Die Zeit der Pädagogen ist gekommen, Bad Boll, Teil1 : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Schmitt
Am 12. Mai 2003 wurde ein Meilenstein auf dem Weg zur Ganztagsschule zurückgelegt: Die Unterzeichnung der Verwaltungsvereinbarung zum Investitionsprogramm Zukunft Bildung und Betreuung durch Bund und Länder. Auf den Tag genau ein Jahr darauf begann die Evangelischen Akademie Bad Boll ihre dreitägige Fachtagung "Ganztagsschule - Ganztagsbildung" - der perfekte Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz über bereits Erreichtes und den Ausblick auf bestehende Herausforderungen.
"Ganztagsschule - Ganztagsbildung: Politik - Pädagogik - Kooperation" war die Fachtagung überschrieben, zu der sich Politiker, Pädagogen und außerschulische Kooperationspartner vom 12. bis 14. Mai in Bad Boll bei Göppingen einfanden, um sich über den Stand der Dinge in Sachen Ganztagsschule zu informieren und auszutauschen. Drei Jahre zuvor hat die PISA-Studie die Schieflage der deutschen Bildungspolitik schmerzlich deutlich gemacht und alle Beteiligten zu der Erkenntnis gebracht, dass es so nicht weitergehen konnte. Eine Antwort darauf ist unter anderem das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB), das sich just am 12. Mai erstmals jährte - "ein Baustein neben anderen für eine neue Bildungspolitik", wie es Hans Konrad Koch, Leiter der Unterabteilung Bildungsreform im Bundesministerium für Bildung und Forschung, auf der Tagung formulierte.
Pädagogik und Politik sind kaum zu trennen
Fast alle namhaften Protagonisten, die um diese neue Bildungspolitik und den Ausbau von Ganztagsschulen ringen, kamen ins baden-württembergische Bad Boll, um miteinander zu diskutieren. Hier fand ein "Wandel durch Annäherung" statt: Annäherung unterschiedlicher Professionen wie der Schule, der Jugendhilfe, der Wissenschaft und weiterer außerschulischer gesellschaftlicher Gruppen, Verbände und Vereine. Annäherung auch verschiedener politischer Positionen. "Pädagogik und Politik sind kaum zu trennen", konstatierte Thilo Pfitzner von der Evangelischen Akademie bei der Begrüßung.
Die Verbindung von Pädagogik und Politik und den Willen zur Annäherung spiegelten sich auch in den Grußworten wider, die von zwei Landesministerinnen gehalten wurden: Annette Schavan, der Kultusministerin Baden-Württembergs, und die rheinland-pfälzische Bildungsministerin und KMK-Präsidentin Doris Ahnen. "Wir haben ein gemeinsames Anliegen", so Schavan, "wir wollen konzeptionelle Impulse zur Stärkung von Bildung, Erziehung und pädagogischen Anstößen geben. Die Zeit der Pädagogen ist gekommen. Ein bisschen der Aufbruchstimmung der Reformpädagogik zu Beginn des 20. Jahrhunderts würde uns gut tun. Dafür wollen wir werben."
In der gesellschaftlichen Ansicht habe sich bereits in einem Punkt etwas Fundamentales verändert: "Es wird anerkannt, dass frühes Lernen notwendig ist und die frühen Lebensjahre besonders geeignet zum Lernen sind." Bei den angegangenen Veränderungen ist laut Frau Schavan allerdings ein "langer Atem nötig": "Es geht nicht alles auf Knopfdruck." Wichtig sei ein anderer Umgang mit Zeit in der Schule, die in den letzten 30 Jahren immer weniger Zeit bekommen habe, und ein Schulklima, in dem Kinder ernst genommen würden: "Niemand darf zum Modernisierungsverlierer werden, und keiner soll seine Talente zurückstecken müssen. Jede Schule sollte eine kleine Zukunftswerkstatt sein." Schulen müssten dabei selbst entscheiden können. "Der Prozess zu selbstständigen Schulen ist nicht aufzuhalten", zeigte sich die Ministerin überzeugt.
