Ganztags Natur in der Innenstadt : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Im Schul-Umwelt-Zentrum Berlin-Mitte lernen jährlich 35.000 Schülerinnen und Schüler aus Berliner Ganztagsschulen, „dass Kartoffeln nicht auf Bäumen wachsen“. Biologie-Lehrerin Dr. Juliane Orsenne im Interview.

Online-Redaktion: Was verbirgt sich hinter dem Schul-Umwelt-Zentrum Berlin-Mitte“?

Dr. Juliane Orsenne: Das Schul-Umwelt-Zentrum Berlin Mitte mit seinen drei Standorten in der Scharnweberstraße und der Seestraße im Wedding sowie in der Birkenstraße in Tiergarten ist eine der größten und wichtigsten Einrichtungen für Umweltbildung des Berliner Innenstadtbezirks. Inhaltlich kann ich einen wichtigen Aspekt unserer Arbeit so auf den Punkt bringen: Bei uns lernen Schülerinnen und Schüler aller Altersstufen, dass Kartoffeln nicht auf Bäumen wachsen und Mais nicht in Büchsen wächst. Das gilt eben nicht nur für die Grundschulen, sondern auch für die Sekundarstufe I. Für alle Altersstufen bieten wir Projekte zu den wichtigen übergreifenden Themen des Rahmenlehrplans, wie gesunde Ernährung und Verbraucherbildung, Umwelt- und Klimaschutz sowie Nachhaltigkeit und Erhalt der biologischen Vielfalt. Dazu kooperieren wir beispielsweise mit dem Museum für Naturkunde Berlin und den Berliner Universitäten.

Online-Redaktion: Bevor wir auf Ihre tägliche Arbeit zu sprechen kommen, verraten Sie uns bitte, wie solch ein „Paradies der Umweltbildung“, wie Sie es selbst nennen, entsteht?

Orsenne: Die Gartenarbeitsschule in der Scharnweberstraße wurde im Jahr 1950 gegründet. Nach den Kriegsjahren mit Hunger und Kältewintern war der Bedarf an selbstangebauten Lebensmitteln hoch. So war das Motto von Gerhard Stüllein, dem ersten Leiter der Gartenarbeitsschule: „Die Kinder sollen lieber, anstatt auf Hamsterfahrt zu gehen, auf ihrem eigenen Schulgartenbeet Nutzpflanzen für ihre Familien heranziehen.“ Heute bündelt das Schul-Umwelt-Zentrum drei dieser Gartenarbeitsschulen. Die Berliner Gartenarbeitsschulen wurden übrigens 2016 in Paragraf 6 und Paragraf 124 des Berliner Schulgesetzes verankert.

„Paradies der Umweltbildung“
„Paradies der Umweltbildung“ © Schul-Umwelt-Zentrum Berlin Mitte

Online-Redaktion: Welche Aufgaben erfüllen Sie heute?

Orsenne: Das Schul-Umwelt-Zentrum Mitte bietet eine Ideenfundgrube mit praktischen Unterrichtseinheiten. Es organisiert Fortbildungen, Fachseminare und Konferenzen und ist sogar Ausbildungsbetrieb für Zierpflanzengärtnerinnen und ‑gärtner. Zu uns kommen jährlich rund 35 000 Schülerinnen und Schüler – wobei in Berlin ja alle Schulen bis zur Sekundarstufe I Ganztagsschulen sind.

Auf 40 000 Quadratmetern erleben viele unserer Großstadtkinder die Natur zum ersten Mal in ihrem Leben hautnah. Gemeinsam mit ihren Lehrkräften und unterstützt von unseren Fachleuten gärtnern sie über das gesamte Schuljahr hinweg. Sie graben mit den Händen im Boden, fühlen die Erde, erleben Tiere, die sie zuvor vielleicht noch nie gesehen oder angefasst haben. Eines unserer Projekte heißt „Was krabbelt da?“.

Online-Redaktion: Und viele glauben, eine Kuh sei lila…

Orsenne: Soweit würde ich jetzt nicht gehen. Doch in einem derart städtischen Umfeld wie Berlin-Mitte, das nun auch nicht gerade durch große Naturnähe gekennzeichnet ist, haben viele Vieles in der Natur noch nie gesehen, geschweige denn angefasst und gefühlt. Vor manchem ekeln sich die Kinder und Jugendlichen, aber auch viele Lehrkräfte anfangs sogar. Doch aus dem „Igitt“ wird im Laufe der Zeit immer ein „Oooh“.

