"Bildung in gemeinsamer Verantwortung"

Rede des Staatssekretärs im Bundesministerium für Bildung und Forschung, Michael Thielen, zur Eröffnung des 4. Ganztagsschulkongresses "Ganztagsschulen werden mehr. Bildung lokal verantworten" am 21. September 2007.

Sehr verehrte Frau Köhler,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Koch,
sehr geehrte Damen und Herren,

im Namen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung begrüße ich Sie alle herzlich zum vierten Ganztagsschulkongress, den wir wieder gemeinsam mit der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder und der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung ausrichten. Herzliche Grüße übermittle ich Ihnen auch von Bundesministerin Annette Schavan, die an der Eröffnung heute nicht teilnehmen kann.

Besonders willkommen heiße ich unsere Gäste aus Finnland und Schweden, aus Großbritannien und den Niederlanden. Dass Sie hier sind, zeigt uns: Was wir in Deutschland im Ganztagsschulbereich tun, ist auch für Sie interessant. Umgekehrt sind wir natürlich an Ihren Erfahrungen interessiert. Wir stehen vor vergleichbaren Herausforderungen und können voneinander lernen. Deshalb sind wir dankbar, dass Sie gekommen sind.

Staatssekretär Michael Thielen bei seiner Rede auf dem Ganztagsschulkongress



Gemeinsam haben sich die Veranstalter des diesjährigen Kongresses entschieden für das Thema  "Ganztagsschulen werden mehr - Bildung lokal verantworten".



"Ganztagsschulen werden mehr" - das ist unübersehbar. Die Zahl der Ganztagsschulen ist in den letzten Jahren in allen Schulformen stetig gestiegen, bei Grund- und Hauptschulen hat sich die Zahl seit 2002 verdoppelt. Fast 6.400 Schulen profitieren inzwischen bundesweit von den Fördermitteln des Investitionsprogramms. Insgesamt sind in diesem Rahmen mittlerweile fast 2,5 Mrd. Euro in Ausbau und Ausstattung von Ganztagsschulen geflossen. Die Länder treiben mit zusätzlichen Initiativen den Ausbau voran. So hat  beispielsweise Hessen seine Landesinitiative "Ganztagsprogramm nach Maß" bereits vor dem Bund-Länder-Programm aufgelegt. Sie haben sich, Herr Ministerpräsident Koch, einen ambitionierten Ausbau für die nächsten Jahre vorgenommen und investieren dafür erhebliche zusätzliche Mittel.

Meine Damen und Herren,
wenn ich versuche, mich halbwegs unverklärt an meine Schulzeit zu erinnern, dann wäre mir damals die Aussicht auf  Schule ganztags wohl nicht als Verheißung erschienen. Ich hätte auch kaum eine solche Schule gefunden.

Heute hat sich die Ganztagsschule in Deutschland etabliert. Sie ist  kein bildungspolitischer Streitfall, sie ist ein Angebot, in dem viel bildungspolitische Erwartung steckt. Das zeigt: Das Bildungssystem entwickelt sich strukturell ständig weiter. Und diese Entwicklung ist umso fruchtbarer, je  stärker sie sich am konkreten Bedarf vor Ort orientiert.

Damit, meine Damen und Herren, sind wir beim zweiten Element des heutigen Themas: "Bildung lokal verantworten".

Die Idee der Ganztagsschule ist ja nicht, Kinder irgendwie zu beschäftigen oder zu versorgen. Die Idee der Ganztagsschule ist auch nicht, einfach mehr vom selben zu bieten, nach dem Motto "viel hilft viel". Die Idee ist vielmehr, Raum zu gewinnen für individuelle Förderung, für Bildung und für Erziehung.

Das Ganztagsprogramm gibt einen Impuls für dazu notwendige Investitionen. Die Realisierung liegt in der Verantwortung der Länder. Sie entscheiden über die Schwerpunkte und über die Vergabe der Mittel. Kommunen und Schulträger  sind es, die ihren Bedarf formulieren und die Anträge stellen müssen. Und schließlich ist es die einzelne Schule, die mit ihrem Konzept überzeugen muss.

Entscheidend ist das, was in der Bildungswirklichkeit am Ende ankommt. Entscheidend ist, dass dort, wo Ganztagsschule drauf steht , auch pädagogische Qualität drin ist. Und deshalb kommt es ganz wesentlich auf die Gestaltung vor Ort an.

Die Bedeutung der regionalen und lokalen Ebene wächst - gerade in Zeiten der Globalisierung. Unsere Gäste aus dem Ausland werden das bestätigen. Auch ein Blick auf die deutschen Realitäten zeigt, dass gerade die Leistungen der Kommunen für Bildung in Deutschland gar nicht zu überschätzen sind. Mein Eindruck ist, die öffentliche Anerkennung dieser Rolle hinkt der Wirklichkeit noch hinterher. Umso mehr bin ich dankbar, dass Herr Dr. Schmalstieg uns bei diesem Kongress von seinen langjährigen Erfahrungen berichten wird.

