Regionale Schule "Ernst Moritz Arndt": "Glücksfall Ganztagsschule" : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Wegen Überfüllung geschlossen? Ihren guten Ruf hat die Regionale Schule „Ernst Moritz Arndt“ in Greifswald – seit 2011/12 gebundene Ganztagsschule – der unermüdlichen Arbeit des Kollegiums zu verdanken.

Wenn Angela Leddin die Ordner hervorholt, in denen die Presseartikel über die Aktivitäten ihrer Schule abgeheftet sind und die von reichlich Fotografien umrahmt werden, dann müssen diese dicken Wälzer den Vergleich mit so mancher Ortschronik nicht scheuen. Die Ordner beeindrucken nicht nur allein durch ihren Umfang – beim Durchblättern gewinnt der Betrachter auch recht schnell einen Eindruck von der Vielseitigkeit der Projekte, Programme und Arbeitsgemeinschaften, mit denen die Regionale Schule "Ernst Moritz Arndt" in Greifswald aufwartet.

Zum Einen bereichern alle dort abgebildeten Aktivitäten das Schulleben der Jugendlichen, helfen ihnen, ihren Weg zum Abschluss erfolgreich zu gehen und bis dahin neben der Lernwelt möglichst viel mit der Lebenswelt in Berührung gekommen zu sein. Die Liste der Kooperationsverträge mit außerschulischen Partnern umfasst 23 Namen, die auf einem DINA4-Blatt aufgelisteten Maßnahmen zur Berufsorientierung von Klasse 7 bis Klasse 10 über 30 Punkte. Auf der Internet-Seite kommt in jedem Schuljahr ein Dutzend Projekte hinzu: so im aktuellen Schuljahr beispielsweise der Schulversuch „Auf dem Weg zur Medienschule“ oder das Projekt „Lernen beim Lehren“.

Zum Anderen helfen alle diese Ideen und Maßnahmen natürlich auch, das Profil der Schule zu schärfen, sie in der Öffentlichkeit und im Bewusstsein der Eltern als „eine gute Wahl“ zu positionieren. „Unsere Schule hat einen guten Ruf“, freut sich Angela Leddin. Die Anmeldezahlen untermauern diese Einschätzung. Die Schule muss Schülerinnen und Schüler ablehnen, mit mehr als 400 Jugendlichen ist die Kapazitätsgrenze erreicht. Der Jahrgangsaufbau entspricht inzwischen einer Pyramide: Während die 10. Jahrgangsstufe noch zweizügig ist, ist der 5. Jahrgang fünfzügig – in Zeiten des demografischen Wandels keine Selbstverständlichkeit.

Individuelle Besonderheiten erfordern differenzierte Arbeit

Die Regionale Schule "Ernst Moritz Arndt" liegt am Rande der Greifswalder Innenstadt. Der Stadtteil ist sozial gemischt. Schülerinnen und Schüler aus der ganzen Stadt und dem Umland besuchen die Schule. Inzwischen kommen Jugendliche aus Ländern wie Syrien und dem Irak, die im Flüchtlingsheim Greifswald leben, hinzu. „Diese Kinder haben gar keine sozialpädagogische Betreuung oder Migrationshilfe. Sie sind bei der Bewältigung ihrer Probleme ganz auf sich und ihre Lehrerinnen und Lehrer gestellt“, erklärt Angela Leddin.

