Die Schulreise: Autonomie und Kompetenz erfahren : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Am zweiten Tag der Tagung "Individuelle Förderung in heterogenen Lerngruppen", die am 10. und 11. Oktober 2008 in der Universität Würzburg stattfand, wurde das Dialogische Lernmodell vorgestellt: In einem dialogischen Prozess von Verstehen und Verständigung kann die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern gelingen. Lernjournale, Portfolios und Lerndokumentationen bringen Vorteile für Schüler wie Lehrer.

Der Aufsatz sieht nach der Korrektur aus wie eine "Berner Schlachtplatte". Der kleine Patrick aus dem 2. Schuljahr einer schweizerischen Grundschule hat in seinem Aufsatz "Die Schulreise" mit etwa 110 Wörtern rund 100 Fehler produziert. Die eineinhalb DIN A4-Seiten sind beinahe nicht zu entziffern. Patricks Lehrer hat sich die Mühe gemacht, den Text in fehlerfreies Deutsch zu transkribieren, und es offenbarte sich ein erstaunlicher Text:

Die Schulreise
Es war einmal ein schöner Tag.
Die Schüler rufen: Wir wollen auf die Schulreise!
Einer ruft: Ich habe keine Lust!
So so, sagte der Lehrer.
Hansli ruft immer: Ich habe keine Lust.
Hansli ist verrückt.
Am Schluss schaute Hansli den Lehrer ganz böse an.
Der Lehrer sagte: Wir gehen nach Appenzell.
Juhu, rufen die andern Kinder.
Hansli ist nicht einverstanden.
Marc sagt: In Appenzell stinkt es.
Jaja, sagte Hansli, so stinkt es.
Jaja, da jagt es einen aus der Stube hinaus.
Marc und Hansli sagten: Wir sind auf der Schulreise Freunde.
Ich komme doch mit.
Marc und Hansli:
Wenn sie nicht gestorben sind,
so leben sie heute noch.

Prof. Dr. Urs Ruf vom Lehrstuhl für Gymnasialpädagogik an der Universität Zürich brachte diesen Aufsatz in den Hörsaal der Universität Würzburg mit, um zu dokumentieren, dass eine ausschließliche Betrachtung der Rechtschreibung, wie sie die Mehrzahl der Lehrerinnen und Lehrer aus Zeitgründen wie auch aus ihrer Erwartungshaltung an einen lesbaren Text vornehmen würde, andere Qualitätsaspekte unbeachtet lässt. Ruf nennt diese Betrachtungsweise "Unterricht als Monolog": Alles ist defizitär oder falsch, was nicht in der vom Lehrer gesetzten Norm steht.

 

Urs Ruf (l.) und Olga Jaumann-Graumann

Der Wissenschaftler plädierte dagegen für einen "Unterricht als Dialog": Die Schülerinnen und Schüler machen ein Angebot, und die Lehrerinnen und Lehrer fragen: "Wie hast du es gemacht?" und suchen die Übereinstimmungspunkte. In der Praxis würden zu viele Schülerinnen und Schüler durch den defizitorientierten Ansatz schnell demotiviert - denn "Motivation entwickelt sich mit der Erfahrung, etwas ausrichten zu können, während Anstrengung, der zu lange kein Erfolg beschieden ist, der Resignation weicht", wie es Ruf formulierte und schloss: "Dummheit ist in der Schule definitiv lernbar."

Dialogischer Prozess von Verstehen und Verständigung

Der Unterricht habe normalerweise eine hohe Angebotsqualität. Wolle man dessen Wirksamkeit aber erhöhen, müsse man die Nutzungsqualität steigern. Dies erreiche man, indem man den Schülerinnen und Schülern Autonomie, soziale Eingebundenheit und Kompetenzerleben ermögliche. Die Autonomie ermöglicht eine individuelle Anverwandlung des Fachwissens. "Menschen sind glücklicher und erbringen bessere Leistungen, wenn sie sich als Urheber ihrer eigenen Handlungen erleben", zitierte der Schweizer die Selbstbestimmungstheorie von Edward Deci und Richard Ryan. Die soziale Eingebundenheit ermöglicht den konstruktiven Umgang mit Heterogenität. Das Kompetenzerleben steigert die Motivation.

 

Sabine Czerny

In einen dialogischen Prozess von Verstehen und Verständigung lassen sich Ruf zufolge diese drei Qualitäten folgendermaßen umsetzen: Schülerin oder Schüler dokumentieren ihren Lernweg: "Ich mache das so." Dabei erfahren sie Autonomie. Darauf aufbauend folgt eine Phase des divergierenden Austauschs, bei dem Lernwege anderer untersucht werden: "Wie machst du es?" Hierbei wird die Erfahrung der sozialen Eingebundenheit gemacht. Zum krönenden Abschluss folgt die Kompetenzerfahrung: "Das machen wir ab." Es wird abstrahiert und generalisiert, es werden Begriffe gebildet, Verfahren festgelegt, Instrumente hergestellt und Qualitätskritierien formuliert.

Als ein Beispiel für einen solchen Prozess zog der Wissenschaftler das Lernjournal der Achtklässlerin eines Gymnasiums heran, die bei einer Bruchrechenaufgabe jeden ihrer Arbeitsschritte dokumentiert, erläutert, warum sie ihn durchführt und weshalb sie an bestimmten Stellen nicht weiterkommt. Die Lehrerin oder der Lehrer können hier die Schwierigkeiten der Schülerin nachvollziehen, aber auch den Weg, der zu einem Ergebnis geführt oder eben auch nicht geführt hat, bewerten. "Der Lehrer kann nach Gelungenem suchen, individuelle Schülerkonzepte erkennen und explizit machen und Ideen für die nächste Instruktion der Klasse entwickeln", sah Ruf auch Vorteile für die Lehrertätigkeit in diesem für beide Seiten aufwendigen Vorgehen.

