Ganztag nicht an den Kindern vorbei steuern : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Kommunikation und Verstehen, orientiert an den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler, sind das A und O gelingender Steuerung des Ganztags. Davon ist Ute Waffenschmidt, Leiterin der Hupfeldschule in Kassel, überzeugt.

Online-Redaktion: Sie gehörten zu jenen 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmern am ersten „Wissenschaftsgeleiteten Qualitätsdialog zum Ganztag“ des DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation. Bringen wir es doch einmal auf den Punkt: Wie gelingt die Steuerung des Ganztags?

Schulleitung Team
„Alle Beteiligten mitnehmen“: Schulleitungsteam mit Ute Waffenschmidt (2.v.l.) © Hupfeldschule

Ute Waffenschmidt: Wieviel Platz haben Sie für meine Antwort? Im Ernst: Ganztag zu steuern, erfordert die Lösung unglaublich vieler, kleiner und großer Detailaufgaben. Zwei möchte ich gleich am Anfang benennen: Sie müssen alle – und zwar wirklich alle – an Schule und Ganztag Beteiligten mitnehmen. Täglich. Und was leider viel zu häufig vergessen wird: Man kann Ganztag nicht an den Kindern vorbei steuern und organisieren.

Online-Redaktion: Können Sie ein Beispiel aus Ihrer Schule benennen?

Waffenschmidt: Der Umgang mit Hausaufgaben war so etwas. Wir, besonders aber auch die Kinder waren total unzufrieden, wie es damit bei uns lief. Die Erzieherinnen und Erzieher klagten, weil sie die Schülerinnen und Schüler dabei begleiten sollten, völlig gleichgültig, ob sie fachlich die Voraussetzung dafür mitbrachten. Die Schülerinnen und Schüler litten, weil sie mit dem Kopf eigentlich schon in ihrer Lieblings-AG waren, aber nach dem Mittagessen erst ihre Aufgaben erledigen mussten. Sie waren geradezu blockiert. Also haben wir nach einer Alternative gesucht. 

Wir haben die Hausaufgaben abgeschafft und stattdessen wöchentliche Lernzeiten für alle Klassen sowie ein Lerncenter eingerichtet. Den Namen haben übrigens die Kinder ausgewählt. Hier kann jede und jeder, ob in einem unserer zwei Horte oder im Ganztag angemeldet, in einem zweistündigen Zeitfenster an Themen arbeiten, die für sie und ihn interessant sind. Das Lerncenter, das sich im Ganztagskomplex befindet, ist mit zahlreichen Materialien und Experimenten ausgestattet. Eine Lehrkraft ist grundsätzlich anwesend, unterstützt, wenn gewünscht, und bietet zugleich eigene Projekte an. Diese Anwesenheit von Lehrerinnen und Lehrern führt dazu, dass wir alle auch Kinder besser kennenlernen, die nicht in „unserer“ Klasse sind. So erfahren wir viel mehr über ihre Stärken und Schwächen und können gemeinsam beraten, was für jeden Einzelnen am besten ist.
 
Online-Redaktion: Wie viele Kinder können gleichzeitig teilnehmen?

Waffenschmidt: 20. Natürlich bleiben nicht alle Schülerinnen und Schüler zwei Stunden lang. Aber wir halten sie an, eine Sache, die sie begonnen haben, auch zu Ende zu führen. Eine Ampel signalisiert, wenn das Lerncenter voll ist und wenn Plätze frei sind.

Online-Redaktion: Woran erkennen Sie grundsätzlich die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler?

Lesewettbewerb
„Warum gehen die Kinder lieber hier- statt dorthin!?“ © Hupfeldschule

Waffenschmidt: Das ist wirklich einfach. Wir müssen unsere Schülerinnen und Schüler doch nur beobachten und uns fragen: Warum nutzen so wenige diese oder jene Arbeitsgemeinschaft? Warum herrscht viel Unruhe? Warum nehmen Raufereien zu? Warum gehen die Kinder lieber hier- statt dorthin? Die Kinder sagen und zeigen uns schon, was sie möchten.

Online-Redaktion: Wer so handelt, muss schnell und kreativ reagieren können…

Waffenschmidt: Bei solchen Feinheiten trifft das zu. Darum sind wir in unserer Schule froh, dass wir von der ursprünglichen Vorgabe, mit externen Kooperationspartnern Jahresverträge abschließen zu müssen, abkehren konnten. Jetzt vergeben wir Halbjahresverträge, und wenn dann ein Angebot nicht so wie erhofft genutzt wird, können wir auch recht zügig umsteuern, also Neues kreieren. 

Online-Redaktion: Wieviel Kommunikation erfordert solch ein Weg der Steuerung?

