Ganztagsschule braucht Sportsozialarbeit : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Thüringer Sportvereine kooperieren traditionell mit Ganztagsschulen. Anette Weidensee, Referentin für Kinder- und Jugendsport im Landessportbund, geht weiter: Sie wünscht sich Sport-Sozialarbeiter für alle Schulen.

Anette Weidensee
Anette Weidensee © LSB Thüringen

Online-Redaktion: Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit mit Ganztagsschulen für die Sportvereine in Thüringen?

Anette Weidensee: Eine sehr große, vor allem aber eine sehr lange Tradition. Vereine, die eine Kooperation mit Schulen eingehen, nutzen auch die Möglichkeit, auf die eigenen Angebote aufmerksam zu machen. Außerdem leisten sie einen Beitrag dazu, Kinder und Jugendliche in Bewegung zu bringen oder zu halten. In unserem Bundesland Thüringen gibt es 3400 Vereine. Davon kooperieren 600 mit Schulen. Das klingt wenig, ist aber für unser vergleichsweise kleines Land sehr viel, zumal, wenn man berücksichtigt, dass weniger als die Hälfte aller Vereine, nämlich 1500, überhaupt über Kinder- und Jugendsportabteilungen verfügen.

Die Kooperation mit Schulen hat bei uns ebenso Tradition wie der Ganztag. Dabei reden wir über die Grund- und Gemeinschaftsschulen. Alle Grundschulen in Thüringen haben einen Schulhort, die Erzieherinnen und Erzieher sind bei uns Landesangestellte wie Lehrkräfte. Und seit bald 35 Jahren haben wir eine entsprechende Kooperationsvereinbarung zwischen dem Land und dem Landessportbund.

Online-Redaktion: Stellen ländliche Regionen eine besondere Herausforderung dar?

Weidensee: Wenn man als kleiner Verein im Ort verankert ist, ist das normalerweise kein Problem. Man kennt sich, kann unbürokratisch ausloten, was möglich ist. Unkomplizierte Abwicklung ist meines Erachtens die Erfolgsgarantie für jede Kooperation – weder Vereine noch Ganztagsschulen möchten sich ewig mit Papierkram herumschlagen. Das größere Problem ist aber oft die geringe Vielfalt der Sportarten in den Vereinen. In unserem ländlich geprägten Flächenland überwiegen die kleinen Vereine mit durchschnittlich 50 bis 100 Mitgliedern. Die Sportarten reduzieren sich in den kleinen Clubs mitunter auf Fußball und Kinderturnen.

Online-Redaktion: Welche Ziele verfolgt der Landessportbund Thüringen in Sachen Kooperation?

Weidensee: Wir möchten unsere Vereine dafür gewinnen, bei ihren Offerten an die Schulen nicht nur auf die eigenen Sportangebote zu achten. Wir werben für Bewegungsangebote in Ganztagsschulen, aber auch schon in den Kitas. Dafür bieten wir zahlreiche Beratungen und Fortbildungen, übrigens auch für die Erzieherinnen und Erzieher an. Wir alle wissen, wie wichtig es ist, dass Kinder ihrem natürlichen Bewegungsdrang folgen können. Je älter sie werden, umso mehr benötigen sie dafür aber neue und neugierig machende Impulse, auch um ein Bewusstsein für den eigenen Körper und ihre Gesundheit entwickeln zu können. Dabei erinnern wir unsere Vereine immer daran, dass auch durch sportartunabhängige Angebote gute Kontakte zu Kindern und Jugendlichen, ja sogar deren Eltern geknüpft werden können. Die Kinder, aber auch die Eltern sind die potenziellen Mitglieder von morgen.

"Wir werben für Bewegungsangebote"
"Wir werben für Bewegungsangebote" © THSJ/Karina Heßland-Wisse

Online-Redaktion: Welche Unterstützung bieten Sie darüber hinaus?

Weidensee: Beratungen, Fortbildungen und Materialien habe ich genannt. Als wichtig und wertvoll hat sich außerdem unsere Kontaktbörse für Kooperation erwiesen. Auf einer Internetseite bieten Sportvereine ihre Angebote an und die Schulen „veröffentlichen“ sozusagen ihre Wünsche. Auf diese Weise sind bereits zahlreiche, zum Teil langfristige und geschätzte Formen der Zusammenarbeit entstanden.

Online-Redaktion: Sind Sie mit dem Engagement der Vereine in den Ganztagsschulen zufrieden?

Weidensee: Bei solch einer Beurteilung muss man ja immer berücksichtigen, wo man „herkommt“. Derzeit haben 600 Vereine, die mit Schulen und Kitas zusammenarbeiten, insgesamt 1700 Kooperationsvereinbarungen abgeschlossen. Durchschnittlich ist ein Verein also drei Kooperationen eingegangen. Damit erreichen wir jährlich bis zu 22.000 Kinder. Das ist für ein kleines Land eine große Zahl. Natürlich können es gern noch mehr Vereine sein, die die Chance ergreifen und Angebote für Kinder und somit Werbung für den eigenen Verein und die eigenen Sportarten machen. Das gelingt übrigens neben Unterrichts- und Ganztagsangeboten auch wunderbar durch eigene Ferienangebote.