In Baden-Württemberg gebe es laut Schavan bereits an 20 Prozent aller Schulen Ganztagsangebote. "Diese Akzeptanz kommt durch Freiwilligkeit", machte Annette Schavan klar, dass sie nichts von einer flächendeckend eingeführten, für alle Schülerinnen und Schüler verpflichtenden Ganztagsschule hält.
Pädagogisches Konzept entscheidend
Doris Ahnen schloss sich dem an: "Entscheidend ist für mich nicht die Form einer Ganztagsschule, sondern allein ihr pädagogisches Konzept. Es gibt keinen Königsweg, sondern nur ein Bündel von Maßnahmen. Klar ist, dass ein Mehr an Zeit die Chance für einen erweiterten Kompetenzerwerb bietet." Rheinland-Pfalz gehe einen Zwischenweg: "Bei uns können sich Kinder und Jugendliche für die Ganztagsangebote freiwillig anmelden, dann allerdings verpflichtend für ein ganzes Schuljahr."
Die Schule ist Frau Ahnen zufolge nicht länger nur Lern-, sondern zunehmend auch Lebensraum, wo auch Sozialkompetenz und Teamfähigkeit gelehrt würden. Dabei gestalteten die Schülerinnen und Schüler ihre Schulen mit und hätten ein Recht auf Individuelle Förderung. Besonders wichtig sei dabei die Kompetenz, die von außen komme. Insgesamt sei man in Rheinland-Pfalz auf dem richtigen Weg, wie auch eine neue Umfrage unter Eltern von Ganztagsschulkindern zeige, die demnächst veröffentlicht werde: "Die Akzeptanz hat sich noch mal erhöht", versicherte die KMK-Präsidentin.
"Der Ausbau von Ganztagsschulen ist ein auf Jahre angelegtes Schulentwicklungsprojekt", so Frau Ahnen, "bei dem uns das IZBB sehr hilfreich ist. Auf diesem Weg können auch Fehler und Irrtümer passieren, aber mir ist es lieber, dass eine Schulleitung mir mitteilt, dass sie etwas ausprobiert haben, es aber nicht fortsetzen, weil es nicht funktioniert hat, als dass mit untauglichen Mitteln weitergearbeitet wird. Auch gute Konzepte kann man korrigieren."
Ein Sog hin zu Ganztagsschulen
Eine "attraktive Bereicherung" der Schulen durch Ganztagsangebote erwartet Staatssekretär Wolf-Michael Catenhusen, der über den "Gemeinsamen Beitrag von Bund und Ländern zur Bildungsreform" sprach: "Wir setzen große Hoffnungen auf diese Entwicklung." Im Schuljahr 2004/2005 gingen 3.000 neue schulische Ganztagsangebote an den Start, eine Steigerung von 64 Prozent gegenüber 4.841 Ganztagsschulen, die in der jüngsten KMK-Statistik verzeichnet wurden. Kein Land könne sich dieser Entwicklung entziehen: "Ein Sog ist ausgelöst worden." Wichtig seien in diesem Prozess die "starke Einbeziehung der Eltern, ein Konzept zur vernetzten Begleitforschung und die Änderung der Lehrerausbildung". Letzteres unterstützte auch Doris Ahnen: "Wir müssen in der Lehrerausbildung weg vom Fachwissen hin zur Pädagogik. Wir legen bislang zu wenig Wert auf die Bildungswissenschaften wie Diagnostik, Pädagogik und Didaktik."
Bei den anschließenden Fragen aus dem Publikum wurden auch Zweifel deutlich. "Reicht schon ein Ganztagsschulzweig aus, um eine Schule als Ganztagsschule zu definieren?", fragte Bernhard Teich vom Amt Kinder und Jugend in Saarbrücken, und Klaus Hummel von der Burgschule Esslingen kritisierte die "Verwässerung" des Ganztagsschulbegriffs. Ministerin Ahnen widersprach: "Wir sollten Ganztagsschulen nicht über Kleinklein definieren. Wir brauchen unterschiedliche Rahmenbedingungen, um zu gleichen Ergebnissen zu kommen."
