Ganztagsangebote in gemeinsamer Verantwortung : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Mit einem Fachforum lud der Paritätische Gesamtverband auf dem Ganztagskongress zum Dialog ein. Claudia Linsel, Referentin für Jugendsozialarbeit und Schule im Interview über die aktuellen Herausforderungen.

Graphic Recording von Susanne Asheuer zum Ganztagskongress
Graphic Recording von Susanne Asheuer zum Ganztagskongress 2024 © Susanne Asheuer

Online-Redaktion: Frau Linsel, was nehmen Sie vom Ganztagskongress im Zusammenhang mit der Arbeit in multiprofessionellen Teams mit?

Claudia Linsel: Dass sie Grundvoraussetzung sind und vielerorts im Ansatz schon bestehen. Dass sie aber nicht automatisch ein Garant für gut abgestimmtes multiprofessionelles Arbeiten sind.

Online-Redaktion: Beim Kongress wurde viel über eine gemeinsame Ausbildung für die im Ganztag Tätigen gesprochen. Welche Potenziale sehen Sie in einer solchen?

Linsel: Die auf dem Kongress besprochenen Ansätze gingen nach meiner Wahrnehmung weniger in Richtung einer gemeinsamen Ausbildung, sondern vielmehr gemeinsamer Ausbildungsbestandteile. Wir stellen immer wieder fest, dass sich die verschiedenen mit Kindern im Grundschulalter befassten Professionen wenig bis gar nicht kennen, im Alltag kaum in Kontakt kommen. Daher, und so wurde es auch an verschiedenen Stellen auf dem Kongress besprochen, braucht es möglichst frühzeitige Begegnungsräume, ein Verständnis für die jeweils andere Profession und natürlich ein gemeinsames Verständnis vom Kind in dieser Lebensphase.

Es wurde auf dem Kongress sehr deutlich, dass sowohl Lehrkräfte als auch Fachkräfte der Sozialen Arbeit das gemeinsame Wirken als Vorteil sehen, wenn es auch noch nicht alle im Alltag mit Leben füllen können. Hier ist eine grundsätzliche Verzahnung, ein In- und Miteinanderwirken der Systeme gefragt. Erfolgreiches multiprofessionelles Handeln ist immer noch von der Motivation und dem Engagement Einzelner abhängig. Wir benötigen Strukturen, die es von Anfang an, also auch schon in der Ausbildung, miteinander verzahnen.

Professor El-Mafaalani hat ja zur derzeitigen Situation festgestellt, dass es diese engagierten Teams, die sich im Alltag eigene Strukturen quasi freischaufeln, gibt – dass man mit dieser Art des – nicht strukturell verfassten und ausgestatteten, daher zusätzlichen – Engagements aber sehr wahrscheinlich nicht gesund in Rente geht.

Online-Redaktion: Um Sie vorzustellen, würde ich gern etwas über Ihren Verband sprechen, um unseren Leserinnen und Lesern etwas Aufklärung zu bieten. Welche Aufgaben hat der Paritätische Gesamtverband?

Mittler zwischen Generationen
Mittler zwischen Generationen © Der Paritätische

Linsel: Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist einer der sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland und Dachverband von über 10.000 eigenständigen gemeinnützigen Organisationen im Sozial- und Gesundheitsbereich. Der Gesamtverband setzt sich auf der Bundesebene und überregional für seine Mitglieder ein, die sich vor Ort wiederum in Kreis- und Landesverbänden zusammenschließen. Wir fordern eine Sozial- und Gesellschaftspolitik, die die Ursachen von Benachteiligung beseitigen, ein selbstbestimmendes Leben ermöglichen und sachgerechte Rahmenbedingungen für eine zeitgemäße soziale Arbeit schaffen kann. Dies gilt selbstverständlich auch für den Bereich der Ganztagsförderung.

Als Paritätischer verstehen wir uns als Mittler zwischen Generationen und zwischen Weltanschauungen, aber auch zwischen Ansätzen und Methoden sozialer Arbeit und natürlich zwischen unseren Mitgliedsorganisationen. Die Idee sozialer Gerechtigkeit verstehen wir als das Recht jedes Menschen auf gleiche Chancen zur Verwirklichung seines Lebens in Würde und der Entfaltung seiner Persönlichkeit. Dies ist handlungsleitend in unserer täglichen Arbeit. Wir setzen uns aber nicht nur für unsere Mitglieder ein, sondern versuchen auch, Betroffene dabei zu unterstützen, ihre Interessen eigenständig zu formulieren und durchzusetzen.

Online-Redaktion: Der Paritätische ist Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V., in der sich eine Arbeitsgruppe „Ganztag“ gebildet hat. Seit wann besteht die AG und wer ist beteiligt?

Linsel: In der Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrtspflege arbeiten wir in ständigen Fachausschüssen miteinander. Vertiefend werden bei Bedarf Arbeitsgruppen zu aktuellen Themen eingerichtet, etwa wenn Gesetzesvorhaben zu begleiten sind. Dies ist auch bei der Arbeitsgruppe „Ganztagsförderung“ der Fall. Wir begleiten das Thema verbandsübergreifend aus der Sicht der Freien Wohlfahrtspflege und ihrer Träger und Mitgliedsorganisationen. Deren aktuellen Herausforderungen wollen wir auf den jeweils zuständigen Ebenen, also Bund, Länder und Kommunen, Gehör verschaffen. Meinen Kolleginnen, Kollegen  und mir war es daher auch ein Anliegen, auf dem Ganztagskongress mit einem Fachforum zum Dialog zwischen Schulseite und Kinder- und Jugendhilfe einzuladen.

Online-Redaktion: Welche Herausforderungen sehen Sie für die Kinder- und Jugendhilfe bezüglich der Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder?