„Aus gesellschaftlicher Sicht ist eine starke Mischung an Schulen gewünscht. Allerdings bestätigt sich nicht immer, dass Probleme durch selbstheilende Effekte gelöst werden“, berichtet die Schulleiterin. „Die vielen sozialen Biografien mit individuellen Besonderheiten erfordern eine ständige differenzierte Arbeit. Im Unterricht und noch deutlicher in der sozialpädagogischen Betreuung konzentriert sich die Arbeit auf sehr individuelle Zuwendung. Besonders bei Schülerinnen und Schülern, die einen Statusverlust erlitten haben.“

Sieben Prozent der Jugendlichen an der „Ernst Moritz Arndt“ erhalten sonderpädagogische Förderung, unter anderem in den Schwerpunkten emotionale und soziale Entwicklung sowie Hören. Sie werden im Unterricht einzeln oder in Kleingruppen gefördert. Ebenso bestehen Kleingruppen zur Förderung bei Lese-Rechtschreibschwäche oder Dyskalkulie. Die Schulsozialarbeiterin leistet soziale Gruppenarbeit und Sozialtraining für Klassengemeinschaften. „Alle diese Erfordernisse zeigen, dass ein Mehrbedarf an Sozialarbeit oder schulischer Assistenz gebraucht wird, der von außen meist verkannt wird“, meint Angela Leddin. Aktuell fehle ihrer Schule eine dringend benötigte zweite Schulsozialarbeiterin.

Vom offenen zum gebundenen Ganztag

Für Maßnahmen wie einen Integrationskurs für Jugendliche mit Migrationshintergrund werden aber auch Räume benötigt, deren Bedarf von außen auch nicht immer erkannt wird. 2006 trat die Regionale Schule erstmals an das Immobilienamt mit Umbau- und Erweiterungswünschen heran. Nun sollen 2015 durch den Ausbau des Dachbodens drei weitere, dringend benötigte Räume für Kursangebote geschaffen werden.

„Wir machen keine Abstriche beim Platz“, betont Schulleiterin Leddin. Durch das „Labor Lernkultur“, ein Programm im Rahmen von „Ideen für mehr! Ganztägig lernen“, sei man 2009/2010 auf den Geschmack gekommen, die Lehr- und Lernkultur weiter zu verändern. An der Regionalen Schule sollten Schülerinnen und Schüler im „Labor Lernkultur“ physikalische Phänomene nicht nur bestaunen, erforschen und verstehen, sondern die Ergebnisse des Unterrichts am Ende eines Schulhalbjahres ihren Mitschülern zugänglich machen. Zu diesem Zweck wurde der Physikunterricht der Klasse 6 um eine Klassenleiterstunde ergänzt. In dem so entstehenden Zeitblock von 90 Minuten gestalteten die Jugendlichen den Physikfachraum zu einer Lernwerkstatt um und organisierten jede Woche das Lernen in Eigenregie neu.

Dass Schulleitung und Kollegium der „Ernst Moritz Arndt“ organisatorische Veränderungen und Innovationen nicht scheuen, bewiesen sie schon früh: Bereits zum Schuljahr 2002/2003 erhielt die Schule, die über die Jahre durch zahlreiche Schulzusammenlegungen geformt wurde, vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur Mecklenburg-Vorpommern den Status einer Offenen Ganztagsschule verliehen. Mit Beginn des Schuljahres 2011/2012 genehmigte das Staatliche Schulamt Greifswald dann die Umwandlung in eine gebundene Ganztagsschule. Die Schule hat den Unterricht nun am Vormittag in dreimal zwei Stunden organisiert – „ein Rhythmus, den die Kindern verinnerlicht haben“, wie Gudrun Wolfgram, die Ganztagskoordinatorin, meint. Abgesehen von dieser zeitlichen Taktung haben es Schulleitung und Kollegium bei der traditionellen Trennung von Fachunterrichtsstunden am Vormittag sowie den Arbeitsgemeinschaften und den Hausaufgabenzeiten am Nachmittag nach dem Mittagessen belassen.

Zusammenarbeit mit Sportvereinen läuft wie geschmiert

Bei der Einführung der gebundenen Ganztagsschule gab es laut Gudrun Wolfgram und Angela Leddin keinen Widerstand im Kollegium. „Manche mögen es, am Nachmittag zu arbeiten, manche mögen es nicht“, bilanziert die Schulleiterin lakonisch. Die Lehrkräfte sind in den Hausaufgabenzeiten dienstags bis donnerstags im Einsatz. Außerdem bieten die Lehrerinnen und Lehrer auch Arbeitsgemeinschaften an. „Vor jedem Schuljahr lasse ich einen Wunschzettel rumgehen, in denen die Kolleginnen und Kollegen eintragen können, was sie anbieten möchten“, berichtet die Schulleiterin.

