Die Weisheit der Vielen - Teil 2 : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Theorie und Praxis - der Jubiläumskongress des Ganztagsschulverbandes in Frankfurt am Main bot beides: PISA-Koordinator Andreas Schleicher präsentierte seine Folgerungen aus der PISA-Studie für die Verbesserung der Bildungslandschaft in Deutschland und die Idee der Ganztagsschule. Bei einem Schulbesuch an der Frankfurter Gesamtschule Friedrich-Ebert-Schule, der ältesten Ganztagsschule der Bundesrepublik, wurde deutlich, dass es selbst hier noch Anstrengungen bedarf, um dem Ideal nahe zu kommen.
Was unterscheidet eine Ganztagsschule von einer Halbtagsschule? Die Möglichkeiten, in Ganztagsschulen Wissen zu vernetzen, statt lediglich Fachwissen zu reproduzieren, sind größer. Vor dem Hintergrund der PISA-Studien ist diese Akzentverschiebung nicht zu vernachlässigen. Die fachlichen Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler sind im internationalen Vergleich gut, doch die Schwierigkeiten stellten sich in den PISA-Tests dann ein, als Fachwissen auf Alltagsprobleme angewandt werden sollte. Mit mehr Zeit und Raum können Ganztagsschulen den notwendigen Wissenstransfer lebensnah und damit intensiver gestalten. "In Halbtagsschulen ist zu wenig Zeit für dieses lebensbegleitende Lernen", meint Andreas Schleicher. "Neun von zehn Schülern finden keinen Platz mehr in der Industriegesellschaft. Schulen müssen den Horizont junger Menschen erweitern, damit diese auf zukünftige Herausforderungen reagieren können."
Der Leiter der Abteilung Bildungsindikatoren und Analysen bei der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) war der prominenteste Vortragsredner auf dem Bundeskongress des Ganztagsschulverbandes. Als strategischer Kopf und Koordinator des "Programme for International Student Assessment" (PISA) zog Schleicher die Ergebnisse dieser internationalen Vergleichsstudie bei seinem Vortrag "Gestaltung der Ganztagsschule im internationalen Vergleich" immer wieder zu seinen Ausführungen heran.
Andreas Schleicher
Eine Einsicht, die man nach Ansicht des Wissenschaftlers der Studie entnehmen kann, ist die Erkenntnis, dass den einzelnen Schulen mehr Eigenverantwortung zugestanden werden muss, denn gerade Bildungssysteme mit hoher Schulautonomie hätten bei PISA die besseren Ergebnisse erzielt: "Schule muss selber zu einer Lernorganisation werden und auf die Schülerschaft abgestimmte Lernpläne entwickeln und nicht auf Impulse von oben setzen."
Bei Ganztagsschulen komme es entscheidend darauf an, ihre Freiräume und Möglichkeiten durch neue pädagogische Konzepte so zu nutzen, dass der unselige Zusammenhang zwischem schulischem Erfolg und sozialem Hintergrund überwunden werden könne. Das heiße nicht, dass man eine Leistungsnivellierung nach unten betreiben solle: "Den Horizont von Kindern zu beschränken, verstärkt die Chancenungleichheit", warnte Schleicher, "wir müssen Kinder mehr fordern."
Dieses Fordern erreicht man dem PISA-Koordinatoren zufolge durch individualisiertes Lernen und eine späte Selektion. "Wir müssen uns eingestehen, dass unser gegliedertes Schulsystem diese sozialen Ungleichheiten verstärkt. Das Sitzenbleiben ist eine der ineffektivsten Lösungen, die man sich denken kann. Sie ist sehr teuer und bringt kaum Leistungssteigerungen", fügte Schleicher hinzu. Während die Leistungsvarianz in Deutschland um 50 Prozent auseinanderklaffe, schwanke sie in Finnland nur um fünf Prozent. Dort komme man ohne frühes Aufteilen auf Schulformen und ohne Sitzenbleiben aus, statt dessen pflege man die Philosophie, sich um jede Schülerin und jeden Schüler zu kümmern. "Dazu braucht man den geeigneten Ort und viel Zeit, daher ist eine Ganztagsschule ideal", folgerte Schleicher.
