringen", stellte Holtappels zu Beginn seines Eingangsvortrages "Entwicklung eines Schulkonzeptes für die Ganztagsschule" fest. Allerdings sei das Wissen über Ganztagsschulen noch spärlich - und dies werde auch noch eine geraume Zeit so bleiben. Gerade deshalb wolle man mit Tagungen wie dieser die Praxis unterstützen. Aus bisherigen Studien ließen sich Bedingungen ablesen, die für ein erfolgreiches Arbeiten an einer Ganztagsschule Voraussetzung seien: Innovationsbereitschaft und deren breite Akzeptanz im Kollegium, zielorientiertes Leitungshandeln, schulinternes Management in der Arbeitsorganisation, Teambildung, schulweite Partizipation im Entwicklungsprozess und die Präsenz und Nutzung von Unterstützungssystemen. "Gerade bei Letzterem hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher", so Holtappels, "es muss mehr in Beratungssysteme investiert werden." Der Wissenschaftler nannte diese Netzwerke "Infrastruktur der Innovation", die den Schulen helfen könnten.

Mit der Ganztagsschule alle Schülerinnen und Schüler erreichen

"Schulen müssen lernende Organisationen werden, die sich ein Ziel setzen, wie Schulkultur und Standards aussehen sollen", so Holtappels weiter. Man müsse sich vor Ort über den eigenen Entwicklungsstand klar werden und ein Schulprogramm für die Ganztagsschule entwickeln, in dem die pädagogischen Leitziele aufgeführt würden. In einer Umfeldanalyse sollten sozialräumliche Bedarfe und Ressourcen aufgezeigt und eine Evaluationsplanung mit Fortbildungen entwickelt werden. "Der gemeinsame Fokus muss auf dem Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler gerichtet werden", erklärte der Wissenschaftler. "Mit der Ganztagsschule besteht die Möglichkeit, die Lernkultur zu verändern, erweiterte Lerngelegenheiten, Partizipation und das Erlernen von Demokratie zu ermöglichen, um alle Schülerinnen und Schüler zu erreichen."

Katrin Höhmann vom Institut für Schulentwicklungsforschung

Der Eröffnungsvortrag nannte die positiven Vorraussetzungen, die zum erfolgreichen Lehren und Lernen an einer Ganztagsschule erforderlich sind. Doch wie sieht es mit den Stolpersteinen aus? In zwei parallelen Arbeitsgruppen mit dem Thema "Stolpersteine im Entwicklungsprozess der Ganztagsschule oder Woran kann man gute Ganztagsschulen erkennen?" verständigten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über Probleme auf dem Weg zur Ganztagsschule. Dabei war man sich schnell einig, dass alle genannten Punkte auch auf Halbtagsschulen zutreffen. Roland Hagelstange, Schulleiter der Sonnenblumengrundschule in Berlin, meinte: "An einer Ganztagsschule tauchen immer wieder Probleme wie an einer Halbtagsschule auf, nur werden sie hier besonders deutlich."

Ein Lehrer berichtete: "Wir haben ein Konzept, arbeiten aber nicht danach. Jeder werkelt für sich." Andere Stolpersteine: Die Öffnung der Schule gelingt nicht, Schulberatung fehlt, die Personalsituation ist unklar, Schulfusionen hemmen das Vorankommen. Aber: "Der Knackpunkt ist das Kollegium", so Heinz Boecker von der Akademie Schule und Wirtschaft in Oldenburg. Dr. Sabine Knauer von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung meinte, dass "gerade eine Ganztagsschule diskutieren muss, welches Menschen- und Schülerbild man hat und was man mit der Schule erreichen will." Natürlich sei es schwieriger, sich über ein Schulprogramm zu einigen, als nur nach einer Mensa zu fragen, meinte Henning Braband von der Serviceagentur Schleswig-Holstein. "Manchmal wollen Schulen das Geld verbauen, aber nichts verändern."

Nicht auf alle im Kollegium warten

Doch Roland Hagelstange wollte diese negative Diskussion ebenso wenig führen wie Irene Albers von der Europaschule Nordhorn in Gütersloh. "Wer will, findet Wege, wer nicht will, findet Gründe", sagten sie unisono. "Man muss einfach anfangen und sich nicht ständig damit beschäftigen, was einen hindern könnte", forderte die Schulleiterin, die am folgenden Tag in ihrem Workshop die Anwesenden mit der Beschreibung ihrer Schule begeistern sollte. Petra Köster-Gießmann, Schulleiterin der Bremer Grundschule Borchshöhe, erklärte, es sei eine Illusion zu glauben, dass ein Kollegium einer Meinung sein könne: "Wenn wir darauf warteten, würden wir nie anfangen." Ralph Leipold vom Gymnasium Neuhaus in Steinach berichtete indes, in seinem Kollegium hätten zu Beginn nur zehn von 70 Lehrerinnen und Lehrern das Ganztagskonzept vorangetrieben, "doch dann hat es eine eigene Dynamik entfaltet."

Für Nadia Fritsche von der Werkstatt 3 "Kooperation mit Partnern" stellte die Ganztagsschule die Chance dar, die Basis in der Schule zu verbreitern: "Zwangsläufig werden durch die Kooperationen außerschulische Partner, Eltern und Schüler ins Schulleben verantwortlich einbezogen. Das macht den Prozess schwieriger, aber auch reichhaltiger."

