piko: Physikunterricht, der Kinder und Jugendliche fesselt : Datum: Autor: Autor/in: Arnd Zickgraf

Physik im Kontext (piko) ist ein Schulentwicklungsprogramm des Leibniz-Instituts für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel (IPN), das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Ziel dieses bundesweit angelegten Projektes ist es, die naturwissenschaftliche Grundbildung junger Menschen zu verbessern. Mit einer Vielfalt von Methoden soll piko dazu beitragen, den Physikunterricht in Zukunft aufzulockern und so Mädchen und Jungen gleichermaßen für physikalische und naturwissenschaftliche Fragestellungen aufzuschließen. Ganztagsschulen spielen dabei eine zentrale Rolle.

Logo: piko - Physik im Kontext

Online-Redaktion: Die Verbesserung des naturwissenschaftlichen Unterrichts, vor allem des Physikunterrichts braucht Zeit. An Ganztagsschulen gibt es dieses größere Zeitkontingent. Wie könnte dieses Mehr an Zeit genutzt werden, um den Physikunterricht interessanter zu gestalten?

Euler: Eines der wesentlichen Probleme des derzeitigen Physikunterrichts ist die Stofffülle. Ein umfangreicher Lehrplan muss in relativ kurzer Zeit abgearbeitet werden. Das führt dazu, dass viele Lehrer ihren Unterricht stark lehrerzentriert anlegen und wenig Raum für eigenständige und selbstverantwortliche Schüleraktivitäten bleibt. Das größere Zeitbudget der Ganztagsschulen bietet die Möglichkeit, ein vielfältiges Spektrum von Lehr-Lern-Formen gezielt einzusetzen.

Zusätzlich zum regulären Unterricht lassen sich Projekte und Fördergruppen realisieren, in denen wirkungsvolle, aber zeitintensive Arbeitsformen wie der Workshopansatz oder andere projektorientierte Methoden umgesetzt werden können. Solche Projekte bieten auch den Rahmen für ein umfangreicheres selbständiges Experimentieren und Lernen der Schülerinnen und Schüler. Dabei werden nicht nur die handwerklichen Fertigkeiten eingeübt, sondern die Jugendlichen erleben auch, wie der Prozess wissenschaftlichen Arbeitens abläuft: vom Aufstellen von Hypothesen und kreativen Einsichten über das Experimentieren und Modellieren zur Bestätigung oder zum Verwerfen theoretischer Überlegungen. Experimente, die an Erfahrungen der Alltagswelt anknüpfen, können das Interesse und die Motivation fördern, indem sie deutlich machen, welchen Nutzen die physikalische Weltsicht und naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen für das Verständnis der Lebenswelt haben.

Für Lernende, denen theoretische Zugänge weniger liegen, bieten praxisnahe Arbeitsformen einen adäquaten Einstieg in physikalische und technische Themen. Authentisches Arbeiten und Problemlösen sowie Experimentieren und Konstruieren bieten darüber hinaus Möglichkeiten zum Entfalten kreativer Potentiale, die unsere Gesellschaft für die Gestaltung von Zukunft dringend benötigt. Praxisnahe, projektartige Arbeitsformen sind nach unseren Erfahrungen auch aus dem Bereich außerschulischer Lernorte in der Spitzen- ebenso wie Breitenförderung gleichermaßen wirksam.

Online-Redaktion: Welches Repertoire interessanter und moderner Methoden im Physikunterricht hat piko Ganztagsschülern zu bieten, um Physikunterricht aufzulockern?