Ganztagsschulgründung wegen der sozialen Herausforderung vor Ort
Neben der Theorie kam auch auf dem diesjährigen Kongress die Praxis nicht zu kurz: Am zweiten Tagungstag konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Ganztagsschulen in der Umgebung besuchen, um sich von den dort angewandten Konzepten selbst ein Bild zu machen und Probleme und Innovationen schildern zu lassen. Eine besondere Schule war dabei die Friedrich-Ebert-Schule in Frankfurt-Seckbach, denn die Gesamtschule ist die erste Ganztagsschule der Bundesrepublik: Am 25. Februar 1956 wurde dort ein Schulversuch mit Nachmittagsbetreuung mit 87 Kindern begonnen. Der Ganztagsbetrieb wurde damals aufgenommen, um auf die soziale Herausforderung durch die so genannten Schlüsselkinder zu reagieren. Da oft beide Eltern berufstätig waren, waren diese Kinder am Nachmittag auf sich allein gestellt. In der Friedrich-Ebert-Schule betreuten Erzieherinnen die Kinder bis 18 Uhr. Bereits 1965 war die Nachfrage nach der Ganztagsbetreuung dann so groß, dass keine Halbtagsschüler mehr aufgenommen wurden. 1976 wurde die bisherige Haupt- und Realschule zur Gesamtschule. Seit 1993 ist die Friedrich-Ebert-Schule eine Integrierte Gesamtschule (IGS).
Die Friedrich-Ebert-Schule in Frankfurt-Seckbach. Helga Artelt (r.) und Klaus Becker begrüßten die Besucher
Heute besuchen 532 Schülerinnen und Schüler die vierzügige Schule, deren Gebäude 1930 erbaut und 2000 im Zuge einer Asbestsanierung entkernt und neu gestaltet wurde. 56 Lehrerinnen und Lehrer und 17 Honorarkräfte sind hier tätig. Die Erfahrungen mit den Honorarkräften sind laut Klaus Becker, dem Leiter des Ganztagsbereiches, gut: "Die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Kollegium ist da, wir müssten uns aber häufiger sehen. Momentan halten wir einmal im Halbjahr eine Sitzung mit allen Honorarkräften ab."
Die Bibliothek (l.) und der Clubraum der Friedrich-Ebert-Schule
An vier Wochentagen können die Kinder und Jugendlichen bis um 15.40 Uhr Unterricht und Arbeitsgemeinschaften wahrnehmen, die sie in den unteren Jahrgangsstufen für ein Vierteljahr und später für ein Halbjahr verpflichtend wählen. Diese umfassen zum Beispiel Dichten und Malen am Computer, Fußball, Basketball, Seidenmalerei, Computerkurse, Tischtennis, Chor und Videofilmen. In den Klassen fünf bis sieben verpflichten sich die Kinder für drei Nachmittage, ab der achten Klasse besteht keine Verpflichtung. In der zehnten Klasse findet an drei Nachmittagen Unterricht statt.
Von der Differenzierung zur Individualisierung
Schulleiterin Helga Artelt und Klaus Becker führten die Besuchergruppe durch das Gebäude und zeigten die Ganztagslokalitäten: In der Mittagspause können die Jugendlichen im Clubraum Billard spielen, die jüngeren Schülerinnen und Schüler einen Snack im selbstorganisierten Schülercafé essen, am Bauwagen auf dem Schulhof Spiele ausleihen, in der Bibliothek ein Buch lesen, im Internetcafé oder am PC sitzen oder sich in der Turnhalle sportlich betätigen.
"Ganztagsschule ist keine hinreichende Begründung für eine gute Schule", stellte Rektorin Artelt klar. "Wir bemühen uns auch, mit kleinen Schritten von der Differenzierung zur Individualisierung zu kommen. Außer Religion und Ethik wird alles im Klassenverband unterrichtet und eine innere Differenzierung nur in Deutsch, Englisch und Mathematik vorgenommen." Sitzenbleiben gibt es nicht.
Die Mensa der Friedrich-Ebert-Schule (l.). Klaus Becker zeigt der Besuchergruppe den Mathematik plus-Raum.
