Kathrin Aghamiri: "Ganztagsschule darf nicht nur zweckorientiert arbeiten" : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die Ganztagsschule bietet auch Chancen, Kinder in schwierigen Situationen zu unterstützen und sie wichtige soziale Erfahrungen sammeln zu lassen. Davon ist die Diplom-Sozialpädagogin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Kiel im Bereich Erziehung und Bildung, Kathrin Aghamiri, überzeugt.

Porträtfoto von Frau Kathrin Aghamiri
Kathrin Aghamiri © privat

Online-Redaktion: Warum fällt der Einstieg in die Schule manchen Kindern leichter als anderen?

Kathrin Aghamiri: Man kann davon ausgehen, dass sich alle Kinder auf die Schule freuen und dazu gehören wollen. Die Einschulung ist eine der größten positiven Erwartungen, die ein Kind hat. Aber die Kinder kommen mit zunehmend unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule. Für die einen ist sie die Fortsetzung ihrer Bildungserfahrung in Kita und Elternhaus, andere hingegen begegnen in der Schule Regeln und Erwartungen, die sie bisher nicht kennen gelernt haben.

Online-Redaktion: Wo sehen Sie die Gründe für die unterschiedlichen Startchancen?

Aghamiri: Kinder wachsen heute unter vielfältigsten Bedingungen auf: Familienformen haben sich gewandelt und vervielfacht, ihr sozialräumliches Umfeld können sich Kinder vor allem in Großstädten oftmals nicht mehr allein erschließen, soziale Kontakte zu Gleichaltrigen fehlen zusehends. Familien stehen heute nicht selten unter einem größeren ökonomischen oder sozialen Druck. In der Forschung wird diese Erfahrung auch als "Dekulturation" bezeichnet, das heißt, manche Kinder erleben Schule als eine ihnen fremde Lern- und Lebenswelt.

Online-Redaktion: Mit welchen Folgen?

Aghamiri: Diese Schüler stehen vor der großen Herausforderung, die Regeln zu entschlüsseln und ihren Platz zu finden. Schule behandelt Schüler zunächst als homogene Gruppe, und dort kann man hinein passen oder nicht. Das bedeutet für manche Kinder große Unsicherheiten. Wird dann von "schwierigen Kindern" gesprochen, suggeriert man, dass ein einzelnes Kind die Möglichkeit hätte, sich einfach für ein gewünschtes Verhalten zu entscheiden. Kinder können sich aber nur entscheiden, wenn sie Wahlmöglichkeiten haben. Dafür müssen sie sich soziale Verhaltens- und Handlungsmuster erst aneignen. Schule könnte hierfür ein Ort sein. Allerdings hat Schule die Tendenz, ihre eigene Überforderung mit Vielfalt an die Kinder zu delegieren und sie als "schwierig" zu markieren. Damit verschiebt Schule die Verantwortung allein auf die einzelnen Kinder. Das wiederum kann zu einer Spirale der Abwertung führen. Deshalb sprechen wir lieber von "Kindern in schwierigen Situationen" - um auf ihre Bewältigungsaufgaben hinzuweisen und sie nicht zu stigmatisieren.

Online Redaktion: Woran erkennt man in der Schule, ob Kinder sich in einer schwierigen Situation befinden?

Aghamiri: Sie sind nicht so konzentriert wie andere, oft aggressiver, und es fällt ihnen zunehmend schwer, sich in die Gruppe zu integrieren. Das alles aber nicht, weil sie nicht wollen, sondern weil sie es nicht erfahren und gelernt haben.  Einige haben nur wenige Möglichkeiten, in einem verlässlichen, sicheren Raum soziale Erfahrungen zu machen,  andere wachsen in einer Art "pädagogischer Blase" auf. Die Eltern kutschieren sie hier hin und da hin. Man spricht dann auch von einer Verinselung der Kindheit. Das hat Auswirkungen auf die Entwicklung der sozialen Fähigkeiten der Kinder.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielt die ökonomische Situation des Elternhauses für die Startchancen der Kinder?

