Ganztagsschule mit Wildbienen und Nashornkäfern : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

Wenn in der Großstadt alle Grundschulen zu Ganztagsschulen werden, braucht es naturnahe Schulgelände. Stefan Behr berät Hamburger Schulen bei deren Gestaltung und berichtet im Interview von seinen Erfahrungen.

Gefragter Experte: Stefan Behr
Gefragter Experte: Stefan Behr © Claudia Pittelkow

Früher war die Schule mittags aus und es ging raus zum Spielen und Toben – oft auch ins Grüne. In den heutigen Ganztagsschulen verbringen Kinder einen Großteil ihrer Zeit auf dem Schulgelände. Umso wichtiger ist es, den Schulhof attraktiv und kindgerecht zu gestalten – und am besten naturnah, sagt Stefan Behr, Hamburger Lehrer und seit vier Jahren Berater am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung für naturnahe Schulhofgestaltung. Er ist seit 20 Jahren Grundschullehrer – und passionierter Freizeitgärtner. Seinen Kleingarten bewirtschaftet er naturnah.

2016 initiierte Behr an der Ganztagsgrundschule Sternschanze die Umwandlung des Außengeländes in einen „NaturErlebnisSchulhof“. Für dieses Pilotprojekt wurde die Schule bereits mehrfach ausgezeichnet. Inzwischen ist Behr ein gefragter Experte auf seinem Gebiet, publiziert in Fachzeitschriften und hält bundesweit Vorträge.

Online-Redaktion: Herr Behr, wie sind Sie denn auf die Idee gekommen, einen Schulhof – wie ihren Kleingarten – naturnah zu gestalten?

Stefan Behr: Meine Schule, die Ganztagsgrundschule Sternschanze, liegt mitten in einem dicht besiedelten Stadtteil. Der Schulhof war, wie die meisten Schulhöfe in ganz Deutschland, zubetoniert, einfach graues Einerlei. Durch die Arbeit in meinem Kleingarten ist mir damals bewusst geworden, wie bereichernd so eine Naturerfahrung ist – und wie entsetzlich naturfern heutige Stadtkinder großwerden.

Deshalb habe ich 2016 vorgeschlagen, unseren Schulhof naturnah umzugestalten. Elternrat und Kollegium fanden die Idee gut, und gemeinsam mit einer befreundeten Landschaftsarchitektin haben wir das Projekt schließlich auf den Weg gebracht. Die Kinder waren von Anfang an mit eingebunden, von der Planung über die Finanzierung bis zur Umsetzung.  

Online-Redaktion: Warum ist eine naturnahe Schulgeländegestaltung sinnvoll für Kinder?

Behr: Das Allerwichtigste ist: Kinder machen heutzutage kaum noch Naturerfahrung, deshalb brenne ich so für das Thema. Das ist schon seit 30 Jahren so. Auch die Eltern sind oft schon entfremdet von der Natur. Ein heutiges Großstadtkind macht oft im Prinzip gar keine beiläufigen Naturerfahrungen mehr. Heutzutage ist es fast schon normal, dass manche Kinder alles, was mit Natur zu tun hat, beinahe unangenehm finden. Das ist zumindest meine Erfahrung als Grundschulpädagoge in der Großstadt.

„NaturErlebnisSchulhof“ mitten in der Stadt
„NaturErlebnisSchulhof“ mitten in der Stadt © Stefanie Biel/NaturGarten e.V

Wissenschaftler haben 2003 beispielsweise gefragt, ob Kinder einen Käfer über ihre Hand laufen lassen würden. Über 30 Prozent haben gesagt: Nein! Und 2021 waren es sogar 57 Prozent. Weil sie es eklig finden und nicht kennen. Einer meiner Erstklässler hat mich mal gefragt, ob ich Handschuhe habe, als wir Erde untersuchen wollten. Er fand das schrecklich, in die Erde reinzufassen. Wir Menschen koppeln uns immer mehr von der Natur ab, aber das funktioniert nicht, eben weil wir Naturwesen sind. 2014 wurden 115 Studien international ausgewertet, die nachweisen, dass Kinder Naturerfahrung brauchen, das gehört zu einer gesunden Entwicklung.