Eine Herausforderung ist für die Vereine das Personal. Sie benötigen qualifizierte Trainerinnen und Trainer, die während des Schultages auch über freie zeitliche Kapazitäten verfügen. Häufig handelt es sich dabei inzwischen um sportliche Seniorinnen und Senioren oder aber ganz junge Menschen wie Schülerinnen und Schüler oder Studierende, bzw. Menschen mit flexibler Arbeitszeit. Was wir aber grundsätzlich feststellen: Zumeist handelt es sich um Sportbegeisterte, die sich für den eigenen Verein interessieren und bereit sind, sich für ihn einzusetzen. Genau diese suchen wir beziehungsweise die Vereine.

Online-Redaktion: Spielt die Bezahlung der Übungsleiterinnen und -leiter eine Rolle?

Weidensee: Viel in unseren Vereinen geschieht noch aus Idealismus und als mehr oder weniger ehrenamtliche Tätigkeit. Eben aus Begeisterung für den Sport und den Verein. Doch natürlich ist die Zeit auch in Thüringen nicht stehengeblieben. Wer sich engagiert, möchte dafür zumindest eine Anerkennung. Vielen genügt es, wenn die Tätigkeit gewürdigt wird, andere sehen in einem Honorar einen Ansporn. Reich wird niemand dadurch. Die Vereine können vom Landessportbund 300 Euro als Grundförderung für den Einsatz in der Schule oder Kita sowie für die Anschaffung von Material erhalten. Das geht völlig unkompliziert und online. Mehr ist es, wenn die Vergütung aus dem Thüringer Schulbudget erfolgt.

LSB Thüringen Logo
© LSB Thüringen

Doch der bürokratische Aufwand bei der Finanzierung über die Schule ist sehr groß. Zu groß für manche Vereine. Sie möchten ein Papier, eine Seite mit einfachen und verständlichen und trotzdem verbindlichen Absprachen. Wir glauben, dass ein einfacherer Weg der Förderung manch einen Verein aus der Reserve locken würde. Dazu müssten wir, also der Landessportbund, in die Lage versetzt werden, unsere Fördermöglichkeiten von 300 Euro zu verdreifachen. Wir würden es begrüßen, wenn das Ganztagsfördergesetz uns hier mehr Möglichkeiten bieten würde.

Online-Redaktion: Corona hat zu einem Aufholbedarf in Sachen Bewegung geführt. Wie reagieren Sie darauf?

Weidensee: Der Bund hat glücklicherweise ein Programm zur Unterstützung der Vereine nach der Pandemie aufgelegt. Dadurch war es uns möglich, eine bereits 2014 entwickelte Idee umzusetzen. Wir konnten 13 sogenannte Bewegungscoachs einstellen. Sie unterstützen Vereine in Thüringen, beraten sie, koordinieren Übungszeiten, helfen erforderliche Hallen- und Sportplatzzeiten zu finden. Selbstverständlich spielt, wenn gewünscht, auch die Zusammenarbeit mit Schulen eine Rolle. Und: Die Coaches unterstützen Kinder und Jugendliche bei der Suche nach der für sie richtigen Sportart.

Natürlich reichen 13 Coaches nicht aus, um allen Bedürfnissen nachkommen zu können. Aber es ist viel besser als nichts. Wir haben klare Kriterien festgelegt nach denen entschieden wird, wer den Zuschlag für einen Coach erhält. Dazu zählt die Frage, wieviel Bedeutung Kooperationspartnern eingeräumt wird, aber auch, in welchem Sozialraum Verein und ggf. Schule und Kita liegen. Und wir schauen darauf, ob der Verein eines Tages in der Lage und bereit ist, das gemeinsam mit dem Coach Angestoßene fortzuführen. Wir möchten keine Eintagsfliegen fördern.

Online-Redaktion: Wenn Sie mit Blick auf die Kooperation mit Ganztagsschulen einen Wunsch frei hätten...

Weidensee: Dann wünsche ich mir und träume davon, dass Schulen künftig nicht nur einen Schulsozialarbeiter, sondern zusätzlich einen Sportsozialarbeiter haben. Jemanden, der sportliche Angebote macht, der Schülerinnen und Schüler berät. Wir alle wissen schließlich, welche Bedeutung Bewegung und Sport auch im sozialen und psychischen Bereich zukommt. Wir würden gerne dazu beitragen, sukzessive einen Stamm von Bewegungscoachs an Schulen aufzubauen, zum Beispiel über ein duales Studium. Denn das wird ehrenamtlich alleine nicht gehen. Der Sport muss sich da weiter professionell aufstellen.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Anette Weidensee, Jg. 1966, ist Referentin für Kinder- und Jugendsportentwicklung in der Geschäftsstelle des Landessportbunds Thüringen in Erfurt. Nach ihrem Abitur hat sie Sportwissenschaften mit dem Schwerpunkt Breiten- und Freizeitsport in Leipzig studiert. Die ehemalige Leistungssportlerin im Schwimmen und der Leichtathletik ist seit 40 Jahren als Trainerin aktiv. Seit über drei Jahrzehnten unterstützt sie den Landessportspund Thüringen in unterschiedlichen Funktionen und Positionen. Sie hat Projekte wie „Bewegungscoachs für Kinder in Thüringen“ im Rahmen des Landesaktionsprogramms „Stärken - Unterstützen – Abholen“ für Kinder und Jugendliche nach Corona, „Bewegte Kinder = Gesündere Kinder“, das Qualitätssiegel „Bewegungsfreundliche Kindertagesstätte“ oder den Thüringer Kinder- und Jugendsportpreis begleitet.

Kategorien: Kooperationen

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