Waffenschmidt: Es kann gar nicht genug Kommunikation geben. Jeder muss den anderen verstehen, seine Beweggründe, seine Wünsche, seine Vorstellungen. Es geht nie um die einzelne Person, sondern um die Sache und vor allem um die Kinder. Durch Verständnis, auch für die Besonderheiten der unterschiedlichen Professionen, wächst Vertrauen. Kommunikation beinhaltet auch Lob-Kultur, Wertschätzung und die Möglichkeit, dem anderen zu zeigen, dass er auf seinem Gebiet die Expertin oder der Experte ist. Steuerung bedeutet, Zeit in Gespräche und in ein gutes Arbeitsklima zu investieren. 

Online-Redaktion: Wie setzen Sie das konkret um?

Waffenschmidt: Jeder Montag ist ein wichtiger Tag. Wir starten mit einem Kick-Off-Ganztag. Da sitzen alle unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Horte und des Ganztags zusammen, sprich die Hortleitungen, der Ganztagskoordinator und die Schulleiterin. Dadurch, dass die Teilnehmenden aus den Horten aufgrund ihrer Arbeitszeiten immer wechseln, kommen im Laufe der Zeit alle Beteiligten einmal zusammen. Im Kick-Off besprechen wir den geplanten Wochenablauf, werfen kleine Dinge auch schon einmal über Bord. Jeweils montagmittags treffen sich das Lehrerkollegium und unser Ganztagskoordinator zur Schulentwicklungsstunde, um die pädagogische Ausrichtung abzustimmen. Der Mittwoch ist dann der Tag der Entscheidung. Hier kommt wieder das Leitungsteam im Leitungstreffen zusammen und trifft verbindliche Absprachen. Vorher wird nichts verändert oder eingeführt. Darauf kann sich jeder verlassen.

Online-Redaktion: Wieviel Veränderung verträgt Ganztag?

Waffenschmidt: Bei Alltagsdingen müssen wir zügig reagieren. Ich denke etwa an unser Mittagsbüfett in der Mensa. Wir haben gespürt, dass den Kindern das Essen nicht schmeckte. Es blieb viel übrig. Damit unser Caterer weiß, was er künftig anbieten soll, haben wir eine Befragung der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Eltern durchgeführt. Heraus kam, dass unter anderem besonders Nudeln mit Tomatensauce gewünscht werden. Also gibt es Nudeln mit Tomatensauce. 

Bei großen Dingen ist das anders. Da sollte der Tanker Ganztagsschule langsam gesteuert und nicht ständig etwas Neues ausprobiert werden. Beständigkeit ist ein hohes Gut. Das ist nicht gleichbedeutend damit, etwas einfach laufen zu lassen. Im Gegenteil. Wir leisten uns Pilotphasen, schauen, was gut ankommt und was nicht. Und notfalls gehen wir auch einmal drei Schritte zurück. 

Online-Redaktion: Verraten Sie bitte ein Beispiel für Veränderung durch schlechte Erfahrung?

Bibliothek
„... Geduld aufbringen und von anderen lernen“. © Hupfeldschule

Waffenschmidt: Wir haben viel dafür getan, um die Schule, den Ganztag und die zwei angegliederten Horte eins werden zu lassen – räumlich, vor allem aber inhaltlich und konzeptionell. Das ist auch gelungen. Alle ziehen an einem Strang, haben stets die Entwicklung des Ganzen im Auge. Dann aber ist uns aufgefallen, dass es eine große Unzufriedenheit damit gab, dass die Ganztagskoordination auch die Dienstpläne für die Horte festgelegt hat. Also haben wir gelernt: Wir dürfen nicht über die Köpfe der anderen verfügen und festlegen, wann sie was zu tun haben. Die Kolleginnen haben eigene Vorstellungen und Ideen. 

Online-Redaktion: Welche Konsequenzen haben Sie gezogen?

Waffenschmidt: Wir haben uns bei allen entschuldigt, und jetzt stellen die Horte ihre Pläne wieder selbst auf. Doch in unseren Kommunikationsrunden tauschen wir uns weiter aus, geben wechselseitig Anregungen. Als Schulleiterin spreche und plane ich sehr viel mit unserem Ganztagskoordinator, mache das Thema zur Chefsache. So wird Ganztag kein Anhängsel, sondern ein sehr wichtiger Bestandteil unserer Schule. Der bei uns übrigens auch durch die tolle Unterstützung des Landes Hessen funktioniert.

Online-Redaktion: Das klingt alles easy…

Waffenschmidt: Ist es aber nicht. Auch wir hatten unsere Probleme, haben Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter verloren, die unseren Weg nicht teilen konnten. Wir hatten zu Beginn einige sehr kritische Eltern, als es um die Frage der Zusammenführung der Horte und des Ganztags ging. Man hat Gegenwehr und muss durch das, was man aufbaut, überzeugen. Dazu muss ich auch einmal Grenzen überschreiten, mutig sein, Geduld aufbringen und von anderen beispielsweise dadurch lernen, dass wir uns als Hospitationsschule nach außen öffnen. Menschen wollen, dass alles schnell geht. Ganztagssteuerung aber geht nicht schnell.

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