"Das Dialogische Lernmodell sorgt für eine hohe Strukturierung des Unterrichts und ermöglicht dennoch ein Lernen auf eigenen Wegen", erklärte der Wissenschaftler. "Stärkere werden dabei gleichermaßen wie Schwache gefordert und gefördert."

Versagensängste bereits in der 2. Jahrgangsstufe

Doch solch differenzierendes Vorgehen scheitert laut Sabine Czerny an der Realität in den Klassenzimmern. Die bayerische Grundschullehrerin klagte in der abschließenden Podiumsdiskussion: "Bereits in der zweiten Klasse haben wir Kinder sitzen, die durch Misserfolgserlebnisse durch das Notensystem so demotiviert worden sind, dass sie keine Lust mehr haben zu versagen." Zudem könne kein Kind in seiner ihm angemessenen Zeit individuell lernen, weil schon nach sechs Wochen der nächste Test oder Stichprobe erhoben werde, die sich an einem der Schule vorgegebenen Mittelwert orientierten.

 

Podiumsdiskussion mit (v.l.) Olga Jaumann-Graumann, Armin Hackl, Sabine Czerny und Margareta Götz

Wenn man etwas verändern wolle, sollte man laut Urs Ruf, nicht bei den Schulstrukturen anfangen, sondern beim Unterricht selbst. Die Wissenschaft habe nachgewiesen, dass Lehrerinnen und Lehrer in der Mehrzahl ungeeignet seien, gute Tests zu konzipieren. Folglich seien diese Tests auch nicht geeignet, um damit Leistungen zu ermitteln. "Lernjournale, Portfolios und Lerndokumentationen sind geeigneter als Tests", forderte der Schweizer eine Veränderung an dieser Stelle.

Armin Hackl, der Schulleiter des Deutschhaus-Gymnasium, konstatierte, dass Noten immer mehr ins Zentrum geraten seien und sich der Unterricht oft nur noch dazu diene, Noten zu finden. Prof. Margareta Götz vom Lehrstuhl für Grundschulpädagogik an der Universität Würzburg bedauerte, dass das Notensystem die Ausbreitung des in den ersten beiden Klassen noch häufig praktizierten offenen Unterrichts verhindere. Sobald ab der dritten Klasse die Noten wichtiger würden, werde der Unterricht uniformer und "mit einem enorm fehleranfälligen Instrumentarium trifft man dann Entscheidungen über Schullaufbahnen." Bildungsstandards und Vergleichsarbeiten verhinderten die Individualisierung zusätzlich.

Schülerinnen und Schüler zur Selbsttätigkeit ermutigen

"Kinder wollen Noten", gab Prof. Dr. Olga Jaumann-Graumann dagegen zu bedenken. Es würde sich ihrer Ansicht nach aber auch nichts ändern, das Schulsystem zu ändern und die Noten abzuschaffen - "das Denken muss sich ändern", so die Erziehungswissenschaftlerin von der Universität Hildesheim. Sie habe in einer Klasse beobachtet, dass ein hochbegabtes Mädchen absichtlich von der Lehrerin nicht aufgerufen wurde und ihr Heft immer nur als Letzte abgeben durfte. Auf eine pädagogische Ausbildung könne man auch verzichten, wenn Lehrerinnen und Lehrer immer wieder unprofessionelle Aussagen wie "Obwohl er Türke ist, kann er schon lesen" oder "Der kapiert es wohl nie" treffen und bei Kolleginnen und Kollegen tolerieren würden.

Podiumsdiskussion in der Universität Würzburg

"Ein Paradigmenwechsel in den Schulen ist unumgänglich. Individuelle Förderung wird wohl nur erfolgen, wenn es keine Möglichkeit zum Wegsortieren von Kindern und Jugendlichen gibt", meinte Olga Jaumann-Graumann in ihrem Vortrag "Gemeinsamer Unterricht in heterogenen Gruppen". Didaktik sei das verbindende Element aller Bemühungen um individuelle Förderung: Ein offener Unterricht berücksichtige die Individualität jeder Schülerin und jedes Schülers. Die Schülerinnen und Schüler sollten zur Selbsttätigkeit ermutigt werden. Der Unterricht eile der kognitiven Entwicklung der Kinder voraus. Ein aktives Schulleben verbinde das individuelle Lernen mit einem Gemeinschaftsgefühl. Und immer wenn besondere Lernvoraussetzungen dies erforderlich machten, sollten Förderpläne auf der Grundlage von Förderdiagnostik entwickelt werden.

Armin Hackl schloss die Tagung mit seiner Stellungnahme auf der Podiumsdiskussion: "Lehrerinnen und Lehrer sollten ein Interesse an der Förderung des einzelnen Kindes haben. Dazu müssen die Bedingungen stimmen." Strukturen dürften aber nicht als Entschuldigung für Nichtstun herangezogen werden: "Wir sind nie gebremst worden, etwas innerhalb des Systems zu verändern. Mir kommt es auf die Selbstverantwortlichkeit der Schülerinnen und Schüler an, auf ihr Forschen und Suchen. Das wird sie groß machen - und nicht das Nachbeten dessen, was wir ihnen sagen."

 

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