Der Ganztag als Brückenbauer : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Wie können Schule und Jugendhilfe im Ganztag „zusammen wachsen“?  Dieser Frage ging am 6. Dezember ein Online-Fachtag des Evangelischen Erziehungsverbandes nach. Es ging um Schnittmengen, Kooperation und Qualität.

Gemeinsam agieren mit der Kinder- und Jugendhilfe
Gemeinsam agieren mit der Kinder- und Jugendhilfe © Britta Hüning

Der Evangelische Erziehungsverband hat im April 2023 – wie der Bundesverband der Erziehungshilfe oder der Bundesfachverband Evangelische Jugendsozialarbeit und andere – ein Positionspapier des Bündnisses aus Fachverbänden der Kinder- und Jugendhilfe und Diakonie Deutschland unterzeichnet. Darin geht es um die Rahmenbedingungen für die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder ab 2026. An prominenter Stelle heißt es in dem Positionspapier: „Ganztagsentwicklung muss das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt stellen und an den Rechten von Kindern ausgerichtet sein!“

Durch die Brille der Kinder- und Jugendhilfeforschung und anhand von Praxisbeispielen blickte der Evangelische Erziehungsverband nun auf seinem Fachtag „Ganztägige Bildung und Betreuung ‚zusammen wachsen‘ – Schule und Jugendhilfe im Ganztag“ auf den Ganztag. Thematisch ging es insbesondere um die Herausforderungen des gemeinsamen Agierens von Schule und Kinder- und Jugendhilfe.

Ein gemeinsamer Auftrag

Gunther Graßhoff, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Hildesheim bot mit seinem Vortrag „Bildung gemeinsam gestalten“ den Einstieg und widmete sich dabei der kommunalen Verantwortung für ein abgestimmtes Systems von Bildung, Betreuung und Erziehung. Er ermunterte, die Möglichkeiten zur Gestaltung zu ergreifen; trotz der unterschiedlichen Selbstverständnisse der beiden Systeme.

Dem stimmte später Vicki Täubig, Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Außerschulische Bildung und Sozialisation an der Universität Rostock, prinzipiell zu. Nicht zufällig hatte sie wohl ihrem Vortrag „Zusammen Ganztag?!“ auch ein Fragezeichen beigegeben. Sie betonte zusätzlich den Anspruch, dass die Kinder- und Jugendhilfe die Schule verändern sollte, „ohne selbst Schule zu werden“. Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe sei es, Kindern und Jugendlichen eine ganz eigene Orientierung für ihre Lebensgestaltung zu geben.

Täubig leitete den gemeinsamen Auftrag aus dem Sozialgesetzbuch VIII, das die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe gesetzlich definiert, ab: In Paragraf 1 heißt es dort: Die Jugendhilfe solle „junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligung zu vermeiden oder abzubauen“. In diesem Anliegen, so die Referentin, träfen sich beide Systeme.

„Zusammen wachsen“

Die unterschiedlichen Strukturprinzipien und Logiken der beiden Systeme Kinder- und Jugendhilfe und Schule standen denn auch im Mittelpunkt des ersten Teils der Tagung. Beide Referierenden sahen die Akteure der Kinder- und Jugendhilfe angesichts des kommenden Rechtsanspruchs auf Ganztagsbetreuung für Grundschulkinder in der Verantwortung, „ihre Identität neu zu reflektieren“ (Graßhoff).

Qualität entsteht vor Ort
Qualität entsteht vor Ort © Britta Hüning

Gunther Graßhoff zeigte auf, dass es vor allem an gemeinsamen Orten der Begegnung von Lehrkräften und pädagogischen Fachkräften mangele. Letztere seien an Ganztagsschulen noch allzu häufig eine fragmentierte Gruppe, die nur sehr lose am System Schule angebunden sei. Eine Struktur für Kooperation fehle. Als es um die Frage ging, wie die beiden „versäulten“ Systeme im Ganztag zusammenfinden oder sogar zu einem integrativen System zusammenwachsen können, trat noch einmal die besondere Herausforderung der vielfältigen Bildungslandschaften und Schulsysteme in der föderalen Struktur des Bildungssystems zutage.

Anhand mehrerer Schaubilder wurde die enorme Komplexität anschaulich, die – so Graßhoff – ausländischen Besuchern oft nur schwer zu vermitteln sei. Sowohl der Föderalismus als auch die strenge Trennung von Schule und Kinder- und Jugendhilfe sei jenen fremd. Sie haben sich in Deutschland historisch so entwickelt, nachdem 1922 in der Weimarer Republik das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz verabschiedet worden war. Schon damals gab es Debatten, sehr heterogene Strukturen unter dem Dach eines Gesetzes für Kinder und Jugendliche zu vereinen. Während in der DDR die Jugendhilfe zum Schulsystem gehörte, galt in der Bundesrepublik deren Eigenständigkeit, nicht zuletzt nach den schlimmen Erfahrungen der NS-Zeit, als ein hohes Gut.