 

 

Jürgen Bosenius (l.) und Christine Preiß stellten Unterstützungssysteme im Internet vor

Um diesen schwierigen Prozess zu erleichtern und den Schulen andere Schulbeispiele und Kooperationsmöglichkeiten vor Auge zu führen, wurden am Abend zwei Datenbanken vorgestellt. Für die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung führte Jürgen Bosenius durch das Internet-Portal "Ganztägig lernen". Andrea Behr-Heintze und Christine Preiß vom Deutschen Jugendinstitut München präsentierten die Datenbank "Schule und Partner", in der 200 Kooperationsbeispiele aus ganz Deutschland ausführlich aufgeführt sind. Diese Datenbank, deren Inhalt auf schriftlichen Befragungen von über 1.000 Schulen und teilstandardisierten Interviews in den 200 Schulen basiert, ist Teil des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Forschungsprojekts "Kooperation von Schule mit außerschulischen Akteuren".



Tür- und Angelgespräche - mangelnde Wertschätzung?

Den zweiten Tagungstag eröffnete Dr. Katrin Höhmann vom Institut für Schulentwicklungsforschung: "Nachdem wir uns gestern mit den Stolpersteinen beschäftigt haben, soll heute nach den Wegen zu einer guten Ganztagsschule gesucht werden." In sechs thematischen Workshops wollten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Konzepte für ein "wertegeleitetes Profil", "Teamarbeit", einen "rhythmisierten Tagesablauf mit anderer Taktung", ein "komplexes Förderkonzept", ein "Bildungskonzept aus erweiterten Lernangelegenheiten" und "neue Wege der Konfliktlösung" finden.

Im Workshop "Von Tür- und Angelgesprächen zur Teamarbeit" fasste Moderator Henning Braband von der Serviceagentur Schleswig-Holstein die Ziele so zusammen: "Am Ende dieses Workshops sollen Sie in der Lage sein, eine 30-minütige Präsentation zu organisieren, um Schulen für Teamarbeit zu begeistern." In dieser Arbeitsgruppe war man sich einig, dass nicht das Instrument der Tür- und Angelgespräche "anrüchig" sei, oft aber seine Handhabung. Zum schnellen Austausch von Informationen seien diese Gespräche zwar geeignet, zugleich jedoch oberflächlich. Torsten Daseking vom Bildungswerk der niedersächsischen Wirtschaft meinte: "Ich empfinde das als mangelnde Wertschätzung, wenn man sich nicht ausreichend Zeit für Gespräche nimmt." Braband ergänzte, er habe schon Schulen beraten, deren Kultur darin bestand, "abzuhauen, so schnell du kannst".

Henning Braband (r.) versorgte seine Arbeitsgruppe mit reichlich Informationsmaterial

Erfolgreiches Arbeiten im Team sei aber nur möglich, wenn man mit einem eindeutigen Arbeitsauftrag und nach einer ausreichenden Vorbereitungszeit ein gemeinsames Ziel formuliert und die Verantwortlichkeiten geklärt habe. Die Arbeit solle zeitlich begrenzt sein und müsse dokumentiert werden, ein gemeinsamer Raum und Rituale seien ratsam.

Handeln durchsichtig machen und Konsequenzen aufzeigen

Doch was tun bei Konflikten im Kollegium? Eine Schulleiterin im Workshop "Von Personalkonflikten zu neuen Wegen der Konfliktlösung" berichtete von regelrechten Intrigen innerhalb der Schule, die das bisher Erreichte immer wieder behinderten und in Frage stellten. Eine Lehrerin beklagte die Ungleichbehandlung der Kollegen durch die Schulleiterin. Moderator Wilhelm Barnhusen von der Paul-Gerhart-Schule in Werl konnte den Anwesenden ein Gesprächsmodell für größere Runden anbieten, mit dem er schon gute Erfahrungen gemacht hat.

An diesen Runden nimmt das gesamte Kollegium teil, einschließlich der Person, die ein Problem angemahnt hat. In der ersten Gesprächsrunde muss sich jeder der Reihe nach zu dem Konflikt äußern, ohne unterbrochen zu werden. Auch Rückfragen sind nicht möglich. "Der Vorteil ist, dass sich in diesem Schonraum auch diejenigen äußern, die sich sonst aus allem raushalten wollen", erklärte Barnhusen. In einer zweiten Runde können Ergänzungen zum eben Gehörten ohne Widerrede gemacht werden. "Danach hat sich der Konflikt oft schon gelöst", so der Schulleiter. Falls nötig, gebe es aber noch eine dritte Runde, in der Rückfragen und Zwiegespräche möglich seien.

Ilse Kamski (l.) und Thomas Schnetzer vom Institut für Schulentwicklungsforschung moderieren eine Arbeitsgruppe

"Wichtig ist, dass man nicht zu schnell Lösungen anbietet und beim Thema beziehungsweise auf der Sachebene bleibt", meinte Barnhusen. Im Falle von Vier-Augen-Gesprächen solle man klare Ich-Botschaften bringen, eigene Wahrnehmungen, Empfindungen und Wissen formulieren, konkrete Situationen schildern, sein Handeln durchsichtig machen und Konsequenzen aufzeigen.

"Die wichtigsten Gespräche auf so einer Tagung sind immer die informellen, die man in den Pausen oder beim Essen führt", hatte Wilhelm Barnhusen schon zu Beginn des zweiten Tages angemerkt. Nach zwei inhaltsreichen Tagen signalisierten viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer, dass sie mit neuen Ideen und Schwung die Aufgabe, Ganztagsschulen gut zu gestalten und zu beraten, angehen werden. Heinz Günter Holtappels gab ihnen auf den Weg: "An Unterrichtsentwicklung führt kein Weg vorbei."

Kategorien: Service

Die Übernahme von Artikeln und Interviews - auch auszugsweise und/oder bei Nennung der Quelle - ist nur nach Zustimmung der Online-Redaktion erlaubt. Wir bitten um folgende Zitierweise: Autor/in: Artikelüberschrift. Datum. In: https://www.ganztagsschulen.org/xxx. Datum des Zugriffs: 00.00.0000