Demokratie und Partizipation in Sachsen : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf
Demokratie kann Berge versetzen, denn sie entfaltet die Kräfte und die Weisheit der Vielen. So kam der Fachtag "Von Rotzlöffeln und meckernden Eltern.durch Partizipation zur demokratischen Schule!", der am 4. Juli 2008 in der Dreikönigskirche in Dresden stattfand, gerade recht. Er verdeutlichte, dass Demokratie mehr ist als die Anwendung bestimmter Methoden und demokratischer Verfahren. Kinder werden bereits in der Vorschule und insbesondere in den Ganztagsschulen auf das Abenteuer der Res Publica eingestimmt.
Die gute Nachricht lautet: Wir leben in einer Demokratie. Die schlechte Nachricht: Es kann auch anders kommen. Schon das Ende der Weimarer Republik lehrt, dass in der Demokratie die Verantwortungsbereitschaft jedes Einzelnen gefragt ist.
In ihrem Vortrag "10 gute Gründe für Demokratie und Partizipation - von Anfang an" wurden Sonja Student (Serviceagentur "Ganztägig lernen" Rheinland-Pfalz) und Schulleiter Ralph Leipold (Gymnasium Neuhaus am Rennweg in Thüringen) konkreter: "Die Demokratie wurde historisch errungen, und sie ist weltweit die Ausnahme. Sie ersetzt Willkür und Gewalt durch Recht - auf der Basis der Menschenrechte." In der Dreikönigskirche in Dresden schärfte Sonja Student in einem engagierten Vortrag das Bewusstsein für den Wert der Demokratie.
Die Bildungsexpertin verstand ihre Einladung nach Sachsen auch als Zeichen dafür, dass sich die Länder verständigen und miteinander vernetzen. Marlen Wippler von der Servicestelle Ganztagsangebote Sachsen gab ihr Recht: "Der Bedarf nach inhaltlicher Unterstützung beim Aufbau von Ganztagsangeboten ist in Sachsen sehr hoch." Vor diesem Hintergrund werden für die sächsischen Lehrer auch regelmäßig Fachtagungen und Fortbildungen durch die Servicestelle organisiert.
So habe ihr, aus einem alten Bundesland kommend, zum Beispiel bei einer Exkursion mit Kollegen nach Potsdam (Brandenburg) eine Ganztagsschule gefallen, in der alle am Mittagessen teilgenommen haben. Dagegen wird in Rheinland-Pfalz derzeit an Lösungen gearbeitet, um die breitere Teilnahme der Schüler am schulischen Mittagessen zu erreichen.
Sonja Student: "Es ist kostbar, dass wir hier zusammensitzen. Die Demokratie wurde historisch errungen, und sie ist weltweit die Ausnahme" (Bild mit freundlicher Genehmigung von Detlev Graupner).
Demokratie braucht überzeugte Demokraten
Dies habe dazu geführt, dass mit dem Programm "Ideen für mehr! Ganztägig lernen." ein Netzwerk aus Praktikern und Experten aus anderen Bundesländern entstanden ist, die sich gegenseitig unterstützen und miteinander über die Entwicklung der Ganztagsschule austauschen. Gegenseitige Hospitationen über die Ländergrenzen hinweg geben immer wieder neue Anregungen. Eine Demokratie ohne überzeugte Demokraten kann auf Dauer nicht gelingen.
Doch die Erziehung zur Demokratie muss schon früh beginnen: "Wenn man die Demokratie nur verkündet, funktioniert das nicht gut", fügte Schulleiter Leipold hinzu. Sie sei nicht zuletzt auf junge Menschen, Kinder und Jugendliche angewiesen, die sie mit Inhalten füllen. Eine bewusste Gestaltung von Gemeinschaft in der Schule fördere Inklusion, Zugehörigkeit, Anerkennung, Selbstwirksamkeit, Verantwortungsbereitschaft. Student weiter: "Demokratie, die früh anfängt, beugt Gewalt und Extremismus vor."
Mit anderen Worten: "Die Schule ist der zentrale Ort, an dem das Defizit ausgeglichen werden kann. Gelingt dies nicht, werden wir langfristige Probleme haben", führte Regina Mannel, Abteilungsleiterin im Staatsministerium für Soziales aus. Sicher ist: "Demokratie kommt nicht von alleine", so Mannel.