Online-Redaktion: Sie haben gerade die beiläufigen Naturerfahrungen angesprochen. Was genau meinen Sie damit?

Behr: Der Biologiedidaktiker Prof. Ulrich Gebhard hat deutlich gemacht, wie wichtig, beiläufige Naturerfahrungen sind, also ohne ein Setting, in dem der Lehrer den Kindern vorschreibt: „Heute gucken wir uns die Bienen an.“ Das mache ich als Lehrer natürlich auch manchmal, aber viel wichtiger ist, dass die Kinder von sich aus Interesse an der Natur haben – und das haben sie! Kinder sind intrinsisch motiviert. Wir müssen nur den Blick der Kinder etwas schulen. Beispielsweise nehmen Kinder Löcher auf einem Hügel wahr, denken zuerst vielleicht, dass das Ameisen sind, doch es sind Wildbienen, die solitär, also einzeln und nicht als Volk, im Boden leben. Das fasziniert die Kinder. Oder auch Nashornkäfer. Da wir einen naturnahen Schulhof haben, finden die Kinder plötzlich Material, mit dem sie sich beschäftigen und spielen, mit dem sie eine Ordnung schaffen können. Da passiert plötzlich etwas! 

Online-Redaktion: Grüner Schulhof – naturnaher Schulhof. Wo ist der Unterschied?

Behr: Der wesentliche Unterschied ist die Einsicht in wichtige ökologische Zusammenhänge: Unsere Tiere und Pflanzen haben sich nämlich über Jahrmillionen aneinander angepasst. Daher bieten einheimische Wildpflanzen die natürliche Lebensgrundlage unserer Tierwelt. Die gehören zusammen wie Schlüssel und Schloss. Anders als die üblichen oft nichtheimischen Pflanzen oder Zuchtformen bieten sie auch spezialisierten Arten Nahrung oder etwa Nistmaterial. Und wenn wir dann noch darauf achten, möglichst viele unterschiedliche Arten zu pflanzen – und eben nicht das bisher gängige Einerlei –, können wir eine ungeahnte Biodiversität schaffen und eine Vielzahl an Insekten und anderer Kleintiere anlocken. Diese ziehen wiederum Kleinsäuger und Vögel an.

Online-Redaktion: Naturnahe Schulhöfe und Ganztag – wie passt das zusammen?  

Behr: Ich komme ja von der Ganztagsschule und fand das auch immer gut. Allerdings sehe ich auch ein Manko: Kinder hatten früher viel mehr Freiraum, ab mittags war schulfrei, dann ging es raus zum Spielen. Heute haben Kinder immer weniger Zeit und Freiraum, dieses Problem müssen wir lösen. In Hamburg sind alle Grundschulen Ganztagsschulen, was allein schon ein Hauptmotiv sein sollte, den Außenraum viel mehr als bisher in den Blick zu nehmen. Vor allem für Grundschulkinder bedeutet die Ganztagsschule nämlich, dass sie einen Großteil ihres Wachzustandes auf dem Schulgelände verbringen – und das ist leider immer noch in den meisten Fällen wenig attraktiv und kindgerecht gestaltet.

Eine Schnecke über die Hand laufen lassen
Eine Schnecke über die Hand laufen lassen © Stefanie Biel/NaturGarten e.V

Online-Redaktion: Und hier kommt der Schulhof ins Spiel?