Aghamiri: Manche Kinder aus Familien mit weniger ökonomischen Möglichkeiten kommen nicht aus ihrer Zwei-Zimmerwohnung in der Stadt heraus. Das spiegelt sich dann im Verhalten in der Schule wieder. Wenn sich Kinder Räume nicht mehr erschließen können, ist das dramatisch. Armut wird dann zum Problem, wenn zur ökonomisch prekären Situation kommt, dass Eltern selbst die Fähigkeit fehlt, die Notlage zu bewältigen, sich zu öffnen, mit den Kindern zu spielen, ihnen zuzuhören, die vorhandenen Bildungsangebote zu nutzen. Auch die persönliche Fähigkeit, soziale Kontakte zu pflegen, spielt dabei eine wichtige Rolle. Kinder brauchen jemanden, der sich wirklich für sie interessiert. Das ist dann auch nicht unbedingt nur von der ökonomischen Situation abhängig.

Online-Redaktion: Wie kann die Ganztagsschule Kinder in "schwierigen Situationen" unterstützen?

Aghamiri: Die Ganztagsschule ist eine tolle Möglichkeit mit sehr viel Potenzial. Hier geht es ja nicht nur um Fachwissen, sondern um einen sozialen Lernort. Hier können die Kinder in Arbeitsgemeinschaften und Projekten erlebnisbetontere Erfahrungen sammeln und sich mit Fähigkeiten einbringen, die im Unterricht möglicherweise nicht zum Tragen kommen. Die Aneignung der sozialen Welt läuft ja nicht nur über die kognitive Ausbildung im Unterricht ab, sondern braucht Gelegenheiten, die alle Sinne ansprechen. Wenn so ein Kind in der Pause zeigt, wie gut es einen Handstandüberschlag kann, und es darf das daraufhin in einem Zirkusprojekt zeigen, erfährt es Anerkennung. Das wiederum bietet die Chance, aus der Spirale der persönlichen Abwertung herauszukommen.

Online-Redaktion: Wie muss Ganztagsschule organisiert sein, damit dies gelingt?

Aghamiri: Die viel zitierte Rhythmisierung des Tages ist eine wesentliche Voraussetzung. Ich bin aber auch überzeugt, dass Ganztagsschule Gelegenheiten vorhalten muss, die mehr als feste pädagogische Angebote sind. Es muss in der Schule Räume und Zeiten geben, die nicht pädagogisiert und damit rein zweckorientiert genutzt werden. Kinder müssen Räume und Zeiten auch selbst gestalten dürfen. Mitbestimmung zu ermöglichen, ist ein Schlüssel zu Bildung und Demokratie.

Online-Redaktion: Welche Qualifikation sollte das für das außerunterrichtliche Angebot zuständige Personal aufweisen?

Aghamiri: In vielen Fällen gelingt die Abstimmung und Verzahnung zwischen Schule und außerschulischen Partnern gut. In anderen muss diese noch verbessert werden. Wenn sich alle Beteiligten intensiv abstimmen, kann der Ganztag einen wichtigen Beitrag leisten, um Kinder in schwierigen Situationen zu unterstützen. Auch die am Nachmittag Agierenden sollten pädagogische Fachkräfte sein oder zumindest die Möglichkeit haben, sich regelmäßig mit so Ausgebildeten austauschen und sich Rat holen zu können.

Online-Redaktion: Wie kann es der Schule gelingen, die Eltern von Kindern in schwierigen Situationen einzubinden?

Aghamiri: Man kann davon ausgehen, dass diese Eltern häufig selbst schlechte Erfahrungen mit Schule gemacht haben. Oft haben sie auch Sorge, beim Elternabend bloßgestellt zu werden, weil sie manches nicht wissen, vielleicht auch zugeben müssen, das Geld für ein neues Buch nicht einfach so parat zu haben. Auch da kann der Ganztag hilfreich sein, etwa wenn Eltern-Kind-Nachmittage veranstaltet werden, an denen die Kinder etwas in einer Arbeitsgemeinschaft Eingeübtes präsentieren. In solchen Momenten geht es nicht in erster Linie um den Unterricht. Da kommen Eltern hin. Man muss ihnen den Weg in die Schule einfacher machen und so erste Kontakte knüpfen und Vertrauen aufbauen.

Zur Person: Kathrin Aghamiri ist Diplom-Sozialpädagogin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fachhochschule Kiel sowie als Bildungsreferentin für das Institut für Partizipation und Bildung (IPB). Sie leitete viele Jahre verschiedene Praxisprojekte zum Sozialen Lernen an Schulen. Ihre Schwerpunkte: Kooperation von Jugendhilfe und Schule, Soziales Lernen, Zusammenarbeit mit Eltern, Demokratie in der Heimerziehung.

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