Die Weisheit der Vielen - Teil 1 : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg
Durch eine konzentrierte Anstrengung können sich Schulen schneller verändern: In den vergangenen zwei Jahren sind tausende von Ganztagsschulen entstanden, und die Akzeptanz dieser Schulform ist enorm gewachsen. Auf dem Jubiläumskongress des Ganztagsschulverbandes vom 2. - 4. November 2005 zum 50-jährigen Bestehen wurde aber auch deutlich, wie stark die deutsche Reformpädagogik diesen Prozess beeinflusst.
Die Öffentlichkeit nimmt Ganztagsschulen als ein bildungspolitisches Phänomen der letzten Jahre wahr, eine Antwort auf die Ende 2001 veröffentlichte erste PISA-Studie. Dass diese Schulform in Deutschland indes eine viel längere Tradition hat, wurde am Abend des 3. November 2005 in Frankfurt am Main deutlich. Im Kaisersaal des Römers veranstaltete die Stadt Frankfurt einen Empfang anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Ganztagsschulverbandes.
Oberbürgermeisterin Petra Roth hielt die Laudatio und begrüßte die Ortswahl des Bundeskongresses zum 50-jährigen Bestehen: "In Frankfurt sind sich alle Ratsfraktionen einig darin, dass der Ganztagsschulausbau das richtige Mittel auf dem Weg zur familienfreundlichen Stadt ist. Ich selbst plädiere seit 35 Jahren für die Ganztagsschule, die Frauen hilft, Familie und Beruf zu vereinbaren."
Die Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth bei ihrer Ansprache im Kaisersaal des Römers
Der Bundesvorsitzende des Ganztagsschulverbandes Stefan Appel versprach den rund 350 Festgästen: "Wir wollen weiter für die Idee der Ganztagsschule werben, so dass sich unser Verband in 50 Jahren auflösen kann."
Dass die Idee der Ganztagsschule in Deutschland weiter als bis ins Jahr 1955 zurückreicht, machte schon die Überschrift des dreitägigen Kongresses im Haus des Landessportbundes deutlich: "Ganztagsschule als kreatives Feld - Reformpädagogischer Ansatz - Praxiserfahrung - Innovation". Die Vorträge wiesen auf die Bedeutsamkeit der Reformpädagogik in Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Prozess der Ganztagsschulidee und der Gründung des Verbandes in den fünfziger Jahren hin.
1904 eröffnete die erste Ganztagsschule Deutschlands
Prof. Harald Ludwig führte in seinem Beitrag "Ganztagsschule und Schulreform - die Entwicklung der modernen Ganztagsschule in der Bundesrepublik" aus, dass sich die Halbtagsschule erst Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland im Gegensatz zu den angelsächsischen Ländern durchsetzte. Die Idee einer Schule, die "nicht nur Stundenvermehrung, sondern auch Jugendpflege, Gruppenpädagogik, Mittagessen und Mittagsruhe, Sport und Spiel, Werkstatt, Labor und Bibliothek, Initiative der Schüler" einbinden und ein "Ort jugendgemäßen Lebens und Arbeitens" sein sollte, wurde bereits durch Reformpädagogen vertreten und führte 1904 zur Gründung der Waldschule in Charlottenburg, der ersten Ganztagsschule. Einen Schub durch Neugründungen offizieller Ganztagsschulen fand in den zwanziger Jahren statt. Pläne zur weiteren Ausweitung wurden durch die Nationalsozialisten verhindert.
Stefan Appel (l.) und Harald Ludwig
Viele Reformpädagogen mussten fliehen und bekamen im Exil weitere Anregungen, zum Beispiel zur Öffnung der Schule nach außen durch das Erkunden der Umgebung. Diese Reformpädagogen waren dann maßgeblich an der Gründung des Ganztagsschulverbandes beteiligt und knüpften an die Ideen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an.