Mit dem Konzept des "Lernzeit"-Buches, das individuell abgestimmte Aufgaben für die Schülerinnen und Schüler vorhält, werden die Kinder auch zur Selbstreflexion angehalten. Mit einfachen Symbolen müssen sie hier eintragen, was ihnen am Unterricht gut und weniger gut gefiel und an welchen Stellen sie glauben, noch Hilfe zu benötigen. "Es ist eine Mischung aus Lerntagebuch und Wochenplan", erläuterte die Rektorin. "Die innere Differenzierung ist sehr schwierig. Wir versuchen, diese durch das Lernzeit-Buch und die verstärkte Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegen zu erreichen."
Bestehende Trennung im Kopf zwischen Unterricht und Freizeit
Die Friedrich-Ebert-Schule arbeitet eng mit der Jugendhilfe zusammen und führt im neunten Jahrgang einen Betriebstag durch. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten dann jeden Mittwoch sechs Stunden lang als Praktikanten in einem von ihnen ausgesuchten Betrieb, um die Arbeitswelt über einen längeren Zeitraum zu erleben und sich über ihre eigenen Berufsvorstellungen ein Bild zu machen. Über 100 Frankfurter Betriebe arbeiten mit der Schule zusammen. Die Palette reicht von Konditoreien, Autowerkstätten, Einzelhandelsfilialen, Friseursalons, Tierschutzheimen, sozialen Einrichtungen, Architekturbüros, Apotheken, Rechtsanwaltskanzleien, Arztpraxen, Banken, Optiker bis hin zum Frankfurter Flughafen. Der Betriebstag fördert die Berufsreife und das Selbstwertgefühl aller Praktikanten, so dass laut Klaus Becker auch schulmüde Schülerinnen und Schüler wieder Lust am Lernen haben.
"Die Rhythmisierung ist ein Problem": Der Stundenplan der Friedrich-Ebert-Gesamtschule
Ein Problem zeigt sich beim Blick auf den Stundenplan: Das Ganztagsmodell der Friedrich-Ebert-Schule sieht nach einem additiven aus: Morgens findet der Unterricht statt, nachmittags die Arbeitsgemeinschaften und andere Kurse wie soziales Lernen, gruppendynamische Übungen oder Klassenrat. Helga Artelt gibt zu: "Die Rhythmisierung ist nicht gut gelöst. Es gibt immer noch diese Trennung im Kopf zwischen anstrengendem Unterricht und erholsamer Freizeit. Viele Schüler nehmen unsere Förderangebote wie Mathematik plus nicht wahr, weil diese am Nachmittag angehängt werden. Die Bindung an die Ganztagsschule ist schwach, wenn der Unterricht endet. Unser Ziel ist eine bessere Rhythmisierung, aber mit den vorhandenen Ressourcen ist dies schwierig." Auch daher plädiere sie für das Präsenzarbeitszeitmodell mit 35 Stunden Anwesenheit der Lehrerinnen und Lehrer in der Schule.
Heinz Günter Holtappels informierte über den Stand der StEG-Studie (l.). Rechts der Blick ins Plenum.
Neben den lokalen Beispielen gab der Ganztagsschulkongress auch Einblicke in die Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern. Zusätzlich zu den bundeslandbezogenen Praktikergesprächen fand der von Ulrich Rother, Stellvertretender Vorsitzender des Ganztagsschulverbandes, moderierte Gesprächskreis der Schulaufsicht und der Ministerien statt. Hier stellte Prof. Heinz Günter Holtappels vom Institut für Schulentwicklungsforschung den Stand der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) vor, die in 14 Ländern an 385 Schulen durchgeführt worden ist. Die Rücklaufquoten der Fragebögen sei zufrieden stellend gewesen. Nun könne die Auswertung zu Fragen der Ausgangsbedingungen, der Vorgehensweise in der Gründungsphase, der Entwicklungsstände in der Qualität der Ganztagsschulen, den Organisationsmodellen, der Schülerzusammensetzungen und der Teilnehmerstruktur sowie dem Entwicklungs- und Unterstützungsbedarf beginnen. Erste Ergebnisse sollen Holtappels zufolge Ende März 2006 vorliegen.
Hier können Sie den ersten Teil unserer Reportage über den Ganztagsschulkongress lesen!
Kategorien: Service
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