Müller: Bei piko geht es nicht darum, einzelne Methoden zu favorisieren, sondern den Unterricht auf einer Vielfalt von Methoden aufzubauen. Dazu gehören eher lehrerzentrierte Vorgehensweisen ebenso wie das aus der erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Literatur bekannte Methodenspektrum, bei dem die Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt steht. Zu diesen Formen gehören z.B. Gruppenarbeit und Lernzirkel ebenso wie das Gruppenpuzzle, Workshops oder die Portfoliomethode. Wichtig ist, dass sich die Auswahl der Methoden an den Lehr- und Lernzielen des Unterrichts orientiert. So ist bei der Planung des Unterrichts z.B. zu berücksichtigen, dass Schülerinnen und Schüler mit ihren eigenen Vorstellungen in den Unterricht kommen und die dargebotenen Inhalte entsprechend ihres Vorwissens wahrnehmen und interpretieren.

Lernende haben darüber hinaus spezifische Lernstrategien und -vorlieben. Beiden Aspekten ist bei der Gestaltung des Unterrichts Rechnung zu tragen. Je nach Ziel des Unterrichts bietet sich eine unterschiedliche Kombination von Lehrmethoden an. Bei der Entwicklung der Konzepte und Materialien im Rahmen von piko soll darauf geachtet werden, dass der Unterricht dem Lehrer Gelegenheit bietet, die Alltagsvorstellungen seiner Schüler zu erkunden und sich gemeinsam mit ihnen mit diesen Vorstellungen auseinander zu setzen. Der Unterricht soll außerdem verschiedene Arbeitsmethoden ausgewogen verwenden, um den unterschiedlichen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler ein möglichst breites Angebot an Lerngelegenheiten gegenüber zu stellen. Für die Weiterentwicklung der Unterrichtskultur ist es vordringlich, eine bessere Balance zwischen lehrerzentrierten Instruktionsphasen und schülerzentrierten Arbeits- und Konstruktionsphasen zu realisieren.

Online-Redaktion: Was müsste getan werden, um Mädchen einen ansprechenden Physikunterricht zu anzubieten?

Mikelskis-Seifert: Wir wissen aus der fachdidaktischen Forschung, dass es einige Faktoren gibt, die das Interesse von Mädchen und Jungen beeinflussen. Für Mädchen ist es beispielsweise wichtig, welche Anwendungen physikalischer Prinzipien im Unterricht diskutiert werden. Ein Beispiel: Wenn im Unterricht über Pumpen gesprochen wird, so interessiert das 60 Prozent aller Jungen. Für die Mädchen spielt die Art der Pumpe eine Rolle: für Pumpen als künstliche Herzen interessieren sich 80 Prozent der Mädchen, für Pumpen zum Ölfördern nur 40 Prozent. Ein geringes Interesse der Mädchen lässt sich also ausgleichen oder anheben, wenn man den Unterrichtsgegenstand in einen Anwendungsbereich einbettet, der ihren Interessen entgegen kommt.

Dazu gehören z.B. "erstaunliche Phänomene", Themen, die einen Bezug zum menschlichen Körper haben und Diskussionen über die gesellschaftliche Bedeutung der Naturwissenschaften. Eine Orientierung des Unterrichts an den Interessen der Mädchen hat für die Jungen keinen negativen Effekt: Was für die Mädchen interessant ist, interessiert auch die Jungen - umgekehrt gilt das nicht. Diese Erkenntnisse werden in der gemeinsamen Arbeit von Lehrkräften und Fachdidaktikern bei piko aufgegriffen: Zu den Zielen des Projekts gehört es, bei der Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte und -materialien die Interessen der Mädchen zu berücksichtigen und den Unterricht mit Anwendungsbeispielen zu verknüpfen, die den Interessen der Mädchen stärker entgegen kommen.

Es ist zu erwarten, dass solche Maßnahmen nicht nur das Interesse, sondern auch den Lernerfolg der Mädchen verbessern. Mädchen können darüber hinaus auch gefördert werden, indem sie in einzelnen Phasen des Unterrichts, z.B. beim Experimentieren, in geschlechtshomogenen Gruppen zusammenarbeiten. Unter diesen Bedingungen zeigen Erfahrungen aus dem Unterricht ebenso wie von außerschulischen Lernorten, dass das Interesse der Mädchen geweckt wird und sie ebenso gute Leistungen wie die Jungen erzielen.