"Ganztagsschule sollte nicht nur Methoden und Organisation verändern, sondern auch neue Inhalte einbringen, die auf das Können der Kinder ausgerichtet waren", erläuterte der Erziehungswissenschaftler. "Der Lehrer ist hier nicht nur Wissensvermittler, sondern auch ein Helfer bei der Lebensbewältigung der Kinder. Die Schüler sollten in einer Ganztagsschule leben lernen." Ludwig zufolge hat die gesellschaftspolitische Entwicklung der letzten Jahrzehnte die Einführung der Ganztagsschulen noch dringlicher werden lassen; das zusammenwachsende Europa werde dies noch verstärken.
Schatz der Reformpädagogik mit Verzögerung gehoben
Der Ganztagsschulverband hat seinen Anteil an der Weiterentwicklung der Ganztagsschulidee. Stefan Appel stellte in seiner Begrüßung allerdings auch heraus, dass "das Bundesbildungsministerium die Instanz ist, welche die ganztägige Bildung mit Hilfe des Investitionsprogramms 'Zukunft Bildung und Betreuung' (IZBB) vorantreibt."
Wolf-Michael Catenhusen, Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung, bezog sich in seinem Grußwort ebenfalls auf die "Tradition der Reformpädagogik", "einen Schatz, der mühsam und mit Verzögerung gehoben wird". Durch die PISA-Testergebnisse sei Schwung in die Bildungsdebatte in Deutschland gekommen und das Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung" (IZBB) zum richtigen Zeitpunkt gestartet worden, um die Ganztagsschulbildung zu beschleunigen. "Dabei hat es nicht nur bauliche Veränderungen gegeben - Ganztagsschulen stehen auch für eine moderne Pädagogik. Sie sind ein kreatives Feld, auf dem die individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Hilfe von Förderplänen praktiziert werden kann, Platz für Begegnung und soziales Lernen und das Lernen voneinander ist und eine Verzahnung von Unterricht und Freizeit gelingt." Die verbesserten Ergebnisse bei PISA II zeigten, dass "konzentrierte Anstrengungen Schulen schneller als gedacht verändern können".
Wolf-Michael Catenhusen
Laut Catenhusen hat die Ganztagsschulentwicklung "Fahrt aufgenommen, ist aber noch kein Selbstläufer": "Wir haben aber die Chance, durch gute Ganztagsschulen diese Schulform zu etablieren." Bedenke man die früheren Umfragen und verbreitete Skepsis gegenüber dem Begriff "Ganztagsschule", seien die Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage "eine kleine Revolution": "Inzwischen befürworten 80 Prozent der Eltern Ganztagsschulen."
Ganztagsschulen sind zur Selbstverständlichkeit geworden
Nicht nur Stefan Appel wollte von Staatssekretär Catenhusen wissen, ob das Investitionsprogramm der Bundesregierung verlängert werde. Die Frankfurter Stadträtin Jutta Ebeling richtete den "dringenden Appell" an die künftige Bundesregierung, einen Schwerpunkt in der Bildung zu setzen und das IZBB fortzuführen. Catenhusen stellte klar "Die bis Ende 2007 zugesagten Mittel bleiben bestehen, ich bin aber skeptisch, ob es darüber hinaus zusätzliche geben wird. Die aus der Föderalismuskommission bekannt gewordenen Ergebnisse würden es für die Zukunft unmöglich machen, dass der Bund nochmals in diesem Rahmen tätig wird."
Die hessische Kultusministerin Karin Wolff konstatierte in ihrem Grußwort: "Zu Beginn der fünfziger Jahre war die Ganztagsschulidee im staatlichen Bildungssystem nicht sehr verwurzelt, heute sind Ganztagsschulen zu einer Selbstverständlichkeit geworden." Neben der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sei diese Schulform "auch im Interesse der Kinder selbst - die soziale Situation vieler Kinder und Jugendlicher macht die Ganztagsschule notwendig."
Über die "Aufbewahrungsschule schwieriger Kinder" sei man schon weit hinaus, meinte die Ministerin, doch werde das Verweben von Lern- und Lebensorten von manchen Trägern "noch nicht effizient genug" umgesetzt. "Es ist notwendig, dass sich jede Schule ihr eigenes Profil gibt und auch nicht nur Lehrer in einer Ganztagsschule tätig sind, sondern auch Personal von außen in die Schulen hineingeholt wird." Ganztagsschulen müssten Anreize zur Verselbstständigung der Jugendlichen schaffen.