Suche nach pragmatischen Wegen

In der föderalen Struktur liege auch eine gewisse Freiheit, so Graßhoff, denn Qualität entstünde nun einmal vor Ort. Die immer wieder geforderte Augenhöhe der Professionen lasse sich nicht verordnen, sondern müsse im Alltag verhandelt werden. Die verbreitete Sicht, die Lehrkräfte hätten im Ganztag eine Leitprofession, sodass es an Wertschätzung gegenüber den pädagogischen Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe fehle, zeigte sich auch in der anschließenden Diskussion, als nach Beispielen gefragt wurde, wo es überhaupt vorbildliche Kooperationen gebe.

Quer zu allen Diskussionspunkten liege, so Graßhoff, der Fachkräftemangel. „Ob nun 35.000 oder 50.000 Fachkräfte fehlen – wir haben einfach keine. Wir müssen pragmatische Wege gehen, weil es gar nicht anders geht, ohne auf Qualität zu verzichten.“ Er stellte eine weitere Herausforderung vor: Für die sehr unterschiedlich vorgebildeten pädagogischen Laien, die sich in das Ganztagsangebot einbringen (dazu noch mit unterschiedlicher Qualifikation zwischen Stadt und Land), reiche ein Standard-Qualifizierungsangebot aus.

Ganztag als „Brückenbauer“

Herausforderungen: Räume, Inklusion und Abstimmung der Professionen
Herausforderungen: Räume, Inklusion und Abstimmung der Professionen © Hansestadt Lübeck

Vicki Täubig führte die Unterschiede beider Systeme an fünf Kriterien auf: dem Zugang zum System, seiner gesellschaftlichen Funktion, der Trägerschaft, der Zuständigkeit und den Charakteristiken der Profession. Schnell sei dann erkennbar, so Täubig, dass es nicht allzu viele Schnittmengen gäbe. Doch sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, den rund 80 Teilnehmenden trotz aller Schwierigkeiten aufzuzeigen, wo sich die Kinder- und Jugendhilfe zum Besten des Ganztags einbringen kann.

Zum einen könnten die Akteure gerade bei den Übergängen des Schulsystems und in der Schule selbst Kinder und Eltern kompetent begleiten. Das gelte vor allem für Eltern, die noch auf eigene Schulängste zurückblicken oder mit anderen biografischen Irritationen beschäftigt sind. Zum anderen könnte die Kinder- und Jugendhilfe helfen, einen inklusiven Ganztag im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention auszubauen und zu stärken. Aus ihrer Sicht ist der Ganztag für die Kinder- und Jugendhilfe ein „Brückenbauer“, nicht nur zur Schule, sondern zu anderen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, wie sie im SGB VIII verankert sind.

Gute Zusammenarbeit ist ein Staffellauf

Den Vorträgen folgte eine Phase des Austausches unter der Devise „Von Kolleg*innen für Kolleg*innen – Konzepte und Erfahrungen aus der Praxis“. Wie stets bei solchen Angeboten hatten die Teilnehmenden die Qual der Wahl zwischen fünf Foren. Stellvertretend seien zwei hervorgehoben.

„Guter Ganztag bei den Johannitern“ hatten Julia-Maria Fischer, Referentin für Kinder- und Jugendhilfe im Bereich Ganztag und Offene Jugendarbeit, und André Lukas, Fachbereichsleiter Jugend, Offene Ganztagsschulen & Freiwilligendienste im Johanniter-Regionalverband Östliches Ruhrgebiet ihre Darstellung überschrieben. Lukas erinnerte daran, dass Schule und Ganztag zusammengehören: „Wir sind im gleichen Team.“

Er verglich die Zusammenarbeit mit einem Staffellauf: „Es bedarf Disziplin und Regeln, um den Staffelstab reibungslos übergeben zu können.“ Dazu sei es erforderlich, die Kernkompetenzen des anderen zu kennen und gegebenenfalls danach zu fragen. Er ermutigte die Zuhörenden, auch Zweifel zuzulassen: „Mit dem anderen zu sprechen und zu fragen, wie er etwas gemeint hat, ist auch ein Zeichen der Wertschätzung des Gegenübers.“ Guter Ganztag bedeute „Transparenz, Transparenz und noch einmal Transparenz“.