Online-Redaktion: Welche Möglichkeiten hat das piko-Team, Lehrerinnen und Lehrer dabei zu unterstützen, faszinierende Physikprojekte zu realisieren, die den Wünschen der Jugendlichen entsprechen?

Müller: Die Unterstützung, die piko den beteiligten Lehrerinnen und Lehrern bietet, besteht vor allem in der Bereitstellung fachdidaktischen Know-hows. Das piko-Team arbeitet an der Entwicklung einer Sammlung von Materialien, den sogenannten piko-Briefen, in denen die Ergebnisse moderner fachdidaktischer Forschung kurz und prägnant zusammengefasst und durch praxisnahe Anwendungsbeispiele illustriert werden. Diese Materialien bilden eine Arbeitsgrundlage für die Zusammenarbeit zwischen Lehrkräften und Fachdidaktikern. Die Aufgabe des piko-Teams besteht vor allem darin, die Lehrkräfte bei der Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte und -materialien zu unterstützen, indem sie diese Entwicklungsarbeiten durch die Integration fachdidaktischer Erkenntnisse bereichern und untermauern.

Euler: Bezogen auf die thematischen Kontexte geht es auch darum, mit Physik die Welt besser zu begreifen. Die Themenpalette, die Schülerinnen und Schüler interessiert, ist sehr breit. Dazu gehören z.B. "Physik des menschlichen Organismus", "Physik und Medizin", "Physik und Sport", "Physik und Verkehr", "Physik und Musik" oder "Physik im System Erde". Vor allem im Bereich der modernen Technologien ist es möglich, mit relativ preiswerten Mitteln interessante, realitätsnahe und technisch relevante Experimente zu entwickeln -beispielsweise physikalische Technologien, die ganz wesentlich unser Leben bestimmen, z.B. im Bereich Kommunikation, Mobilität, Energie und Umwelt.

Online-Redaktion: Gibt es Standards für die Ausstattung von Schullaboren? Wie könnten Sie Ganztagsschulen bei der Ausstattung ihrer Physiklabore unter die Arme greifen?

Euler: piko hat keine Möglichkeiten, die Ausstattungsprobleme von Schulen zu lösen. Wir bieten aber Unterstützung an, wie man zu intelligenten Lösungen kommen kann, auch wenn das Budget sehr knapp ist. Beispielsweise ist es möglich, viele Schülerexperimente im Low-Cost-Bereich im Rahmen von Projekten durch die Schülerinnen und Schüler selbst mit entwickeln und realisieren zu lassen. Dies gilt für Experimente aus Alltag und Lebenswelt, die sich mit allseits verfügbaren Materialien einfach realisieren lassen. Es gilt aber auch für eine ganze Reihe von Experimenten im Bereich moderner Technologien. Unter dem Stichwort "Low-Cost"- und "High-Tech"-Experimente haben wir gute Erfahrungen sammeln können, beispielsweise mit Messwertaufnahmen und Computerauswertungen mit Low-Cost-Sensoren im Bereich der Mechanik sowie mit Experimenten zur Akustik und Musik mit Soundkarten, über die mittlerweile jeder Heimcomputer verfügt.

Eine gute Ausstattung der Schulen ist zwar eine wichtige Voraussetzung, um mit Schülerinnen und Schülern experimentieren zu können. Noch entscheidender ist aber nach unseren Beobachtungen, dass Lehrkräfte die vorhandenen Mittel effizient und kreativ nutzen, um intelligente Lösungen für Schülerexperimente zu entwickeln und Lernumgebungen zu realisieren, welche die Lernenden zu eigener interaktiver Auseinandersetzung mit physikalischen Themen und Arbeitsweisen anregen.