Von der Schornstein- zur Wissensgesellschaft
"Nach Jahren der Stagnation in der Bildungspolitik geht die Post ab - es wird nicht nur nachgedacht, sondern auch umgesetzt", leitete Prof. Olaf-Axel Burow seinen Vortrag "Ganztagsschule als kreatives Feld" ein. "Zu lange sind wir im tradierten System der Unterrichts- und Belehranstalt der Schornsteinwirtschaft hängen geblieben, jetzt aber ist die Zeit der Wissensgesellschaft angebrochen." Der Erziehungswissenschaftler der Universität/Gesamthochschule Kassel sah die Ganztagsschule als Chance für neue Lernarrangements, die vor Ort flexibel und am Rhythmus der Schülerinnen und Schüler orientiert entwickelt werden könnten: "Ganztagsschulen bieten die Möglichkeit zu experimentieren."
Karin Wolff (l.) und Olaf-Axel Burow
Burow plädierte für die Einbeziehung möglichst vieler Gruppen in den Schulalltag und die Partizipation der Kinder und Jugendlichen an Entscheidungen. Der Wissenschaftler bezog sich dabei auf die Forschungsergebnisse des so eben auf deutsch erschienen Bandes "Die Weisheit der Vielen". Der US-Wirtschaftsjournalist James Surowiecki weist hier nach, dass Gruppen zu besseren Problemlösungen kommen als Einzelne. "Je bunter die Gruppe, desto korrekter die Problemlösung", fasste Burow die Erkenntnisse zusammen. "In uns allen ist mehr Weisheit, als wir glauben. Eine erfolgreiche Ganztagsschulentwicklung muss dieses im Feld vorhandene Wissen freisetzen und nutzen."
Hilfreich könne dazu die Methode der Mobilen Zukunftswerkstatt sein, wie sie unter anderem im Rahmen des DKJS-Begleitprogramms "Ideen für mehr! Ganztägig lernen" von der Servicestelle Jugendbeteiligung durchgeführt wird. In Kritik-, Visions- und Umsetzungsphasen könnten Schülerschaft, Schulleitung, Kollegium, Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie außerschulische Partner ihr Wissen einbringen und gemeinsam eine bessere Schule planen.
"Kreativität gibt es nur im Plural"
"Autonomie und Partizipation sind dabei die Schlüsselbegriffe", so Burow. "So etwas funktioniert allerdings nicht in hierarchischen Systemen. Ganztagsschulen brauchen ein neues Führungsmodell mit großer Meinungsvielfalt, Unabhängigkeit der Einzelnen, dezentraler Ordnung und einer effektiven Bündelung der Meinungen. Duckmäusertum ist Gift, jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin beim Aufbau des Hauses des Wissens muss gleichberechtigt sein. Jeder Beitrag ist wichtig." Die Effektivität des Feldes ergebe sich durch die Kreativität der Einzelnen.
"Wir brauchen keine Erlasse und Verordnungen", forderte der Erziehungswissenschaftler, "sondern die Ermutigung aller Beteiligten, ihre Ideen einzubringen. Kreativität gibt es nur im Plural." Eine zu starke Normierung schwäche die Kreativität, Ganztagsschulen müssten offene Gestaltungsräume und einen angenehmen Lebensraum bieten. "Ganztagsschulen müssen die Einheit von Wissen, Können und Sein anstreben", bezog sich auch Burow auf die Ziele der Reformpädagogik. Wie Wolf-Michael Catenhusen sah er die Ganztagsschule als eine Möglichkeit, soziale Diskriminierung zu überwinden.
"Leben und Lernen müssen Sinn machen und Erfüllung bringen - das erreicht man nicht durch ständige Seitenblicke auf Messbares und durch Halbbildung", resümierte Olaf-Axel Burow. "Schüler sind keine Produkte, sondern sie entwickeln sich durch eigene Dynamiken. Der Schlüssel zum Erfolg ist die Einsicht in begrenzte Begabungen."
Hier können Sie den zweiten Teil unserer Reportage über den Ganztagsschulkongress lesen!
Kategorien: Service
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