Edelgard Bulmahn in Rheinland-Pfalz : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

"Mit der Ganztagsschule erleben wir etwas, was in Deutschland ein Skandal ist, nämlich, dass etwas gelingt", sagte der Bildungsjournalist Reinhard Kahl auf dem "Rheinland-Pfalz-Abend". Was machen der Bund, was die Länder, damit die Ganztagsschulen gelingen? Ein Blick auf zwei Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz gibt darauf eine vorläufige Antwort.

Hier lesen Sie den ersten Teil der Ganztagsschultour der Ministerin durch Nordrhein-Westfalen

"Wollen wir die ganztägige Halbtagsschule, oder wollen wir Ganztagsschulen in rhythmisierter Form?", fragt Reinhard Kahl. Wo Kahl ist, lebt die Lust an kontroversen Debatten auf, die auch über den Tellerrand reichen.

Am frühen Abend des 5. Februar ist der Tross der Ganztagsschultour 2004 nach Bad Neuenahr-Ahrweiler aufgebrochen. Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung, hat zu einer Diskussionsrunde eingeladen. Doris Ahnen, Bildungsministerin von Rheinland-Pfalz und derzeitige Präsidentin der Kultusministerkonferenz, ist ebenso zugegen, wie Lehrer und Praktiker aus Neuwied sowie Boppard. Moderator der Diskussionsveranstaltung ist Reinhard Kahl. "Was also sind die Voraussetzungen für das Gelingen der Ganztagsschulen in Deutschland", fragt der Filmautor.

Ein Paradigmenwechsel für das deutsche Bildungssystem

"Wir haben einen Paradigmenwechsel im deutschen Bildungssystem geschafft ", antwortet Bundesministerin Edelgard Bulmahn. Der Bund mache mit dem Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" ein Angebot zur Entwicklung der Ganztagsschulen. Diese seien eine Antwort auf PISA: "Sie werden das deutsche Bildungssystem wieder in die internationale Spitze zurückführen."

Bildungsministerin Doris Ahnen hebt die Eigenständigkeit hervor, die jede Schule in Rheinland-Pfalz brauche, sobald sie sich auf dem Weg mache, Ganztagsschule zu werden: "Jede Schule, die mir sagt, wir lernen noch und hinterfragen unseren Weg, ist mir willkommen". Für Ahnen ist der Ausbau von Ganztagsschulen und die Schulentwicklung eine zusammenhängende bildungspolitische Aufgabe. 

Mehr Wirklichkeit im Ganztagsschulboot

"Wir sind froh, den Schritt zur Ganztagsschule gemacht zu haben", sagt Rektor Norbert Neuser von der Fritz-Strassmann-Schule in Boppard. Monat für Monat würden er, seine Lehrer und die außerschulischen Mitarbeiter neue, wichtige Erfahrungen machen. Dies bewirke eine fortschreitende Professionalisierung. Schule werde wieder ein akzeptierter Ort, wenn alle Beteiligten an ihrer Gestaltung mitwirken: "Bis auf zwei Kollegen sind alle im Ganztagsschulboot", sagt Neuser. 

Schülerinnen und Schüler der Hauptschule Remagen warten auf die Ministerinnen

Ganztagsschulen sind auch ein Spiegel der Gesellschaft, erinnert Regina Pies, Konrektorin der Hauptschule Remagen: "Es gibt Kinder, die froh sind, länger an der Schule bleiben zu können, weil sie zuhause geschlagen werden, oder weil ihren Eltern - aus Geldmangel - der Strom abgestellt wurde". Rektor Lothar Rosenmüller fügt hinzu: "Die Lehrer erleben die Kinder bis 16 Uhr in ihrer ganzen Realität."

Leben und Lernen ist in den Ganztagsschulen nicht mehr so künstlich zu trennen wie an den Halbtagsschulen. Hier erlebt man "mehr Wirklichkeit, die Wirklichkeit, die da ist", so Reinhard Kahl. Schule solle nicht nur lehren, sie solle als Institution auch beobachten: "Lehrer als Beobachter", ist die neue Formel in der Bildungsgrammatik für Kahl. "Mit der Ganztagsschule erleben wir etwas, was in Deutschland ein Skandal ist, nämlich, dass etwas gelingt."

Lehrer sollen Beobachter werden

Dass etwas gelingt, darf nicht als selbstverständlich genommen werden: "Kritischen Lehrern muss man besonders gut zuhören, denn die legen die Finger auf die Wunde", hebt Rektor Neuser hervor.

Damit die erforderliche Bildungsreform in der Bundesrepublik gelingt, hat der Bund eine entscheidende Weichenstellung vollzogen: "Es ist ungewöhnlich, dass wir vier Milliarden Euro zur Verfügung gestellt haben. Aber der gesellschaftliche Auftrag lautet, den Kindern die bestmögliche Bildung zu ermöglichen", so Edelgard Bulmahn.  

Rheinland-Pfalz ist Spitzenreiter vor allem beim Ausbau jenes Typs von Ganztagsschulen, die für Kahl das eigentliche bildungspolitische Ziel sind: den rhythmisierten Schulen. Die sind natürlich besonders teuer. Das Land bekommt dafür bis 2007 rund 198 Mio. Euro, aber es trägt auch die vollen Personalkosten. Bis 2006 sollen mit den Investitionsmitteln des Bundes die geplanten 300 neuen Ganztagsschulen ausgebaut werden.

Ganztagsschule schafft menschliche Beziehungen

Die vierte Station der Ganztagsschultour von Edelgard Bulmahn ist am Freitagmorgen die Hauptschule Remagen: Michel Sanya Mutambala, Percussionist und Leiter des Gospelchors Remagen und der Trommel AG an der Hauptschule Remagen, trommelt in der Ganztagsschule am Rhein. 