Die Potenziale aller Kinder sehen, fördern und stärken
Die Potenziale aller Kinder sehen, fördern und stärken © Britta Hüning

Linsel: Neben der konkreten Ausgestaltung der inzwischen vorliegenden finanziellen und rechtlichen Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern ist es aus Sicht des Paritätischen eine besondere Herausforderung, die landesspezifischen Angebotsformen in ihrer Vielfalt zu berücksichtigen und diejenigen zu erhalten, die qualitativ hochwertig arbeiten, sowie – unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips – neue Angebote zu schaffen und bundesweit eine gleichwertige Qualität in den Angeboten sicherzustellen. Natürlich wünschen wir uns, dass dabei die Anforderungen für z.B. Betriebserlaubnisverfahren, Kinderschutz, Mitbestimmung oder das Fachkräftegebot der Kinder- und Jugendhilfe im Achten Sozialgesetzbuch, bindend wären. Auch wenn Angebote in schulischer Verantwortung umgesetzt werden, halten wir eine Orientierung an diesen fachlichen Grundlagen für eine qualitativ hochwertige Erziehung, Bildung und Betreuung für wünschenswert.

Außerdem stehen wir alle vor der großen Herausforderung, ausreichend qualifizierte Fachkräfte zu finden. Dafür muss das Arbeitsfeld attraktiv gestaltet sein. Und natürlich reden wir hier auch über Arbeitszeiten, Stellenumfänge und Gehälter. Es geht insgesamt um eine angemessene Ausgestaltung mit entsprechenden Kapazitäten, u.a. in Bezug auf Personal oder Räume und Flächen.

Online-Redaktion: Was trägt der Paritätische zur Qualitätssicherung von Ganztagsangeboten bei?

Linsel: Wir setzen uns dafür ein, dass die entscheidenden Stellen Sorge dafür tragen, dass qualitativ hochwertige Angebote als rechtsanspruchserfüllend gelten. Und dass die verantwortlichen Stellen auf Landes- und kommunaler Ebene dies gemeinsam mit der Zivilgesellschaft aushandeln und nicht nur mit Verweis auf’s Geld den rein quantitativen Ausbau in den Blick nehmen. Und wir plädieren dafür, dass Kinder- und Jugendhilfe und Schule diese Umsetzung gemeinsam verantworten. Denn nur im gelingenden Zusammenwirken können Lebens- und Bildungsorte, die die Potenziale aller Kinder sehen, fördern und stärken, entstehen. Die Steuerung und Ausgestaltung des Ganztags ggf. ausschließlich in die Hände der Schulleitung zu legen, wie es die KMK empfiehlt, steht dem z.B. entgegen. Eine gemeinsame Leitung und Steuerung von Verantwortlichen aus Schule und Ganztagsförderungsangebot sind aus unserer Sicht Voraussetzung für eine hohe Qualität. Dafür sind ggf. Anpassungen der Schulgesetze und der landesspezifischen Kita- bzw. Jugendhilfegesetze notwendig, was es dringend anzugehen gilt.

Für die Sicherstellung und Weiterentwicklung bedarfsgerechter Angebote benötigen wir ein regelhaftes Monitoring. Hierfür sollte vorab ein gemeinsam mit Vertreter*innen der beteiligten Institutionen, u.a. Schule und Freie Träger, ein für alle transparentes Verfahren entwickelt werden. Wesentliche Grundlage dafür ist auch die für das Arbeitsfeld passgenaue Weiterentwicklung und Harmonisierung von Kinder- und Jugendhilfestatistik sowie Schulstatistiken. Denn nur so kann z.B. der jährliche Bericht über den Stand des Ausbaus ein realistisches Bild abgeben. Hier gilt dringender Handlungsbedarf.

Ganztagskongress 2024
Ganztagskongress 2024 © Thomas Truschel/BMFSFJ/phototek.de

Und wir verweisen darüber hinaus darauf, dass erforderliche Unterstützungssysteme bei der Einführung des Rechtsanspruchs sowie im weiteren Umsetzungsprozess vorgehalten, qualifiziert und evaluiert werden müssen. Dies umfasst z.B. Fachberatungen und Prozessbegleitungen. Zusätzlich dazu müssen natürlich auch erforderliche Personalressourcen der überörtlichen Träger und Aufsichtsbehörden, z.B. in Jugend- oder Schulämtern, sichergestellt sein. Eine Diskussion über die inklusive Ausgestaltung der Angebote, egal ob sie nun von der Kinder- und Jugendhilfe oder der Schule verantwortet wird, kommt uns bisher ebenfalls zu kurz. Wir sollten die Zeit bis zum Inkrafttreten des Rechtsanspruchs unbedingt nutzen; und zwar indem alle beteiligten Akteure an einem Strang ziehen. Rein finanziell geprägte Diskussionen über Hindernisse und Grenzen oder Ideen von Moratorien sind weder fach- noch gesellschaftspolitisch zeitgemäß.

Zur Person:

Claudia Linsel arbeitet seit 2013 für den Paritätischen Gesamtverband und leitete dort u.a. das Projekt „Ich bin HIER. Herkunft – Identität – Entwicklung – Respekt“ im Rahmen des BMBF-Bundesprogramms „Kultur macht stark. Bündnisse für Bildung“. Seit 2019 ist sie schwerpunktmäßig für Jugendsozialarbeit und Schule sowie den Bereich Ganztagsförderung zuständig. Nach ihrer Tätigkeit beim DGB-Bundesvorstand sowie beim DGB Hessen / Thüringen im Bereich „Jugend und Ausbildung“ verantwortete sie von 2006 bis 2013 u.a. die Arbeitsfelder „Kindheit und Familie“ sowie „Jugend, Bildung, Beruf“ bei der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ.

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