Ein Spiegel der Demokratie: "Jugend 2005 in Sachsen"
Anlass zum Nachdenken gibt auch eine der wenigen Längsschnittstudien "Jugend 2005 in Sachsen". Darin heißt es: "Der Vergleich zur Befragung 2003 zeigt ein starkes Anwachsen des Anteils von Jugendlichen, die sich in ihrer politischen Grundorientierung "rechts der Mitte" einordnen (von 12 auf 20 Prozent). Überwiegend betrifft das männliche Jugendliche (23 Prozent im Gegensatz zu 15 Prozent der weiblichen Befragten).
Politikverdrossenheit ja, von Demokratiemüdigkeit kann allerdings nicht die Rede sein. Die gute Nachricht, die die Studie auch zu vermelden hat, liest sich in Zahlen ausgedrückt so: "71 Prozent (2003: 73 Prozent) aller Jugendlichen halten die Auseinandersetzung mit Problemen der heutigen Demokratie für sehr wichtig/wichtig." Die befragten Jugendlichen gaben auch an, was ihr politisches Engagement ausbremse: So monierten sie "nicht ausreichende politische Einflussmöglichkeiten" und wünschten "mehr Mitbestimmung bzw. Beteiligung vor allem in der Bildung, Schule, Ausbildung sowie bei Problemen am Arbeitsmarkt".
Ralph Leipold erinnerte daran, dass Schülermitbestimmung in Deutschland noch gar nicht so alt sei. Lange habe eine Tradition von Befehl und Gehorsam vorgeherrscht, so dass der Karlsschüler Friedrich Schiller seinerzeit die Schule als "Pflanzanstalt" und "Sklavenplantage" bezeichnete. Die Partizipation von Schülerinnen und Schülern wurde erst am Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Jugendbewegung ein Thema.
Erste Schülervertretungen bzw. Schülermitverwaltungen (SMV) entstanden in der Weimarer Republik. Im Nationalsozialismus wurden die Schülervertretungen (SV) gleichgeschaltet, während sie in der DDR nach kurzzeitigem Aufleben in den 1950er Jahren wieder abgeschafft und durch die Einheitsjugendorganisation ersetzt wurden. Schülerpartizipation ist also eine relativ junge Errungenschaft in Deutschland, die gerade deswegen um so mehr Beachtung verdient.
Starke Argumente für mehr Demokratie
Seit 1989 ist die Teilhabe der Kinder allerdings ein verbrieftes Menschenrecht, das die Schulen nun in Praxis umsetzen müssen. Modellschulen aus dem ehemaligen BLK-Programm "Demokratie lernen und leben" wie das Gymnasium Neuhaus am Rennweg in Thüringen können anderen Schulen dabei die Richtung weisen: "Unser Gymnasium entwickelt eine Schulverfassung, die wir gemeinsam mit rund 500 Schülerinnen und Schüler erarbeiten." Den Kindern werde vermittelt, dass ihre Beteiligung ernst gemeint ist. Andernfalls verliert man sie als Bündnispartner.
Der Wind hat sich für die Schulen nicht zuletzt durch die PISA-Studie sowie andere internationale Studien gedreht. Spezifische kognitive und soziale Kompetenzen wie Gruppenarbeit oder die Fähigkeit, in heterogenen Gruppen erfolgreich zu handeln, sind heutzutage im Schulleben ebenso wie im Unterricht gefragt. Auf diesem Gebiet haben die Bildungspolitiker - Leipold zufolge - Handlungsbedarf erkannt. Allerdings hätten sie ignoriert, dass deutsche Schulen im internationalen Vergleich fremdenfeindlicher als andere abgeschnitten haben.
Verantwortungsübernahme gegen Meckerei
Aus demokratiepädagogischer Perspektive brauche man auch deshalb an den Schulen neue Formen der Schülerbeteiligung: "Das geht nicht mit altem Geschirr." Das entsprechende Zauberwort heißt Verantwortungsübernahme. Denn wer mitentscheidet, sei eher bereit, die Folgen dafür zu tragen: "Verantwortungsübernahme ist ein Wundermittel gegen Meckerei", so Leipold.
