Ulm: Pilotprojekt für „einen guten ganzen Tag“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die Martin-Schaffner-Grundschule geht neue pädagogische Wege in einem veränderten Raumkonzept. Die Ganztagsschule in Wahlform ist Pilotstandort der Stadt Ulm für einen qualitativ hochwertigen, kindgerechten Ganztag.

Pilotprojekt „Ganztag und Raum“ in Kooperation mit der Montag-Stiftung
Pilotprojekt „Ganztag und Raum“ in Kooperation mit der Montag-Stiftung © Stadt Ulm

„Ab in die Zukunft“ könnte als Arbeitstitel über dem stehen, was sich seit zwei Jahren in Ulm tut. Die Wissenschaftsstadt mit ihren mehr als 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern hat sich einem Pilotprojekt in Kooperation mit der Montag-Stiftung aus Bonn verschrieben. Es soll durch bauliche Veränderungen in einem „alten“ Schulgebäude eine Pädagogik ermöglichen, der sich die Schule schon lange verpflichtet fühlt.

Die Martin-Schaffner-Grundschule soll integrativ sein, Leistungsstärkere wie schwächere gleichermaßen fördern, flexible Arbeitsformen anbieten und dabei möglichst individuelles Lernen an den Tag legen. Das alles im Ganztag, der aktuell den rund 200 Schülerinnen und Schülern „in Wahlform“ angeboten wird. „Ganztagsschule in Wahlform“ heißt in Baden-Württemberg, der Ganztag wird angeboten, aber die Eltern können jährlich neu entscheiden, ob ihr Kind verbindlich daran teilnimmt. In der Martin-Schaffner-Grundschule sind das die meisten, wie Gabriele Gebhart, die Leiterin des Ganztags, der Montag-Stiftung verriet.

Ganztag in „Bestandsschulen“

Ganztag wird hier deutlich weiter interpretiert als Betreuung. Die Ulmer Bürgermeisterin für Kultur, Bildung und Soziales Iris Mann unterstreicht in einem Video der Stadt: „Eine ganztägige Bildung gemeinschaftlich zu verstehen, erfordert, Flächen für eine gemeinsame Nutzung zu entwickeln und zu bespielen. Ein Erweiterungs- oder Neubau ist allerdings in vielerlei Hinsicht mitunter keine Lösung. Gerade im Sinne der Nachhaltigkeit besteht die Aufgabe in der sinnvollen Nutzung von Bestandsschulen.“

Wie in bestehenden Schulen ein Nutzungskonzept für einen neuen Umgang mit Raum und Fläche aussehen kann, wurde für die Martin-Schaffner-Grundschule im Pilotprojekt „Ganztag und Raum“ in Kooperation mit der Montag-Stiftung Jugend und Gesellschaft entwickelt. Das Ziel des Projekts war, bestehende Strukturen von Schule und Betreuung aufzulösen, um „einen guten ganzen Tag“ an der Schule zu ermöglichen.

„Wie also sollte unsere Schule aussehen?“, fragte sich ein Team aus Schulleitung, Lehrkräften, pädagogisch Mitarbeitenden, Eltern, der Stadt sowie der Stiftung im Frühjahr 2022. Ein umfassender Planungsprozess über Räume und ihre Nutzbarkeit startete. Julia Mainka, die derzeit die Martin-Schaffner-Grundschule kommissarisch leitet, meint im Rückblick: „Es wäre besser gewesen, wenn wir noch mehr im Team gewesen wären, der Austausch hätte noch intensiver sein können.“ Wichtig findet sie, dass auch die Schülerinnen und Schüler ihre Vision von Schule eingebracht haben, auch wenn nicht jeder Wunsch – ein „Reptilienzoo“ oder ein „Pool“ – in Erfüllung gehen wird: „Sie waren glücklich, einmal in die Rolle von Pippi Langstrumpf – ‚ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt‘ – schlüpfen zu können.“