Als eine notwendige Rahmenbedingung sah allerdings Dr. Wolfgang Harder, der Vorsitzende der Vereinigung Deutscher Landerziehungsheime, die gebundene und verpflichtende Form der Ganztagsschule. In seinem Vortrag "Du musst dein Leben ändern...oder?" gab er seiner Befürchtung Ausdruck, dass Ganztagsschulen sonst die "dauerhafte Abstempelung als Institution für Schwache" drohe. Sie seien aber kein "Reparaturbetrieb".
In Ganztagsschulen müssten sich die Lehrerrollen vom Einzelkämpfer zum Teamarbeiter und vom Nur-Lehrer hin zum Auch-Erzieher wandeln, was auch die Berufszufriedenheit erhöhen werde. Die unterschiedlichen Phasen eines Ganztagsschultages müssten in sinnvoller Balance gehalten, ein alltagsgerechter Erfahrungsraum geschaffen und Kinder als ganze Persönlichkeiten erkennbar werden. "In einer Ganztagsschule wird das Wegschauen erschwert und die Werteorientierung erleichtert", so Harder.
Gesundheitsgefährdende Halbtagsschulen
Prof. Dr. Ulrich Herrmann vom Seminar für Pädagogik der Universität Ulm forderte in seinem Beitrag "täglich ganztägig" ein Ende der Halbtagsschule mit ihrer Trennung von "Lehrertätigkeit am Vormittag und Schülerarbeit am Nachmittag" und ihrem "Sackhüpfen durch den Vormittag", der Stress für alle Beteiligten bringe. "Die Halbtagsschule produziert kein nachhaltiges Wissen. Sie ist ineffektiv, aber sehr effizient: Laut PISA-Studie erreichen 20 Prozent der Schülerschaft keinen berufstauglichen Abschluss. Sie ist eine gesundheitsgefährdende Schule: Fast kein Lehrer erreicht die Pensionsgrenze, und unsere Kinder füttern wir mit Ritalin", so das harte Urteil des Wissenschaftlers. Nur ein "Mehr an gemeinsamer Zeit" ermögliche weniger Burnout-Syndrome bei Lehrern, mehr Interesse füreinander und bessere Ergebnisse. Mit der Ganztagsschule könne man an Konzepte anknüpfen, die schon im Kaiserreich durch Reformpädagogen wie Hermann Lietz erprobt worden seien.
Dass es im Ausland bereits erfolgreich arbeitende Ganztagsschulen gibt - und das nicht nur in den "üblichen verdächtigen" Ländern - machten Gäste aus Russland und Italien deutlich. Elena Dubova und Soja Kassatkina berichteten von der Moskauer "Schule der Selbstbestimmung", an der fächer- und altersübergreifendes Lernen mit freier Zeiteinteilung ebenso auf der Tagesordnung stehen wie Projektwochen, in denen sich die ganze Schule in einen Staat verwandelt, den die Schülerinnen und Schüler mit eigener Währung, Gesetzen und Institutionen organisieren müssen. Hiernach verstünden die Kinder mehr von Wirtschaft als so mancher Erwachsene. In der Schule gebe es keine scharfe Grenze zwischen Leben und Lernen, und je reicher das Schulleben sei, desto mehr Möglichkeiten gebe es, die Schüler einzubeziehen. Als Voraussetzung müssten sich auch die Lehrerinnen und Lehrer ändern und Kinder als Subjekte der Bildung sehen und sich entfalten lassen.
Gerwald Wallnöfer, Dekan der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Freien
Universität Bozen, erläuterte die "pädagogische Kontinuität" der Ganztagsschulen in Italien, die nicht nur das kognitive Lernen, sondern auch Aktivitäten in sozialen, künstlerischen und sportlichen Bereiche umfassten. "Die Lehrer arbeiten hier in Teams von vier Lehrern für zwei Klassen und können ihre Schwerpunkte selbst setzen. Dies wird bereits in der Ausbildung vermittelt", so Wallnöfer. Die Inhalte seien daher flexibel, es gebe Lernwerkstätten und Interessengruppen an den pädagogisch und finanziell autonomen Schulen. Allerdings gebe es auch in Italien Diskussionen um das Thema "Wie sollen Kinder aufwachsen?"
Den zweiten Teil unseres Berichtes über die Ganztagsschultagung in Bad Boll lesen Sie hier.
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