10 Jahre nach der 1. PISA-Studie : Datum: Autor: Autor/in: Stephan L�ke
10 Jahre nach der 1. PISA-Studie
Als eine von sieben Sofortmaßnahmen auf die Ergebnisse der 2001 veröffentlichten internationalen Bildungsstudie PISA beschloss die Kultusministerkonferenz den Ausbau von Ganztagsschulen. Zehn Jahre später ziehen die Schulforscher Prof. em. Dr. Jürgen Baumert und Prof. em. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann sowie die damalige Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn für www.ganztagsschulen.org eine Bilanz der Entwicklung.
"Ein lehrreiches Desaster", titelte vor zehn Jahren "DIE ZEIT" an jenem Tag, an dem die Ergebnisse der ersten PISA-Studie veröffentlicht worden war. Lehrreich war es nach Ansicht von Jürgen Baumert, des wissenschaftlichen Leiters der damaligen Untersuchung für die Bundesrepublik, allemal. Er ist überzeugt: "PISA war einer der Auslöser für die Erfolgsgeschichte Ganztagsschule in Deutschland." Die brutale Erkenntnis, wie eng der schulische Erfolg von der sozialen Herkunft hierzulande abhängt, habe auch die letzten Vorbehalte gegen die Ganztagsschule bei Seite geräumt. "Das wirkte wie ein Dammbruch", ist der ehemalige Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin überzeugt. Die Erkenntnis habe sich durchgesetzt, dass man mehr Zeit für rechtzeitige und individuelle Förderung benötige.
Sein Bielefelder Kollege Klaus-Jürgen Tillmann teilt diese Einschätzung: "Es wurde uns deutlich vor Augen geführt, wie katastrophal die Lage war. Spätestens seit diesem Moment war der Ganztag politisch salonfähig." Er ist überzeugt, dass es ohne die Studie nicht zu dem einzigartigen "Zusammenspiel" von Bund und Ländern und dem vier Milliarden-Euro-Programm des Bundes zum Ausbau der Ganztagsschulen, das 2003 beschlossen worden war, gekommen wäre.
Prof. em. Dr. Jürgen Baumert (Bild: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung)
Dem hält die 2001 amtierende Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org entgegen: "Wir haben schon 1999, also zwei Jahre vor PISA, das Forum Bildung eingesetzt und schon vor der Studie Verbesserungen im deutschen Schulwesen angemahnt. Dazu zählte auch der flächendeckende Ausbau der Ganztagsschulen. PISA hat aber geholfen die anderthalbjährige Blockade einiger Länder zu überwinden." Mit dem Ganztagsschulprogramm sei ein großer Fortschritt erreicht und mehr als 8.000 Ganztagsschulen geschaffen worden. Man habe damit einen enormen Mentalitätswandel bewirkt. "Das ist ein Riesenerfolg. Schließlich wurde vorher 20 Jahre lang darüber diskutiert, wie Kinder aller Begabungen besser individuell gefördert werden könnten. Geschehen ist aber bis 1999 wenig."
Die erhofften Vorteile des ganztägigen Schulbesuches liegen für die Forscher auf der Hand und haben sich im vergangenen Jahrzehnt bestätigt. "Ganztag ist zwar kein Allheilmittel, aber er bietet Zeit für ausgiebigere und rechtzeitigere Förderung, allerdings nur, wenn ein Kind systematisch und kontinuierlich daran teilnimmt", so Baumert. Schwierig sei es, in offenen Ganztagsschulen eine bessere Rhythmisierung des Unterrichts zu erreichen. "Das schaffen nur die guten Schulen", meint Baumert und ist deshalb der Überzeugung: "Der gebundene Ganztag ist erstrebenswert."
Prof. em. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann
Dem Ziel stimmt Klaus-Jürgen Tillmann zu. Es bestehe ein sehr großer Bedarf an Ganztagsangeboten, doch nach wie vor plädiere die Hälfte der Eltern für die Halbtagsschule. "Darum ist der verpflichtende Ganztag nicht erzwingbar", betont er. Sein Vorschlag: Die Kommunen sollten prüfen, ob sie in einem Wohnviertel eine Schule mit offenen und eine mit gebundenem Ganztag einrichten. Nach Ansicht Jürgen Baumerts kommt auf die Kommunen ohnehin künftig eine besondere Aufgabe zu: Sie müssten die Abstimmungsleistung vollbringen, Schulen in jedem Quartier zu einer Anlaufstelle unterschiedlichster Angebote weiterzuentwickeln. Er denkt neben dem Schulunterricht an einen Lebens- und Lernort unter Beteiligung von Vereinen, Jugendeinrichtungen, möglicherweise auch Volkshochschulen.
Für Edelgard Bulmahn indes gibt es dauerhaft keine andere Lösung als die verpflichtende gebundene Ganztagsschule. "Nur wenn der Unterricht anders auf Vor- und Nachmittag verteilt rhythmisiert werden kann, werden Ganztagsschulen ihr Potenzial voll ausschöpfen können", sagt sie. Und sie ist optimistisch, dass sich das politisch und bei den Eltern durchsetzen lässt: "In 10 bis 15 Jahren wird der Ganztag für alle selbstverständlich sein."
Edelgard Bulmahn, ehemalige Bundesbildungsministerin (Bild: www.edelgard-bulmahn.de)
Wenn Jürgen Baumert und Klaus-Jürgen Tillmann die vergangenen zehn Jahre Revue passieren lassen, kommen sie beide zu dem Ergebnis, dass Ganztagsangebote einiges bewirkt haben. So sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtert worden. Das Schulklima sei vielerorts verbessert und damit eine lernfreundliche Atmosphäre geschaffen worden. Darüber hinaus gelänge es immer mehr Schulen, Kindern Anregungen zu geben, die sie zuhause nicht erhielten. Und schließlich offenbare die Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) unter anderem, dass bei kontinuierlicher Teilnahme an Ganztagsangeboten von hoher Qualität problematisches Sozialverhalten abnehme und das Risiko des Sitzenbleibens sinke.
Eine dauerhafte Teilnahme "bei hoher Schulqualität, z.B. differenzierten Lehrmethoden, kann zudem die Schulnoten verbessern", stellen die Autoren der StEG-Untersuchung fest. Ob die Teilnahme an Ganztagsangeboten auch fachliche Kompetenzen verbessert, wissen sie noch nicht. "Es ist wahrscheinlich, doch da arbeiten wir noch im luftleeren Raum", gesteht Klaus-Jürgen Tillmann. Er bedauert ebenso wie Jürgen Baumert, dass die Auswirkungen der Ganztagsschule auf den fachlichen Kompetenzerwerb von Schülerinnen und Schüler bisher nicht Bestandteil der Studie waren. Dennoch bleiben beide beim Fazit: "Der Ausbau der Ganztagsschulen in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren ist eine richtige Erfolgsgeschichte."
Damit sich diese Entwicklung fortsetzen kann, plädiert Klaus-Jürgen Tillmann allerdings dafür, dass Ganztagsangebote kostenfrei sein müssten. Er erinnert an die zahlreichen Gesamtschulen in Nordrhein-Westfalen, die als gebundene Ganztagsschulen arbeiten: "Es ist doch nicht erklärbar, dass hierfür von den Eltern keine Gebühren für die Offene Ganztagsschule aber sehr wohl verlangt werden."
Anmerkung der Redaktion: Ein lesenswerter Rückblick über zehn Jahre PISA findet sich auf ZEIT-ONLINE:Der heilsame Schock
Kategorien: Service
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