Ein Planungsprozess, der etwas auslöst

Für sie ist einer der wertvollsten und wichtigsten Effekte, „dass das Projekt bei uns etwas ausgelöst hat“. Das unterstreicht auch die pädagogische Mitarbeiterin Sandra Markovic: „Es gibt jetzt ein noch stärkeres Miteinander der Professionen. Wir entwickeln einen gemeinsamen Blick auf das Kind.“ Sie ist überzeugt, dass die Kinder keinen Bruch mehr zwischen Vor- und Nachmittag erleben: „Wir sind nicht mehr ‚die vom Nachmittag‘. Die Kinder kennen die Menschen, mit denen sie zu tun haben, empfinden das, wo sie sich aufhalten als Lebensort.“

Kein Bruch mehr zwischen Vor- und Nachmittag
Kein Bruch mehr zwischen Vor- und Nachmittag © Martin-Schaffner-Grundschule

Wie wichtig diese Faktoren für die Schülerinnen und Schüler sind, fasst ein 2023 von der Montag-Stiftung herausgegebener Projektbericht zusammen: „Im Allgemeinen finden die Schülerinnen und Schüler es positiv, dass ihre Klassenzimmer schön und hell sind, da dies die Lern- und Spielumgebung angenehmer gestaltet – sie empfinden ihre Klassenräume als festen Bezugspunkt (Heimat).“ Die Schülerinnen und Schüler betonten die Möglichkeit, draußen zu spielen, sich körperlich zu betätigen und ihre Freizeit zu genießen. Auf die Frage, wo sie sich am liebsten aufhalten, haben die meisten neben der Bibliothek ihren Klassenraum genannt. Nur „die vielen Treppen“ und die Entfernungen zwischen den Räumen finden sie nicht so gut.

Klassenzimmer als Homebase

Das soll sich, wenn die notwendigen Beschlüsse in der Stadt Ulm gefasst worden sind, ändern. Umbauten hat es bislang nur in geringem Maße gegeben. Doch angestoßen durch die eigene Bestandsaufnahme wurde das pädagogische Konzept in den vorhandenen Räumlichkeiten umgesetzt. Es wurden „Wohngemeinschaften“ gegründet. Die zwei Klassen eines Jahrgangs bilden eine gemeinsame Lerngruppe. In zwei sich gegenüberliegenden Klassenzimmern finden sie ihre Homebase.

Ein dritter angrenzender Raum dient der Differenzierung und wird vormittags im Unterricht genutzt. Nicht nur nachmittags stehen Themenräume wie Bauzimmer, Bewegungsraum, Experimentier- und Forschungszimmer zur Verfügung. Kreativität ist derzeit noch gefragt. Etwa, wenn im Leise- und Differenzierungsraum ein schwerer geräuscheschluckender Theatervorhang eine kleine Fläche abtrennt, in die sich Einzelne zum Lernen zurückziehen können.

Wie es später einmal aussehen kann, unterstreicht bereits jetzt der Einbau von Glasscheiben in die Türen. Sie ermöglichen Sichtbeziehungen zwischen den Menschen und den Räumen, inklusive der Flure, die künftig stärker als Lernflächen genutzt werden sollen. Dass die Grundschule überhaupt über so viel Fläche verfügt, verdankt sie ihrer Historie als ehemalige Grund- und Hauptschule. Letztere ist 2010 ausgelaufen.

Ganztag: Gemeinsames Bildungsverständnis

In dem intensiven, durch Steuerungsgruppen begleiteten Planungsprozess wurde auch klar, dass ein integriertes Nutzungskonzept auf einem gemeinsamen Bildungsverständnis aller im Ganztag tätigen Personen basieren muss. Das Ergebnis ist ein Konzept für den Ganztag, in dem alle Angebote strukturell abgestimmt sind. Es soll fachübergreifendes und fächerverbindendes Lernen ermöglichen und zugleich formale und non-formale Bildungsangebote zusammenführen.

