Eine kurze Geschichte der Ganztagsschulen, Teil 1
Eine kurze Geschichte der Ganztagsschulen darf sich nicht auf unwesentliche Details beschränken. Kurz sollte sie sein und aussagekräftig im Hinblick auf die wesentlichen historischen Weichenstellungen des deutschen Bildungssystems. Der erste Teil dieser kurzen Geschichte der Ganztagsschulen beleuchtet die schwierigen Anfänge bis Anfang des 20. Jahrhunderts.
Lernen aus einer kurzen Geschichte der Ganztagsschulen? "Man kann aus der Geschichte lernen", so Dr. Wolfgang Harder, Vorsitzender der Vereine Deutscher Landerziehungsheime. Entscheidend sei aber Nietzsches Frage "was bringt mir das, welchen Nutzen und welchen Nachteil hat die Geschichte?"
Was bringt eine kleine Geschichte der Ganztagsschulen zum besseren Verständnis ihrer aktuellen Probleme und ihres zukünftigen Weges? "Wir erleben den flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen als historische Chance und zwar nicht nur an den Waldorfschulen oder den Tagesheimschulen, sondern an allen Schulformen" fügt Harder hinzu. Die historische Betrachtung der Ganztagsschulen ermögliche es Standards für gute Schulen festzustellen und die Bedingungen für ihre allgemeine Verbreitung: "Es geht um ihre Durchsetzung in die Fläche und das haben wir bisher nie geschafft", fügt Harder hinzu.
Welchen Nutzen, welchen Nachteil hat die Geschichte?
Geschichte erhellt nicht nur die Entstehung regionaler, nationaler oder internationaler Strukturen, sie gibt auch Auskunft über die Hintergründe bestimmter Entwicklungen, so zum Beispiel darüber, warum sich im deutschen Bildungssystem die Halbtagsschulen und das dreigliedrige Schulsystem vor etwa 100 Jahren allgemein durchgesetzt haben. Eine geschichtliche Betrachtung der Ganztagsschulen wirft zugleich aktuelle Fragen auf: Welche gesellschaftlichen Bedingungen oder politischen Rahmenbedingungen begünstigen Reformprozesse oder Transformationen des Bildungssystems? Und vor allem: Wie viel Zeit brauchen Strukturveränderungen des Bildungssystems bis sie wirksam werden?
Moderne Schulen waren vor rund 300 Jahren in Deutschland zunächst ganztägige Schulen. Die Grundlagen dafür schuf die 1717 durch Friedrich Wilhelm I. auf die Jahreszeiten abgestimmte Schulpflicht, die aber erst "1736 in den Principia Regulativa für die Dauer vom 5.-12. Lebensjahr für ganz Preußen festgelegt" wurde, schreibt Dirk Lepping in seiner Staatsexamensarbeit aus dem Jahr 2003.
Das heißt: Von der Frühindustrialisierung bis Ende des 19. Jahrhunderts wurden Schulen als "Schulen mit geteilter Unterrichtszeit" geführt. Geteilter Unterricht - so Harald Ludwig in einer historischen Abhandlung - bedeutete eine Zweiteilung des Unterrichts, die sich über den ganzen Tag erstreckte. Vormittags von 8 bis 12 Uhr sowie nachmittags von 14 bis 16 Uhr. Zur Mittagspause strömten die Lehrer sowie die Schülerinnen und Schüler eilig nach Hause (Kahl hat dies in seinem Film "Treibhäuser der Zukunft" auch für die Gegenwart festgestellt - nach Unterrichtsschluss würden manche Lehrerinnen und Lehrer so schnell wie möglich das Weite suchen).
Auf den Nachmittagsunterricht folgten damals Hausaufgaben oder die Unterrichtsvorbereitung der Lehrerinnen und Lehrer. Diese Form der unterrichtsbezogenen Zeiteinteilung von Schule orientierte sich an dem Beruf des Handwerkers, führt der Erziehungswissenschaftler Harald Ludwig in einem Überblick über die Geschichte der Ganztagsschulen im Jahrbuch Ganztagsschulen 2004 aus.
