Raus ins grüne Klassenzimmer : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Wer sagt denn, dass Schule in der Schule stattfinden muss? Wald und Flur sind ideale Lern-, Erlebnis- und Spielorte, wenn Kinder sie auf ihre eigene Weise entdecken können. Das Projekt "Industriewald" beweist, wie vielfältig das Nachmittagsangebot einer Ganztagsschule sein kann.

Auf den riesigen menschenleeren Industriebrachen des Ruhrgebiets kann man es schon nach wenigen Monaten beobachten: Die Natur erobert sich diese Areale Stück für Stück zurück: Hauptsächlich Birken schießen an jeder Ecke aus der Erde, sogar auf den Metalltreppen wuchert irgendwie Grün. Ein faszinierender Anblick - der aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Viele Gelände sind abgesperrt. Aber selbst wenn sie es nicht wären, ist es dennoch fraglich, ob sich zum Beispiel Kinder und Jugendliche überhaupt für diese Orte oder den Wald interessieren würden.

Ein Schüler sammelt Farn
Schüler lernen im Wald selbstständig

"Der Wald ist ein exzellenter Lernort, aber man muss die Kinder erst mal auf ihn aufmerksam machen", meint Dr. Henning Schüler vom Primarstufenzentrum des Zentrums für Lehrerbildung der Universität Siegen. Seit 20 Jahren macht Dr. Schüler sowohl mit den Lehramtsstudenten wie mit Grundschulklassen Ausflüge in den Wald und übernachtet dort manchmal auch mit ihnen. Das Erleben der Natur sei für Ganztagsschulen als Fach oder Arbeitsgemeinschaft am Nachmittag ideal geeignet: "Wir können die Kinder am Nachmittag nicht auch noch in der Schule einsperren. Schulgebäude sind für Lesen, Schreiben und Rechnen bestens geeignet, aber nur draußen finden die Kinder automatisch eine Umwelt voller Anregungen."

Ein Tag pro Woche nach draußen

Mit dieser Erkenntnis steht der Pädagoge nicht alleine da. Durch das Projekt "Industrie-Wald als Lern- und Erlebnisraum für Kinder der Offenen Ganztagsgrundschulen in NRW" will das nordrhein-westfälische Ministerium für Umwelt, Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz mehr Kinder in den Genuss des "grünen Klassenzimmers" kommen lassen. Im Auftrag des Ministeriums konzipiert, organisiert und begleitet das Geographische Institut der Ruhr-Universität Bochum unter Leitung von Prof. Dr. Karl-Heinz Otto und Dr. Andreas Keil vom Institut "Geographie und ihre Didaktik" der Universität Dortmund dieses Vorhaben, das zunächst bis Herbst befristet ist.

Von Ministeriumsseite ist Renate Späth aus der Abteilung Forst und Naturschutz mit dem Projekt betraut. Die Idee für "Industrie-Wald" ergab sich Ende des letzten Jahres durch die Frage, ob man die rund 250 Hektar Brachflächen ehemaliger Stahl- und Kohleindustrie nicht auch als "außerschulischen Lernort" nutzen könne. Als Vorbild stand die Städtische Gemeinschaftsgrundschule Deininghausen in Castrop-Rauxel, die als Offene Ganztagsgrundschule seit Schuljahrsbeginn eine "Wald-AG" am Nachmittag anbietet. Hier gehen Schülerinnen und Schüler zusammen mit einem Förster zwar nicht auf eine Industriebrache, aber in den nahe gelegenen Wald. Daneben ist bekannt, dass in den skandinavischen Ländern die Kinder viel häufiger draußen sind. "In Norwegen gibt es sogar die Verpflichtung, einen Tag pro Woche draußen abzuhalten", weiß Frau Späth.

Zur Durchführung von "Industrie-Wald" setzte sie sich mit Prof. Otto und Dr. Keil in Verbindung. Mit dem Projekt sind nun drei Mitarbeiter betreut: Die Diplom-Pädagogin Tanja Kiehne, der Diplom-Biologe Andreas Witte und Hauke Heimel vom Geographischen Institut.

Am 12. März 2004 organisierte dieses Projektteam als Auftaktveranstaltung einen Workshop "Raus ins Vergnügen!" in Oberhausen. Unter Mitwirkung ausgewählter Referentinnen und Referenten aus Bildung und Forschung sollte hier ein kreativer Diskurs angestoßen werden, wie die (Industrie-)Wälder der Rhein-Ruhr-Region von offenen Ganztagsgrundschulen als Lern- und Erlebnisraum erschlossen werden können. Es wurden Ideen entwickelt, Kontakte geknüpft, Bedarfe ermittelt und Kriterien für die Umsetzung erarbeitet. Arbeitsgruppen befassten sich mit der Frage "Mit Kindern unterwegs - wie wird Wald zum Vergnügen?" Die Teilnehmer diskutierten, was man mit Kindern im Wald machen könne und wer geeignet sei, dort mit ihnen hinzugehen.