Wenn die Kinder in den Schülervertretungen oder anderen Gremien die Erfahrung machen, wie schwierig es ist, eine Gruppe zu moderieren und zu leiten, seien sie eher bereit anzuerkennen, dass Partizipation einem nicht in den Schoß fällt, sondern auch Mühe bereitet. Das Gute an der Partizipation besteht ferner darin, dass sie erwiesenermaßen die Leistung steigert. Dazu Sonja Student: "Eine partizipative Unterrichtskultur verbessert das Wohlbefinden und die Motivation der Lernenden sowie ihre Bereitschaft, sich mitverantwortlich zu fühlen."
Schulleitung muss auch mal unbequem werden
So, wie Partizipation als Strukturprinzip von unten nach oben wirkt, so agiert die Schulleitung auch als Vermittler der Gestaltungsprozesse von oben nach unten. Das heißt, Partizipation muss durch die Schulleitung "nachhaltig implementiert werden" erklärte Leipold. Übrigens fand der Schweizer Erziehungswissenschaftler Prof. Helmut Fend heraus, dass der Führungsstil der Schulleitung folgenreiche Auswirkungen auf die Schulqualität habe.
Schon in den 1980er Jahren fand der Erziehungswissenschaftler Prof. Helmut Fend heraus, dass der Führungsstil der Schulleitung folgenreiche Auswirkungen auf die Schulqualität habe. Eine demokratische Schulkultur ist mit undemokratischen Prozessen gar nicht realisierbar. Aufgabe der Schulleitung sei es, zu coachen und zu ermöglichen.
"Ja, aber", diese doppelte Botschaft gehöre gestrichen. "Die Schulleitung trägt die Verantwortung für die Schaffung einer kreativitätsfördernden Umgebung", zitierte Leipold den Erziehungsforscher. Ferner müsse sie nicht nur konfliktbereit sein, sondern auch eine Vision haben: "Als Schulleiter muss ich klar sagen, was ich will." Zwei ganz besondere Eigenschaften muss die Schulleitung auch noch mitbringen: "Sie muss Energien aufnehmen und positiv gestalten." Nicht zuletzt müsse man unbequem sein und sich mit Bürokratien anlegen können.
"Gemeinsam für ein demokratisches Sachsen"
Das Land Sachsen fördert seit dem Jahr 2001 das Programm "Demokratisches Sachsen!" der Deutschen Kinder- und Jugendhilfe (DKJS). Ziel ist es, Schülerbeteiligung zu stärken und gegen fremdenfeindliche, antidemokratische Einstellungen frühzeitig vorzugehen. Das Programm verknüpft die Schulen mit außerschulischen Partnern und bietet ihnen die Möglichkeit, Modellhaftes auszuprobieren, so Regina Mannel. Das Programm hat im Laufe der Jahre eine Vielfalt an Methoden entwickelt, die sich an unterschiedliche Zielgruppen wenden.
Die Bausteine des Methodensets wurden im Laufe der Jahre so ausgefeilt und miteinander verzahnt, dass sie nun - in dieser Veranstaltung - als ein kompaktes "Methodenkarussell" zur Probe dargeboten werden konnten. Sie wurden von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Zuge der Fachtagung in drei Runden à 45 Minuten durchlaufen und als echter Impuls empfunden.
Es kam daher nicht von ungefähr, dass Ralph Leipold meinte, eine der besten Veranstaltungen zum Thema Demokratie und Partizipation erlebt zu haben. Da außer dem Schulleiter auch zahlreiche Teilnehmerinnen und Teilnehmer diverse Anregungen für die Praxis mitnahmen, kann man das "Methodenkarussell" auch den Praktikern der übrigen Länder weiterempfehlen.
Im Einzelnen lauten die acht Methodenbausteine wie folgt: "Schülerrat fordern und fördern", "Flächen, Plätze, Räume: Entwicklung zum Anfassen", "Zukunftswerkstatt & Co. - Betroffene zu Beteiligten machen", "Partizipative Schulprogrammentwicklung", "Möglichkeiten partizipationsfördernder Unterrichtsgestaltung", "Mitsprache und Beteiligungsformen für Kinder in der Grundschule", "Vielfalt als Chance begreifen" und "Lust und Frust der demokratischen Entscheidungsfindung".