Wo Bildung in hohem Maße vor Ort verantwortet wird und sich an den ganz konkreten Ausgangsbedingungen und Bedürfnissen von Kindern und Jugendlichen orientiert, profitiert auch das Bildungssystem als Ganzes. Moderne Bildungssysteme sind zentralistisch nicht erfolgreich zu steuern, selbst wenn man es wollte. Wir brauchen uns nur in Europa umzuschauen. Alle erfolgreichen Steuerungsmechanismen im Bildungsbereich stärken die lokale Verantwortung, setzen auf Eigenständigkeit und Wettbewerb. Bildung gedeiht am besten in einer Ordnung der Freiheit.

Meine Damen und Herren,
diese Freiheit ermöglicht eine Vielfalt der Wege. Das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke. Gleichzeitig erfordert diese Freiheit ein hohes Maß an Verantwortung. Und die Vielfalt bedarf einer Gemeinsamkeit, die ihr den Rahmen gibt. Die Menschen messen alle, die für Bildung Verantwortung tragen, an den Ergebnissen, nicht daran, wer welche Zuständigkeiten hat. Sie erwarten Lösungen, sie erwarten Leistungsfähigkeit und Vergleichbarkeit. Und das ist ihr gutes Recht.

Die Antwort  kann nicht sein, Zuständigkeiten der Beliebigkeit anheim zu geben. Das untergräbt die Ordnung der Freiheit und damit letztlich auch die Leistungsfähigkeit. Die Antwort muss vielmehr sein, in der Praxis zu zeigen, dass im Rahmen dieser Ordnung gemeinsame Verantwortung sichtbar wahrgenommen wird und dies die besseren Ergebnisse bringt.

Gemeinsame Verantwortung bedeutet nicht, dass alle für alles verantwortlich sind. Das führt nur dazu, dass keiner mehr für etwas Bestimmtes verantwortlich ist. Gemeinsame Verantwortung bedeutet, das Zusammenspiel der Verantwortlichkeiten in der Praxis so zu orchestrieren, dass das Ergebnis stimmt.

In einem Orchester, meine Damen und Herren, kommt es zunächst darauf an, dass jeder Musiker sein Instrument beherrscht und seine Töne sauber setzt. Genauso wichtig ist es, auch auf die Mitspielerin zu hören und einzugehen. Wenn das gelingt, entsteht ein Gesamtwerk, das mehr ist als die Summe der Einzelleistungen. Und wenn das Orchester gut eingespielt ist, kommt es auch mal ohne Dirigenten aus.

Niemand wird sagen, dass dieses Zusammenspiel mühelos ohne Dissonanzen gelingt. Ein von mir sehr geschätzter Kollege aus einem Bundesland mit stolzem föderalen Bewusstsein sagte mir nach einer etwas schwierigen Bund-Länder-Verhandlung, er mutiere während solcher Runden abwechselnd zum Zentralisten und zum Separatisten. Erst das Ergebnis führe ihn zum rechten Glauben zurück.

Ich gebe gerne zu, vor solchen Anfechtungen auch nicht in jeder Situation gefeit zu sein. Aber darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist, ob die gemeinsame Verantwortung sich in den praktischen Herausforderungen unseres Bildungssystems bewährt. Ein Blick auf einige wenige Handlungsfelder zeigt, dass sich diese Anstrengung lohnt.

. Wir wissen: Wer früh fördert, fördert doppelt. Deshalb wollen Bund, Länder und Kommunen beim Ausbau der Kinderbetreuung gemeinsam voran kommen.
. Wir wissen: Ohne Sprachfähigkeit gelingt Bildung nicht. Deshalb wollen Bund, Länder und Kommunen dafür sorgen, dass künftig jeder Schulanfänger über zureichende Sprachfähigkeiten verfügt.
. Wir wissen: Ohne Perspektive auf Berufsausbildung und Arbeit verdirbt die Bildungsmotivation junger Menschen. Deshalb engagieren sich Staat, Kommunen, Unternehmen und Sozialpartner für einen besseren Übergang von der Schule in den Beruf.
. Wir wissen: Deutschland braucht mehr Studienanfänger, vor allem bei den Natur- und Ingenieurwissenschaften. Deshalb haben wir gemeinsam den Hochschulpakt verabredet und arbeiten an Strategien für mehr Interesse an Natur- und Ingenieurwissenschaften.