„Wir sind im gleichen Team.“
© Johanniter

Die Arbeit der Johanniter im Ganztag zeichne sich etwa durch den Einsatz vieler Freiwilliger aus. Sie bieten Arbeitsgemeinschaften an und unterstützen Lehrkräfte bei „kleinen Dingen“ im Unterricht. Zugleich stellten Freiwillige ein Potenzial als „Mitarbeiter von morgen“ dar. Das Miteinander mit den Schulen zeichne auch gemeinsame Verantwortung aus. So würden die Schlüsselpositionen in der Arbeit der Johanniter als Ganztagsträger in enger Abstimmung mit der Schulleitung besetzt.

Zeit zum Austausch

Großes Interesse weckte auch der Beitrag von Sonja Rieper „Sind wir Ganztag oder haben wir Ganztag?“ Sie koordiniert die Schulsozialarbeit in Lübeck. Um die fachliche Qualität der dortigen Ganztagsschulen weiterzuentwickeln, arbeiten Schulträger und Schulamt in der Hansestadt seit Jahren eng zusammen. Gemeinsam haben sie das Lübecker Konzept „Ganztag an Schule“ auf den Weg gebracht. Sonja Rieper verdeutlichte, dass die Hansestadt trotz der engen Abstimmung vor großen Herausforderungen stehe. Dabei nannte sie in erster Linie die Nutzung von Räumen, die Frage der Inklusion am Nachmittag sowie die fehlende Zeit zur Abstimmung zwischen den Professionen.

„Da wünschte ich mir eine Lösung im Mittagsband“, gestand sie. Ausbaufähig sei auch der Einsatz von Lehrkräften im außerunterrichtlichen Angebot: „In größeren Schulsystemen gibt es ihn im Rahmen des Stundenkontingents. Aber ich wünsche mir mehr, zum Beispiel bei der Hausaufgabenbetreuung.“ Generell hob sie die positive Haltung Lübecks beim Ausbau des Ganztags hervor: „Wir bauen auf die Flexibilität und die Expertise vor Ort, bei jeder einzelnen Schule. Jede Schule weiß am besten, was zu tun ist und was sie dafür braucht.“

Ein gutes Beispiel ist die Löwen-Grundschule Hückeswagen im oberbergischen Kreis. Über die Bedeutung der Räumlichkeiten für den Ganztag berichtete im Forum „Architektur unterstützt Pädagogik“ die Leiterin der OGS Simone Stoy, ist doch die Löwen-Grundschule seit 2022 eine sogenannte Clusterschule, die so neue pädagogische Wege gehen kann. Mit einem offenen Lernbereich, Klassen-, Mehrzweck-, Gruppen- und OGS-Räumen ist der Ganztagsbereich nicht mehr von der Schule getrennt. Ebenfalls dabei war Petra Stübel-Yilmaz, die als Projektverantwortliche die Schulsozialarbeit in verschiedenen Schulen in Darmstadt leitet.

Ein „glückliches“ Ende

Aus dem Rahmenkatalog zur Ausstattung schulischer Ganztagsräume
Aus dem Rahmenkatalog zur Ausstattung schulischer Ganztagsräume © Hansestadt Lübeck

Weitere Themen waren die Qualitätsstandards für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen im Ganztag, über die Sabine Schirop vom Schulreferat der Evangelischen Schulstiftung sprach, oder die seit 30 Jahren bestehende Nürnberger Kinderkommission, über die Cornelia Scharf vom Amt für Kinder, Jugendliche und Familien Nürnberg berichtete. Der Fachtag endete schließlich mit einem Impuls zum Thema „Glück“.

Dominik Dallwitz-Wegner vom „GlücksStifter-Netzwerk“ in Hamburg, der unter anderem Lehrkräfte für das „Schulfach Glück“ weiterbildet, veranschaulichte einen Hinweis aus der Positiven Psychologie. Er tat das mit den Worten, dass ja bei dieser Tagung viel Schwieriges erörtert worden sei. Er zeigte zunächst das Bild eines wunderbaren Strandpanoramas einer kleinen Insel – und anschließend eine verwahrloste Brachfläche auf der gleichen Insel. Dallwitz-Wegner: „Es ist eine Frage, wo ich hinschaue. Beides ist da. Das richtige Verhältnis liegt bei 3:1: Man muss dreimal auf das Positive blicken, um Kraft zu schöpfen für die Härtefälle.“ Mit dieser Grundhaltung entließen die Veranstalterinnen und Veranstalter die Teilnehmenden in ihren Alltag in der Arbeit in und mit Ganztagsschulen.

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