Alle Blickwinkel sind gefragt
Ein Beispiel mag die Vorzüge des "Methodenkarussells" illustrieren. Wie kann man eine Schule, die kurz vor der Grenze ihrer Arbeitsfähigkeit war, quasi wiederbeleben? Oder wie kann man den Schülerinnen und Schülern, deren Schule gar für immer die Tore schließen soll, trotzdem Mut für einen Neuanfang geben?
Nicht zuletzt für diese Kardinalfragen haben Ricardo Glaser und Ralf Seifert die "Zukunftswerkstatt & Co. - Betroffene zu Beteiligten machen" entwickelt. Die Goethe-Mittelschule in Wilthen, an der 360 Schülerinnen und Schüler durch 32 Lehrerinnen und Lehrer unterrichtet werden, war laut Ricardo Glaser an der Grenze ihrer Arbeitsfähigkeit: "Es hätte jede andere Schule sein können. Eine externe Moderation war jedoch dringend erforderlich." Da das sächsische Schulgesetz es den Schulen ermöglicht, eine externe Moderation anfordern, wurde die Zukunftswerkstatt gerufen.
Im Folgenden kam der bekannte Dreischritt zur Anwendung, der die Zukunftswerkstätten auszeichnet: einer Beschwerde- und Kritikphase folgt eine Fantasie- und Utopiephase und schließlich eine Verwirklichungs- und Realisierungsphase. Die Entwicklung beteiligungsorientierter Verfahren sowie die Verantwortungsübernahme im Schulalltag standen dabei im Vordergrund. Die Zielgruppe waren neben Schulleitung, Lehrkräften, Schülerinnen und Schülern auch die Eltern, der Hausmeister, die Sekretärin und der Förderverein.
Auf einer Augenhöhe: Schülerinnen und Schüler blühen auf, wenn sie ernst genommen werden.
Die Vorgaben durch die Moderatoren waren: gleichberechtigter Umgang miteinander, kurze Redebeiträge, "nicht mit Fremdwörtern um sich werfen" und "alles Gesagte zu dokumentieren". Ferner wurden mit dem Schülerrat und der Schulkonferenz Interviews geführt, um Daten aus allen Blickwinkeln zu erheben, so Glaser.
Schließlich einigte man sich auf die Schwerpunktthemen Schulklima und Teamentwicklung. Der Prozess mündete in ein beschlussreifes Schulprogramm, das die Verantwortungsübernahme aller befördert. "Die Aufgabe der Moderatoren war es, uns überflüssig zu machen", so Ralf Seifert. Alles lief nun wie am Schnürchen an der Goethe Mittelschule in Wilthen. Eine Dokumentation der DKJS, die für den 5. Ganztagsschulkongress in Berlin geplant ist, soll das gute Beispiel in die Breite tragen.
Wenn Schulen ihre Tore schließen - den Neuanfang planen
Bislang haben zwölf von rund 1.600 Schulen in Sachsen das Angebot der Zukunftswerkstatt für die Schulprogrammarbeit genutzt. Für die Sozialpädagogin Jeanine Giebner, die als Teilnehmerin im Plenum saß, kam es wie gerufen. Ihre Schule, die Mittelschule Königswalten muss nämlich ihre Tore schließen, nachdem drei Jahre lang die Mindestzahl von 40 Anmeldungen nicht erreicht wurde. Dies schreibt das Sächsische Schulgesetz vor. "Das letzte Vierteljahr war chaotisch: die Schülerinnen und Schüler, Eltern sowie die Lehrer sind total verunsichert", erläuterte Giebner. Sogar der Gemeinderat trat schließlich wegen der angekündigten Schulschließung zurück.
Nun soll es die Zukunftswerkstatt richten - allen Beteiligten soll sie einen guten Übergang ermöglichen: "Ich möchte, dass die Schülerinnen und Schüler mit einem guten Gefühl in die neue Schule gehen und dort auch akzeptiert werden." Vor rund 150 Jahren hat der Schriftsteller Theodor Fontane bereits alles gesagt: "Man muss es so einrichten, dass einem das Ziel entgegenkommt."
Kategorien: Service
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