Behr: Genau, denn der Schulhof ist ein wichtiger Ort, weil Kinder dort so viel Zeit verbringen. Da muss es doch anregend sein! Und Tiere zu beobachten ist noch spannender als nur Blumen anzugucken. Außerdem kann man mit dem vorhandenen Material etwas bauen, Geländemodellierung wird von mir immer mitgedacht. Kleine Beetinseln, Hügel, anregende Strukturen, hinter denen sich Kinder verstecken können. Das wichtige ist das Beiläufige. Kinder brauchen keine Anleitung in der Natur, sie sind von sich aus interessiert. Es gibt natürlich auch Kinder, die das Interesse gar nicht mehr haben. Da muss die Lehrkraft dann nachhelfen, anregen.

Online-Redaktion: Wie unterstützen Sie Schulen, die ihren Schulhof umgestalten wollen?

Behr: Jedes Jahr im Juni biete ich an der Ganztagsgrundschule Sternschanze eine Fortbildung für Lehrerkolleginnen und -kollegen an, in Theorie und Praxis. Die Teilnehmenden können alle Fragen zur Schulgeländegestaltung klären. Also wie aus einem eintönigen, artenarmen Schulhof ein blühender Lebensraum entsteht, der Kindern vielfältige Naturerlebnisse im Laufe eines langen Schultages ermöglicht. Wie eine naturnahe Gestaltung aussehen muss und auf welche Weise sich Kinder, Eltern und Kollegium erfolgreich auf diesen Weg mitnehmen lassen. Und natürlich wie ein solches Projekt realistisch finanziert werden kann. Über 100 Lehrkräfte von insgesamt rund 400 Hamburger Schulen habe ich in den letzten vier Jahren fortgebildet oder beraten.  

Online-Redaktion: Gestalten die Schulen ihren Schulhof nach der Beratung dann auch um?

Behr: Alle Schulen, die an einer Fortbildung teilgenommen haben, sind begeistert. Aber bislang machen nur wenige später weiter. Wenn doch, gehe ich zu den Schulen und besichtige das Schulgelände mit mindestens fünf oder sechs Kolleginnen und Kollegen. Bestenfalls haben die dann schon genaue Vorstellungen, was man wo machen könnte. Ich bestärke oder rate ab. Es ist zum Beispiel schlauer, das ganze Gelände anzugucken und zu planen anstatt stückweise. Dann ist alles aus einem Guss und auch nachhaltig. Ich rate auch dazu, den Schulhof nicht in Eigenregie zu verändern, sondern jemanden mit Ahnung zu beauftragen. Was ich immer sage, ist, dass ich kein Landschaftsarchitekt bin, sondern Grundschullehrer.   

Online-Redaktion: Wie läuft es denn mit dem Naturerlebnis-Schulhof an Ihrer Ganztagsgrundschule Sternschanze?

Behr: Für eine große Biodiversität haben wir inzwischen rund 5000 heimische Wildpflanzen verschiedener Arten gesetzt und kleinteilige Strukturen wie Hügelbeete mit Trockenmauern eingebaut. Es gibt eine Vielzahl von Vogelnistkästen und Futterstellen. Schautafeln zeigen die wichtigsten Schmetterlinge, erdnistende Wildbienen und die Aufgaben der Honigbiene im Laufe ihres Lebens. Inzwischen nutzen unsere Kinder den Schulhof immer öfter auch im Unterricht für Beobachtungsgänge.

Biodiversität mit 5000 heimischen Wildpflanzen
Biodiversität mit 5000 heimischen Wildpflanzen © Stefanie Biel/NaturGarten e.V

Die jeweiligen Themen, je nach Jahreszeit, werden im Unterricht behandelt, und dann gehen wir raus und schauen uns zum Beispiel die Frühblüher draußen an – nicht wie früher in der Vase, wo sie sofort verwelken. Wir haben auch eine große Wildbienennisthilfe in der Blumenwiese, damit kann ich Kinder für Natur begeistern. Natürlich gibt es auch immer wieder Kinder, die lieber ihr Handy rausholen und daddeln würden. Aber die meisten lassen sich faszinieren.