Online-Redaktion: Piko will, dass Schüler mehr als Fakten über Naturwissenschaften anhäufen. Sie sollen anhand naturwissenschaftlicher Experimente anders Denken lernen. Welche Wege zum selbstständigen Denken am Leitfaden der Physik haben sich aus Ihrer Sicht bewährt?

Mikelskis-Seifert: piko geht von bestimmten Grundannahmen aus, wie Schülerinnen und Schüler zum Denken angeregt werden können. Die Übernahme von Verantwortung für das eigene Lernen sowie die Fähigkeit zur Teamarbeit sind dabei zentral. In einem solchen Zusammenhang verschiebt sich die Rolle des Lehrers von der eines Informationsvermittlers zu der eines Lernberaters. Dabei kann die Förderung der Schülerinnen und Schüler nicht punktuell an einzelnen Stellen ansetzen. Wichtig ist, dass das selbständige Denken möglichst früh angeregt und schrittweise unterstützt und aufgebaut wird. Demzufolge müssen die Schülerinnen und Schüler entsprechend ihren Möglichkeiten gefordert und gefördert werden. Dazu eignet sich z.B. der Projektunterricht, in dem Lernende eigene Forschungsfragen oder Problemstellungen entwickeln und diesen mit geeigneten Untersuchungsmethoden nachgehen.

Für das Lernen von Naturwissenschaften ist insbesondere von Bedeutung, früh mit der Betrachtung von physikalischen Phänomenen zu beginnen, um die natürliche Neugier der Lernenden aufgreifen zu können. Darauf aufbauend sollen Schülerinnen und Schüler angemessene physikalische Denk- und Arbeitweisen kennen- und anwenden lernen. Die weitere methodische Gestaltung richtet sich nach dem jeweils verfolgten Ziel: Während z.B. das Vertrautwerden mit physikalischen Phänomenen und Gesetzen eine stärkere Steuerung durch den Lehrer erfordert, bietet sich beim Erlernen des Anwendens naturwissenschaftlicher Denk- und Arbeitsweisen die Durchführung von Schülerexperimenten oder Lernzirkeln an, bei denen der Lehrer die Rolle eines Lernberaters einnimmt.

Online-Redaktion: Welche Rolle könnten Ganztagsschulen spielen, wenn es darum geht, nach der Phase des Modellversuches die Ergebnisse von piko in die Breite zu tragen?

Müller: Im Rahmen von piko wird eine Reihe neuer Unterrichtskonzepte und -materialien entstehen. Diese Konzepte sollen in der zweiten Phase des Projekts bundesweit verbreitet werden. Eine solche Verbreitung setzt voraus, dass die Konzepte für die Anforderungen, Bedürfnisse und Rahmenbedingungen der jeweiligen Schule, des Unterrichts und der Lehrkräfte adaptiert und erprobt werden. Gerade die Ganztagsschule mit ihrem größeren Zeitbudget und größeren Gestaltungsspielräumen stellt ein optimales Umfeld dar, in dem eine solche Adaptation und Erprobung stattfinden kann. Die Ganztagsschulen können damit wesentlich dazu beitragen, die Weiterverbreitung von piko zu ermöglichen. Sie können zugleich in besonderer Weise von piko profitieren, da das Programm ein breites Spektrum neuer Methoden und Konzepte bereitstellt, mit dem der Regelunterricht sinnvoll ergänzt und bereichert werden kann. Dabei ist vor allem an eine stärkere Bezugnahme auf die Probleme und Anforderungen der Alltagswelt der Schülerinnen und Schüler gedacht, die das Interesse an Physik fördern und Perspektiven für die spätere Berufswahl eröffnen kann.

Physik im Kontext (piko). Ein Programm zur Förderung der naturwissenschaftlichen Grundbildung durch Physikunterricht:
Prof. Dr. Manfred Euler (Projektleiter)
Prof. Dr. Silke Mikelskis-Seifert (Juniorprofessorin)
Dr. Christoph T. Müller (Projektkoordinator)

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