Meine Damen und Herren,
schon diese wenigen Beispiele machen deutlich, das das Zusammenspiel mehr ist als eine Sache von Bund, Ländern und Kommunen. Bildung fordert alle: Familien, Unternehmen, Verbände, Vereine.

Deshalb finde ich zwei Zwischenergebnisse der Begleitstudie zum Ganztagsprogramm besonders bemerkenswert:
. Zum einen den Befund, dass Ganztagsschulen ehrenamtliches Engagement nicht verdrängen, sondern den außerschulischen Partnern, den Sportvereinen und Musikschulen neue Chancen eröffnen.
. Zum zweiten den Befund, dass Ganztagsangebote Familie nicht entwerten, sondern in vielen Familien mehr Aufmerksamkeit für Bildung entsteht.

Viele Studien zeigen, dass die Bildungschancen von Kindern weniger von der Einkommenssituation der Familie als von der Bildungslaufbahn der Eltern abhängen. Dass gute Bildung wichtig ist, auch dass Aufstieg durch Bildung möglich ist und die Anstrengung lohnt, lernen und erleben Kinder zuallererst in der Familie. Wo diese Anregung ausbleibt, verkümmern allzu oft Talente und Begabungen.
Familien in ihrer Aufmerksamkeit für Bildung zu stärken und zu unterstützen, ist deshalb ein Schlüssel für gute Bildungschancen der Kinder.

Die internationalen Vergleichsstudien zeigen Stärken und Schwächen von Bildung in Deutschland. Es gibt kaum einen öffentlichen Bereich der sich in einer so dichten Folge dem  internationalen Vergleich stellt wie der Bildungsbereich. Es ist richtig, dass dieser Vergleich immer nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit bieten kann. Es ist auch richtig, dass die öffentliche Wahrnehmung der Ergebnisse manche Vereinfachung mit sich bringt. Trotzdem sind diese Leistungsvergleiche wichtig. Sie haben viel angestoßen in der deutschen Bildungspolitik.

Wie immer man einzelne Befunde und ihre Aussagekraft bewerten mag, unterm Strich ist die Botschaft klar: Deutschland verbessert sich zwar, aber andere sind dynamischer und andere sind durchlässiger für Aufstieg durch Bildung. Wir haben also allen Grund, in gemeinsamer Verantwortung noch konsequenter daran zu arbeiten.

. Solange es noch Kinder gibt, die - wie Lehrer berichten - auf ihr Schulheft statt des eigenen Namens das Wort "Verlierer" schreiben, ist diese Arbeit nicht getan.
. Solange es noch junge Menschen gibt, die keinen Einstieg in die Berufsausbildung finden, ist diese Arbeit nicht getan
. Und solange es Menschen gibt, deren Bildungswille und deren Aufstiegswille keinen Weg findet, ist die Arbeit nicht getan.
Wir haben gute Gründe dafür, diese Arbeit mit Zuversicht zu tun. Einer der besten Gründe ist die Leidenschaft für Kinder und die Leidenschaft für Bildung, die man an Schulen überall in Deutschland finden kann, nicht zuletzt bei Projekten im Zusammenhang mit dem  Ganztagsprogramm. Die Ausstellung hier im Congress Center bietet Ihnen einen Einblick, es lohnt sich hinzuschauen.

Meine Damen und Herren,
Hartmut von Hentig hat als sein pädagogisches Leitmotiv formuliert "Die Menschen stärken - und die Sachen klären". Das erscheint mir auch eine gute bildungspolitische Leitlinie zu sein. Die Sachen klären heißt, nüchtern zu erkennen, wo Stärken und Schwächen sind, was sich bewährt und was im Wege steht. Die Menschen stärken heißt, die Debatte so zu führen, dass bei aller notwendigen Kritik auch Ermutigung entsteht für diejenigen, die jeden Tag in den Schulen, in den Betrieben und Hochschulen großartiges für Bildung leisten.
Deshalb ist dieser Kongress für mich auch eine willkommene Gelegenheit, Danke schön zu sagen.

. Der Dank gilt der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung - Ihnen Frau Köhler als Vorsitzende, Ihnen Frau Dr. Kahl als Geschäftsführerin und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern -  deren Arbeit im Begleitprogramm zur Ganztagsinitiative sich großer Wertschätzung bei allen Beteiligten erfreut.
. Danke sage ich allen Kolleginnen und Kollegen bei Bund, Ländern und Kommunen, die das Ihre zur Umsetzung des Programms beisteuern,
.  Und vor allem danke ich den Lehrern, den Eltern, den Schülern und den ehrenamtlichen Partnern,  die vor Ort aus den Investitionsmitteln Bildung machen.

Ihnen allen danke ich. Uns allen wünsche ich zwei anregende Tage in Berlin mit Impulsen, die über diesen Anlass hinaus reichen.

Vielen Dank!

Kategorien: Service

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