Online-Redaktion: Bedeutet die Verankerung im Schulgesetz, dass alle Schülerinnen und Schüler mindestens einmal zu ihnen kommen?

Orsenne: Nein, das nicht. Zunächst gibt es ja noch mehr Gartenarbeitsschulen in Berlin, insgesamt 15. Durch das Schulgesetz werden die Schulen aufgefordert, sich außerschulische Lernorte zu suchen, sie in ihren Unterricht oder den Ganztag einzubinden. Verpflichtend ist das aber nicht. Wir sind ein solcher außerschulischer Lernort und unterstützenden Lehrkräfte bei den wichtigen übergreifenden Inhalten des Rahmenlehrplans, wie Klimawandel und Klimaschutz, klimafreundliche Ernährung und BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung) Bei uns erfahren die jungen Menschen, warum es sich so lohnt, die Natur zu schützen, wertzuschätzen und auch zu genießen.

Online-Redaktion: Wie ermöglichen Sie diese Erfahrungen?

Die Natur schützen, wertschätzen und genießen
Die Natur schützen, wertschätzen und genießen © Schul-Umwelt-Zentrum Berlin Mitte

Orsenne: Wir haben viel Platz, zahlreiche Beete, ein Gewächshaus, ein Waldstück, Teiche und viel Wiese. Wir sind so etwas wie die grüne Lunge in unserem Stadtteil Mitte. Wir ermöglichen den Schülerinnen und Schülern ein Stück Naturerfahrung. Sie spüren die Faszination der Natur. Wir lassen sie riechen, schmecken und fühlen. Natürlich gibt es am Anfang bei vielen Vorbehalte, weil ihnen das alles fremd ist. Wenn wir mit einer Gruppe von 25 Kindern unter einem Kirschbaum stehen und fragen, wer denn schon einmal eine Kirsche geerntet hat, geht zumeist keine Hand in die Höhe. Sie kennen Kirschen nur aus dem Supermarkt.

Welch ein Erlebnis, wenn erstmals eine Kirsche vom Baum in den Mund gewandert ist. Das gilt auch für Tomaten. Wenn unsere jungen Gäste zum ersten Mal kleine, süß schmeckende Tomaten gepflückt haben, sind sie völlig begeistert. Spannend ist auch zu erleben, wie sich viele Kinder und Jugendliche auf unsere Wiese legen – erst schielen sie ganz vorsichtig, ob da etwas kriecht. Nach einer Weile jedoch genießen sie die Atmosphäre, das, was sie riechen und fühlen.

Unser Gewinn sind naturgebildete Kinder. Doch auch Erzieherinnen, Erzieher und Lehrkräfte fragen, bevor sie mit der Gartenarbeit beginnen, nach Handschuhen. Wir ermuntern sie dann, es einmal ohne zu probieren. Wir ermuntern, gemeinsam Grenzen zu überwinden, um in die Natur einzutauchen.

Online-Redaktion: Unterstützen Sie auch Gartenarbeit am Schulstandort?

Orsenne: Im Idealfall kommen die Schulen mit ihren Klassen oder Arbeitsgemeinschaften zu uns. Hier haben wir die größten Möglichkeiten und eben auch viel Platz. So kann eine Klasse auch einen ganzen Schultag in unserem Klassenraum im Gewächshaus verbringen. Aber auf Wunsch beraten wir auch zur Schulgartenarbeit vor Ort, klären, was dort möglich ist und wie von uns entwickelte Unterrichtsmaterialien eingesetzt werden können. Zu Beginn eines jeden Jahres führen wir unsere Lehrerfortbildungen durch.