An allen Wochentagen müssen die Schülerinnen und Schüler AGs besuchen. Den Jugendlichen aus oberen Klassen, die einen hohen Pflichtstundenumfang bewältigen müssen, wird die Teilnahme an den AGs freigestellt. Die Kooperation mit den außerschulischen Partnern läuft laut Gudrun Wolfgram dabei „wie geschmiert“. Besonders die Zusammenarbeit mit den Sportvereinen gestalte sich „super“. Nachdem es zu Beginn Ängste bei den Vereinen gegeben habe, die Jugendlichen für die Vereinsarbeit an die Schule zu verlieren, schloss man nach Gesprächen und der Einsicht, „dass es ein Kind nur einmal gibt“, wie es Angela Leddin formuliert, einen Kooperationsvertrag mit dem Sportbund Greifswald ab. Partner wie die Musikschule Greifswald und das Theater Vorpommern sorgen ebenfalls für außerunterrichtliche Impulse.

„Die Ganztagsschule ist ein Glücksfall für unsere Kinder“, zeigt sich Gudrun Wolfgram überzeugt. „Bei uns ist immer etwas geöffnet, es gibt den ganzen Tag Angebote. Die Schülerinnen und Schüler bleiben bei uns und sitzen nicht vor dem Fernseher.“

„Ach, ich komme gerne in die Schule!“

Besonderes Augenmerk wird in der Ganztagsschule auf die Förderung aller Schülerinnen und Schüler in der gesamten Begabtenbreite gelegt – es geht nicht nur um den Ausgleich von Defiziten, sondern auch das Fördern vorhandener Talente. In Kreativzirkeln können Schülerinnen und Schüler zum Beispiel in Zusammenarbeit mit dem Verein „Kunstwerkstätten e.V.“ Holzplastiken gestalten, die dann im Schulgebäude ausgestellt werden. Die Sprach- und Fremdsprachenförderung kommt ebenfalls nicht zu kurz. Dazu finden Lesungen in Greifswalder Buchhandlungen und der Stadtbibliothek, Veranstaltungen im Rahmen von „Jugend debattiert“, englischsprachiger Sportunterricht und englische Schulpartnerschaften über das Internet statt.

Durch die guten Kontakte zum regionalen Mittelstand konnte die Schule zudem ihren Schwerpunkt der Berufsfrühorientierung stark ausbauen. Durch Betriebserkundungen und altersgerechte Praktika bekommen die Schülerinnen und Schüler nicht nur einen tieferen Einblick in tägliche Betriebsabläufe, sondern werden auch in die Lage versetzt, mit dem gelernten Wissen umzugehen und dieses im Leben situationsbedingt anzuwenden. Dabei wird die Lebensplanung der Schüler im Blick behalten, werden Zukunftsperspektiven erarbeitet, gleichzeitig lernen sie, mit der Diskrepanz zwischen „Traumjob“ und Realität umzugehen. Kooperationspartner, die sich besonders im Bereich der Berufsfrühorientierung engagieren, sind zum Beispiel das Berufsbildungswerk, die Stadtwerke, das BIG Bildungszentrum.

Die Organisation einer Ganztagsschule mache viel Arbeit, konstatiert Angela Leddin. Aber die Schulleiterin sieht auch alle Mühen belohnt, wenn sie ein „Aha-Erlebnis“ wie dieses hat, als eine Schülerin aus vollster Überzeugung äußerte: „Ach, ich komme gerne in die Schule.“ Oder auch die Tatsache, dass viele der Schülerinnen und Schüler nach Schulschluss auf dem Gelände bleiben, um zu quatschen und gerne dort ihre Zeit verbringen.

 

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