Am Anfang maulen die Kinder

Neben Renate Späth referierten Rolf Schulz vom Landesinstitut für Schule in Soest, Dr. Klaus Jebbink von der Universität Duisburg-Essen sowie Dr. Schüler. Nach der Auftaktveranstaltung ist dieser überzeugt, dass sich in der Lehrerbildung etwas ändern muss. "Die Didaktik des Vormittags reicht für den Nachmittag nicht aus. Man sollte bereits mit Lehramtsstudenten in den Wald gehen und mit Lehrern dort Fortbildungen abhalten. Es reicht nicht, sich als Schule für drei Stunden einen Förster zu engagieren oder als Lehrer nur den Oberspielleiter zu geben."

Um Wege zu einer erfolgreichen Waldpädagogik aufzuzeigen, werden die Projektteilnehmer im Herbst Bilanz aus den mit den Klassen gemachten Erfahrungen ziehen: Wie bringt man den Schülerinnen und Schülern den Wald am besten nahe? Was spricht die Kinder besonders an? Die gewonnenen Erkenntnisse sollen in das Lehramtsstudium, das Referendariat und die Lehrerweiterbildung einfließen. "Die Ergebnisse müssen dann durch Multiplikatoren weitergetragen werden", beschreibt Prof. Otto den Prozess einer Implementierung in der Lehre.

Ulrike Goliath hat mit ihrer "Wald AG" die Erfahrung gemacht, dass es zu Beginn mühsam sein kann, mit den Schülerinnen und Schülern in den Wald zu gehen. "Am Anfang maulten die Kinder noch und wussten nicht, was sie überhaupt im Wald sollen. Sie nölten, weil sie keinen Fußball oder Gameboy mit in den Wald nehmen durften, doch das hat sich schnell gelegt", berichtet die Schulleiterin. Einmal die Woche begleitet der Förster Olaf Möllemann am Nachmittag eine altersgemischte Gruppe mit Kindern von sechs bis zehn Jahren in den nahegelegenen Forst. Dort sichten sie Tierspuren, malen mit Waldutensilien Bilder, bauen ein Waldsofa, bestimmen Bäume und Pflanzen und nehmen Düfte und Sinne wahr.

Ein Wald voller Palmen und Gorillas

"Viele Kinder wissen überhaupt nicht, wie es im Wald riecht und was es dort gibt", erzählt Frau Goliath. Das wurde auch offensichtlich, als 35 Erstklässler Bilder malen sollten, wie sie sich den Wald vorstellen: "Von Palmen bis Gorillas kam da alles Mögliche vor", so die Schulleiterin. Die Malaktion war der Auftakt für eine erste Kooperation mit "Industriewald". Im Februar waren Tanja Kiehne und Andreas Witte von der Ruhr-Universität an die Schule gekommen. Nun werden sämtliche Erstklässler mit den Projektmitarbeitern einmal die Woche am Vormittag ebenfalls in den Wald gehen. Nach den Erfahrungen mit der "Wald AG" erhofft sich Frau Goliath auch von diesem Unterricht im Grünen Positives: "Die Kinder haben sich im Umgang miteinander verbessert und machen auch im Lernen wichtige Erfahrungen im Wald: Zum Beispiel, dass es besser ist, etwas zusammen zu tragen, oder einfacher, kleinere als größere Äste zu zersägen. Auch im Umgang mit der Witterung merkt man eine Veränderung. Ein Kind lernt nun mal nicht nur, wenn es vor einem Arbeitsblatt sitzt."

Andreas Witte arbeitet seit zehn Jahren im Bereich der Waldpädagogik. "Am Anfang muss man die Schüler an die Hand nehmen, aber von Stunde zu Stunde kann man ihnen weniger Anleitung geben", erläutert er. "Ziel ist es, dass die Kinder den Wald kennen lernen. Für sie ist es eine große Chance, neue Erlebnis- und Lernorte zu entdecken." Bei regelmäßigen Ausflügen entwickelten die Schülerinnen und Schüler auch Gefühle für den Wald, berichtet der Biologe von seinen Erfahrungen.

"Der Schüler ist in unserem Projekt Subjekt und kein Objekt der Lernens", erklärt Projektleiter Prof. Otto. "Das traditionelle, eher passive Belehrtwerden tritt hier zurück. Statt dessen sollen die Kinder selbstständig werden und kreativ mit der Natur umgehen lernen, dem Wind zuhören oder ein Eichhörnchen beobachten. Auch das ist ganz klar ein Ziel unseres Projekts."

Nach der Konzeption und dem Finden von Partnerschulen haben Andreas Witte und seine Mitstreiter bis zum Herbst Zeit, um den Grundschülerinnen und -schülern eine Beziehung zum Wald zu vermitteln. Wenn es nach Prof. Otto und seinem Projektteam geht, mit Erfolg: "Das Beste für unsere Kinder sollte uns gerade gut genug sein, und das Beste, was wir für sie tun können, ist, mit ihnen rauszugehen"

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