Ein Bruch, der lange fortwirkt
Im 19. Jahrhundert kam es aber zu einem Bruch und zum vorläufigen Abschied von den Ganztagsschulen traditioneller Prägung: "Die uns heute geläufige Vormittagsschule setzte sich in Deutschland erst seit Ende des 19. Jahrhunderts zunächst im höheren Schulwesen durch. Maßgebliche Gründe waren im Bereich der Volksschule die Rücksichtnahme auf die damals noch verbreitete Kinderarbeit in Landwirtschaft und Gewerbe und die wegen Klassenüberfüllung erforderliche Einführung des Schichtunterrichts. Im Bereich des höheren Schulwesens waren es die weiten Schulwege, die viermal am Tag zurückzulegen waren, sowie die Klage, die Schüler seien durch die übliche Form des Schulunterrichts am Vor- und Nachmittag und zusätzliche Hausaufgaben überlastet", so Ludwig weiter. Die Schulen und das sie umrahmende Bildungssystem stehen also immer auch im Kraftfeld sozio-ökonomischer Entwicklungen.
Allem Anschein nach hätten Ganztagsschulen unter den damaligen Umständen die soziale Not ärmerer Familien noch verschärft: "Jedoch konnten vor allem Eltern aus sozial schwächeren Schichten, die auf die Mitarbeit ihrer Kinder angewiesen waren, diesen häufig keine ganztägige Schulbetreuung bieten. Folglich wurde der Unterricht im Laufe der Zeit immer stärker auf den Vormittag zentriert. Dies ist einerseits auf die Notwendigkeit der Unterstützung der Kinder beim elterlichen Erwerbsleben zurückzuführen, andererseits aber auch auf organisatorische Probleme, wie zu kleine Klassenräume, zu hohe Klassenfrequenzen oder eine zu geringe Lehrerzahl", so Lepping weiter.
Praktisch spiegelverkehrt zur heutigen Situation, in der die Ganztagsschulen einen Beitrag zur Vereinbarkeit von Familie und Arbeitsleben leisten, fußt die flächendeckende Durchsetzung von Halbtagsschulen auf dem Widerspruch zwischen der allgemeinen Schulpflicht und dem ökonomischen Druck der ärmeren Familien, für die die Arbeitskraft der Kinder existenzieller war als die Verbesserung ihrer Bildungschancen: "Aus dieser Not heraus wurden, zumindest für diejenigen Familien, die auf die Mithilfe der Kinder angewiesen waren, die so genannten Teilzeitschulen geboren, von denen die wichtigsten Formen die Fabrikschule und die Sommerschule waren. Beide Formen dienten als Ersatz für die Volksschule und waren als eine Notlösung gedacht", führt Lepping aus.
Reformpädagogen versuchten schon früh aus dem Expresszug auszusteigen, der unaufhaltsam in Richtung Unterrichtsschule am Vormittag fuhr. Denn in Reaktion zur allgemeinen Verbreitung von Halbtagsschulen im 19. Jahrhundert machten sie sich für reformpädagogisch orientierte Ganztagsschulen stark, in denen nicht nur gepaukt, sondern auch gelebt werden sollte. Es ging den Reformern also nicht nur um eine Professionalisierung des Unterrichts. Die neuen pädagogischen Konzepte sollten die Persönlichkeitsentfaltung der Kinder und Jugendlichen zum Ausdruck bringen und den mechanisierten Frontalunterricht überwinden, der sich an industrielle Methoden der Massenproduktion ("Fabrikschule") bzw. an das Kommandosystem in den Kasernen anlehnte.