Michel Sanya Mutambala mit seiner Trommel-AG

"Die afrikanische Trommel schafft Beziehungen zwischen den Menschen", sagt Michel Mutambala. Mutambala hat heute mit seiner AG zwei Rhythmen gemischt: Agbwaya und Masamba.

"Eine tolle Trommelgruppe. Es hat mich kaum auf den Stuhl gehalten", würdigt Edelgard Bulmahn die beeindruckende Darbietung dieser AG. Alle Arbeitsgemeinschaften an der Schule zeigen der Ministerin an diesem Morgen kleine Kostproben ihres Könnens.

Der Grundrhythmus der Ganztagsschulen

Darum geht es vor allem: den Grundrhythmus und die vielen unterschiedlichen Rhythmen für die Ganztagsschulen in Deutschland herauszufinden. Denn Ganztagsschule kann packend sein, weil sie dem Rhythmus des Alltags und des Lebens folgt. Rhythmisierte Schulen aber sind der Endpunkt einer gelungenen Schulentwicklung. Dazwischen gibt es zahlreiche Abstufungen, wie zum Beispiel die Hauptschule Remagen und die Regionale Schule Boppard verdeutlichen.

Die Hauptschule Remagen ist eine Ganztagsschule in neuer Form, das heißt, wer nachmittags an den Angeboten teilnimmt, verpflichtet sich dazu ein Jahr lang. Die Schulleitung denkt darüber nach, im nächsten Schuljahr den rhythmisierten Ganztag auszuprobieren: "Wir wollen das von unten, von Klasse Fünf an, langsam aufbauen", sagt Rektor Lothar Rosenmüller. Voraussetzung dafür sind steigende Anmeldungen von Schülerinnen und Schülern und mehr verfügbarer Raum. 

"Von unten aufbauen"

An der Hauptschule Remagen nehmen im Schuljahr 2003/ 2004 von insgesamt 326 Schülerinnen und Schülern 182 an den Ganztagsangeboten teil. Bislang hat die Hauptschule Remagen 75 000 Euro aus Bundesmitteln für die Ausstattung von Räumlichkeiten und die Anschaffung von Gerät für die Nachmittags AGs erhalten. "Das Geld ist gut und intelligent angelegt", sagt Bundesministerin Edelgard Bulmahn. Die Kinder und Jugendlichen hätten ihr gesagt, dass sie besser lernen würden. Ohne das zusätzliche Engagement der außerschulischen Mitarbeiter - es gibt außer den 24 Lehrkräften 25 außerschulische - ist eine Ganztagsschule nicht durchzuführen. In den Arbeitsgemeinschaften dienstags und donnerstags gibt es neben musischen, künstlerischen und sportlichen Angeboten auch einen Babysitting-Kurs, eine AG "Starke Mädchen" oder eine AG Homepage. Dieter Dornbusch, der rheinland-pfälzische Landeselternvertreter, hebt die Bedeutung hervor, die das große Angebot an Arbeitsgemeinschaften mit sich bringe. Es lasse zudem mehr Zeit für die Berufsberatung und die Ausbildungsplatzsuche.

Doris Ahnen und Edelgard Bulmahn mit einer von den Kindern selbst gebauten Fernbedienung

Die außerschulischen Kräfte sind kein bloßer Anhang der Schule, sondern fester Bestandteil des Lehrerkollegiums: "Hier stimmt die Chemie. Es gibt keine außerschulischen Kräfte, sondern ein erweitertes Kollegium" bekräftigt Bildungsministerin Ahnen. Sie ergänzt: "Es hat sich bewährt, dass die Schulen vor Ort über die Gestaltung ihres Ganztagsangebotes entscheiden." Dahinter stecke eine bewusste Konzeption, denn wo sich die Eltern für eine Ganztagsschule entscheiden, beginne in Rheinland-Pfalz keine Testphase, sondern ein Schulentwicklungsprojekt. Für Rektor Rosenmüller ist das rheinland-pfälzische Modell deshalb "ein Einsteigermodell in die rhythmisierte Ganztagsschule".

Ein neues Bewusstsein schaffen

Den Einstieg in die Rhythmisierung strebt auch die Regionale Schule Boppard an: "Die Entwicklung dorthin ist doch vorgegeben", sagt Rektor Norbert Neuser. Dafür brauche die Schule aber noch eine Kantine, Aufenthaltsräumlichkeiten, eine Bücherei und ein Spielfeld für die Freizeit, fügt Neuser hinzu. In den rheinland-pfälzischen Regionalen Schulen können Hauptschul- und Realschulabschlüsse in Wohnortnähe angestrebt werden.

Derzeit gehen von 420 Schülerinnen und Schülern 150 in die additiven, also den Vormittagsunterricht ergänzenden Angebote. Diese Schüler könnten ohne weiteres in das rhythmisierte Schulleben überwechseln. Noch aber wartet Neuser auf die große Rate der beantragten Bundesmittel für die geplanten Umbau- und Erweiterungsmaßnahmen. Bislang hat die Schule 35.000 Euro aus dem Bundesprogramm erhalten. Aber auch das Bewusstsein der Lehrer müsse sich ändern, sagt Rektor Neuser: "Wir brauchen Lehrer, die ihre Klassen engagiert bis in den Nachmittag hinein betreuen."       

Ganztagsschulen, die gelingen wollen, brauchen Spielraum, weil sie im Rhythmus des Lebens stehen. Sie schaffen Beziehungen und Realitäten, die über die Schule hinausreichen. Die Ganztagsschultour von Edelgard Bulmahn in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hat gezeigt, wie unterschiedlich die Wege und wie einzigartig das Gesicht jeder Ganztagsschule ist. Und vor allem: dass sie ihren Rhythmus noch suchen.

 

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