Online-Redaktion: Ihre Schule hat eine „Draußenschule“ – was bedeutet das?

Behr: Das ist ein besonders schönes Angebot für Kinder der zweiten Klasse. Mit Beginn des zweiten Halbjahres im Februar haben sie einmal pro Woche in ihrem Stundenplan für eine Doppelstunde, also 90 Minuten, Draußenschule. Immer zur selben Zeit treffen sie sich mit einer unserer Naturerlebnispädagoginnen, um auf dem Schulhof oder in der Nachbarschaft Beobachtungen anzustellen, die sie in ihrem Naturtagebuch notieren. Auf diese Weise lernen die Kinder über eine gesamte Vegetationsperiode, etwa bis Mitte der 3. Klasse, Tiere und Pflanzen, Naturphänomene wie Wetter und Feuer sowie andere sachunterrichtliche Themen unmittelbar kennen.

Online-Redaktion: So eine Umgestaltung kostet ja eine Menge Geld. Wie haben Sie das finanziert?

Behr: Es gibt in Hamburg einen Förderfonds der Schulbehörde für naturnahe Schulhöfe, der ist gerade von 50 000 Euro jährlich auf 80 000 Euro erhöht worden. Schulen können sich hier um finanzielle Förderung von maximal 10 000 Euro bewerben für die naturnahe Gestaltung ihres Außengeländes. 2022 haben neun Schulen und in diesem Jahr weitere fünf Schulen Geld aus dem Sonderfonds bekommen und ihr Konzept anschließend umgesetzt. Wir selbst haben damals, als es diesen Fonds noch nicht gab, aus dem Ganztagsreferat 6000 Euro bekommen. Die Norddeutsche Stiftung für Umwelt und Entwicklung hat unser Projekt außerdem mit 4000 Euro gefördert, und zwei kleinere Stiftungen unterstützen uns. Den größten Teil haben wir damals allerdings über einen Sponsorenlauf zusammenbekommen. Über die Hälfte der Gesamtkosten, rund 30 000 Euro, haben unsere Schülerinnen und Schüler erlaufen, von der Vorschule bis Klasse 4. Erstaunlich!

Zur Person:

Stefan Behr ist seit 20 Jahren Grundschullehrer in Hamburg, Umweltbeauftragter der Ganztagsgrundschule Sternschanze und seit 2019 am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) in Hamburg tätig, wo er Schulen bei der naturnahen Schulgeländegestaltung berät. Er ist außerdem Sprecher der Regionalgruppe Hamburg des Vereins NaturGarten e.V., der auch mit der Loki Schmidt Stiftung Hamburg kooperiert. 2016 initiierte er den NaturErlebnisSchulhof Sternschanze. Die naturnahe Schulgeländegestaltung stellte er u. a. 2022 bei der Schulbau-Messe in Berlin und bei der Fachtagung Gartenpädagogik von „Natur im Garten“ (Österreich) vor.

Veröffentlichungen:

Behr, S. (2021): Natur-Erlebnis-Schulhöfe: Da blüht uns was! In: SCHULBAU. Das Magazin von der Kita bis zum Campus, 11 (2), S. 34-38.

Behr, S. (2021): Wachsende Schulen – naturnahe Außenflächen: Da blüht uns was! In: Hamburg macht Schule, 33 (3), S. 38-41.

Behr, S. & Stottmeister, K. (Hg.) (2021): NaturErlebnisRäume: Kindern Naturerfahrungen ermöglichen. Natur &Garten. Das Naturgarten-Fachmagazin, Heft 3.

Der NaturErlebnisSchulhof der Ganztagsgrundschule Sternschanze wurde 2020 mit dem Hanse-Umweltpreis für Engagement im Natur- und Klimaschutz des NABU Hamburg ausgezeichnet. Die Schule erhielt außerdem mehrfach, zuletzt für das Schuljahr 2021/2022 das Gütesiegel „Klimaschule“.

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