Wir beliefern die Schulen gerne auch mit Pflanzen, Samen oder unserer „Wurmkiste fürs Klassenzimmer“. Diese Wurmkiste, vor der sich übrigens anfangs auch viele erstmal ekeln, kann beispielsweise im Klassenzimmer platziert und mit Essensresten befüllt werden. Daraus entsteht wunderbar fruchtbarer „Dünger“ und die Kinder lernen ohne viel Zutun den Kreislauf der Natur kennen. All diese Unterstützungen sind kostenfrei, auch wenn wir nichts gegen eine Spende an unseren Förderverein haben. Wir könnten noch mehr pädagogische Stunden anbieten, doch dazu müssten die Verantwortlichen uns mit mehr Personal „düngen“.

Online-Redaktion: Was können Sie mit den vorhandenen Ressourcen leisten?

„Wir könnten noch mehr pädagogische Stunden anbieten“
„Wir könnten noch mehr pädagogische Stunden anbieten“ © Schul-Umwelt-Zentrum Berlin Mitte

Orsenne: Mindestens zehn Gruppen können täglich bei uns einen Kurs belegen, mit viel Kreativität auch schon einmal mehr. Drei Standorte machen viel möglich. Was leistbar ist, zeigt ein Beispiel. Die Anna-Lindh-Grundschule musste aufgrund von Schimmelbefall im Gebäude geschlossen werden. Damals haben wir fünf Klassen täglich bei uns beherbergt. Verständlicherweise stand die Natur in diesen sechs Wochen im Mittelpunkt des Unterrichts.

Aber die Lehrkräfte haben genau das umgesetzt, was wir immer empfehlen: Macht die Natur zu einem fächerverbindenden Lerninhalt. Die Kinder haben in Deutsch beispielsweise Rezepte formuliert und in Mathematik Mengenberechnungen fürs Mittagessen angestellt. Und dann saßen sie im Beet und beschrifteten die Gemüsesorten in englischer Sprache. Alle Kinder wurden erreicht. Sie hatten Freude und haben nachhaltig gelernt.

Online-Redaktion: Sind sich die Schulen der Chance, die Sie bieten, aber auch grundsätzlich der Bedeutung des Themas bewusst?

Orsenne: Das ist sehr unterschiedlich. Aber ich bin überzeugt, dass sie sich der Themen der Zeit bewusst sind. Wir ermöglichen ihnen, sich diesen Themen ohne großen Mehraufwand zu widmen. So können sie bei den jüngeren Generationen sehr früh das Bewusstsein für Natur, Umwelt, Klima und damit auch für die eigene Lebensweise fördern. Außerschulische Lernorte wie der unsere sind dafür hervorragend geeignet. Der Ganztag bietet so viel mehr Zeit und Raum. Den sollte man nutzen.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Dr. Juliane Orsenne, Jg. 1984, ist Biologie-Lehrerin und seit 2021 Pädagogische Leiterin des Schul-Umwelt-Zentrums Berlin-Mitte. Sie hat Biologie und Deutsch für das Lehramt der Sekundarstufen I und II an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und war dort wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Didaktik der Biologie. Nach ihrer Promotion in Didaktik der Biologie an der Lebenswissenschaftlichen Fakultät unterrichtete sie Biologie und Deutsch am Lessing-Gymnasium in Berlin-Mitte.

Veröffentlichung:

Orsenne, J. (2015): Aktivierung von Schülervorstellungen zu Modellen durch praktische Tätigkeiten der Modellbildung. Dissertation Humboldt-Universität zu Berlin.

Schulgesetz für das Land Berlin , § 124: Jugendkunstschulen, Jugendverkehrsschulen und Gartenarbeitsschulen

„(...)
(4) Die Gartenarbeitsschulen haben die Aufgabe, Kindern und Jugendlichen den chancengerechten Zugang zu Umweltbildung und Umwelterziehung zu eröffnen.

Sie unterbreiten unterrichtliche, außerunterrichtliche und außerschulische Angebote und kooperieren mit den Schulen und Einrichtungen in öffentlicher und privater Trägerschaft.
Sie können auch Ausbildungsorte sein.

Die für die Gartenarbeitsschulen zuständige Senatsverwaltung entwickelt gemeinsame Qualitätsstandards für die Gartenarbeitsschulen.“

Der Standort Scharnweberstraße wurde 1950 unter dem Begriff Gartenarbeitsschule gegründet. Die Idee zur Gründung wurzelt in der Reformpädagogik der 1920er Jahre. Den ersten Schülergarten Berlins richteten die Reformer in Neukölln ein.

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