Der erste Vorstoß zur Kinderorientierung
So wurden die Landerziehungsheime zur Vorhut der Ganztagsschulbewegung in Deutschland: "Sie waren als konsequent zu Ende gedachte Ganztagsschule die erste reformpädagogische Bewegung in Deutschland", erinnert Harder. Die Vorteile gegenüber den Halbtagsschulen sieht der Vorsitzende der Landerziehungsheime in der Subjektorientierung, die mehr Zeit und Raum erfordere und erweiterte Handlungsmöglichkeiten eröffne, wie:
. andere schülerorientierte Lernrhythmen
. Umgang mit Erwachsenen auf Augenhöhe
. individuelle Förderung, die die Entwicklung des Einzelnen im Mittelpunkt stellt
. die Kinder als Subjekte ihrer Lernbiographie aufzufassen
Reformpädagogik und traditionelle Schule befanden sich seitdem in einem fortdauernden Spannungsverhältnis: "Ich glaube, dass in Deutschland immer noch zwei Kulturen im Streit liegen: die alte obrigkeitlich-bürokratische, autoritäre, deutsche Tradition aus wilhelminischen Zeiten und die Einsicht, die von der Reformpädagogik zum ersten Mal wie in einer Explosion formuliert worden ist, dass wir eine Schule brauchen, die die Verstehensprozesse der Kinder in den Mittelpunkt stellt, die auf Achtung und Respekt beruht", bilanziert der Erziehungswissenschaftler Peter Fauser von der Universität Jena in der Dokumentation zu "Treibhäuser der Zukunft".
Die Idee der "Deutschen Land-Erziehungs-Heime" ist übrigens eng mit dem Reformpädagogen Herrmann Lietz (1868-1919) verknüpft. Seine Kritik an der Unterrichtsschule, die auf Kognition, Gehorsam und körperlicher Askese aufbaute, liest sich wie die Vorwegnahme der aktuellen Debatte um die Einbeziehung der Kinder und Jugendlichen als Autoren ihrer eigenen Bildung. Denn in Anbetracht "der Einbuße, welche die erzieherische Bedeutung der Familie, der Nachbarschaft usw. infolge der Begleiterscheinungen des Industrialismus.erlitten hat und täglich mehr erleidet" - so die Diagnose, die Lietz gegen Ende des 19. Jahrhunderts formulierte - solle die Trennung von Unterricht und Erziehung überwunden werden. Vor diesem Hintergrund wünschte Lietz einen rhythmisierten Tagesablauf, der den Unterricht mit Elementen von Bewegung, Spiel und künstlerisch-musischer Gestaltung anreicherte.
Kreative Ideen im sozio-ökonomischen Kraftfeld
Lietz' Vorstellung eines ganztägigen Internates war noch von einem eher antimodernen, gegen die Industriegesellschaft gerichteten Reformimpuls getragen. Doch neue Ideen und Konzepte traten dazu in einen konstruktiven Wettstreit, so beispielsweise der interessante Ansatz des Reformpädagogen Ernst Kapff, dessen Abhandlung "Die Erziehungsschule" (1906) vor genau hundert Jahren erschien.
In diesem modernen Entwurf eines "Halbinternates" sind bereits wesentliche Elemente heutiger, avancierter Ganztagsschulen enthalten: "Dazu gehören die Gewährung eines Mittagessens, die Einführung einer Hausaufgabenbetreuung bzw. eines Förderunterrichts, die Gestaltung eines abwechslungsreichen Schullebens einschließlich intensiver Elternarbeit, der Einbezug handwerklicher Arbeiten in Werkstätten und im Garten und eine auf Öffnung der Schule hin angelegte Exkursionspädagogik, in deren Rahmen das natürliche, kulturelle, soziale und wirtschaftliche Umfeld der Schule durch regelmäßige Ausflüge und Unterrichtsgänge bildungsmäßig erschlossen werden soll", erläutert Ludwig in seiner historischen Abhandlung. Zur Stärkung der Selbstständigkeit dieses Schultyps wünschte sich Kapff eine größere Autonomie der Schule, die von der Schulgemeinde und nicht vom Staat in freier Trägerschaft und in Anlehnung an die englischen "School Societies" geführt werden sollte.
Schulische Innovationen, so das erste Fazit, entstehen als Lösungsansätze in einem sozio-ökonomischen Kraftfeld, sie brauchen begünstigende politische Rahmenbedingungen und soziale Gruppen mit Mut, die sich an die Veränderung statisch gewordener Systeme heranwagen. Im zweiten Teil der kurzen Geschichte der Ganztagsschule soll veranschaulicht werden, wie aus Ideen, die aus konkreten Situationen und Rahmenbedingungen entsprungen sind, erste Schritte zu einer lebendigen Ganztagsschule unternommen wurden.
Kategorien: Service
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