Im Foyer zu bestaunen: „Unsere Plastik“
Im Foyer zu bestaunen: „Unsere Plastik“ © Martin-Schaffner-Grundschule

Personell bedeutet das, dass pädagogische Fachkräfte im Unterricht eingebunden sind. Lehrkräfte wiederum wirken im Mittagsband mit Lernzeit und bei den Arbeitsgemeinschaften mit. Die Themen des schulischen Lernens sind durch die enge Zusammenarbeit im Team allen bekannt. In regelmäßigen Besprechungen wird gemeinsam geplant. Ein Beispiel: Das Thema Maßeinheiten in Mathematik wird am Nachmittag spielerisch aufgenommen und erweitert.

Als außerschulische Lernorte konnte die Schule unter anderem die Kontiki-Kunstwerkstatt Ulm, die Jugendfarm am Kuhberg des Stadtjugendrings, das „Kindermuseum“ im benachbarten Neu-Ulm oder die städtische Musikschule gewinnen. Der SSV Ulm übernimmt die AGs „Ballsport“ und „Waveboard“. Mitarbeitende dieser Einrichtungen kommen aber ebenso in die Schule. Ein fester Kooperationspartner jenseits des Schulgebäudes ist das Internationale Kinderhaus Ulm mit Kursen zur Sprachförderung in Kleingruppen, aber auch Yoga, Backen, Nähwerkstatt und Flötenkurs. Und schließlich ist da das baden-württembergische Jugendbegleiter-Programm, an dem die Schule seit vielen Jahren teilnimmt. Auch Jugendbegleiterinnen und Jugendbegleiter führen AG-Angebote durch.

Projekt mit Vorbildcharakter

Blicken Julia Mainka und Sandra Markovic in die Zukunft, wünschen sie sich noch mehr „Offenheit im Kopf“ für neue Unterrichtskonzepte. Einige im Team wünschen sich schon jetzt mehr Zusammenarbeit in Projekten. Eines, das alle auf den Geschmack gebracht hat, wurde in Geometrie ausprobiert: Drei Lerngruppen näherten sich nach einem Input dem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven (Körpergeometrie, Würfelgebäude, Flächen und Formen) und widmeten sich „ihren“ Aspekten sechs Wochen lang. Anschließend wurden die Ergebnisse allen präsentiert. Julia Mainka: „Jetzt wünschen sich die Kinder diese Form des Lernens häufiger.“

Die derzeitigen „Lernspuren“ in Deutsch und Mathematik, in denen die Kinder frei im eigenen Tempo anhand eigens entwickelter Arbeits- und Jahrespläne arbeiten, sind ein weiterer Schritt in der Schulentwicklung. Das gilt auch für den stückweise rhythmisierten Tagesablauf. Er sieht eine frühmorgendliche Betreuung ab 7 Uhr vor, in der den Kindern ein Frühstück „serviert“ wird, und beinhaltet ein- oder zweimal wöchentlich Unterricht am Nachmittag. So gibt es für die 3. und 4. Klassen auch vormittags Sportangebote und nachmittags Deutsch und Mathe. „Das trägt zur gewünschten An- und Entspannung bei“, so Sandra Markovic. Sie hat auch noch einen Wunsch für die Ganztagsschule: „Wir benötigen mehr Personal. Denn für Kinder kann es davon nie zu viel geben.“

Weiterentwicklung des Ganztags in anderen Ulmer Schulen
Weiterentwicklung des Ganztags in anderen Ulmer Schulen © BS - SG BEB

Beim Start des Projekts „Ganztag und Raum“ hatte Bürgermeisterin Iris Mann den Vorbildcharakter des Projekts betont: „Durch die Begleitung der Montag-Stiftung können wir viel lernen in der kreativen und ganzheitlichen Weiterentwicklung der Ganztagsbetreuung, sowohl an der Martin-Schaffner-Schule als auch an den anderen Ulmer Grundschulen.“ Im Schuljahr 2023/2024 sind nun die Grundschule am Tannenplatz und die Eduard-Mörike-Grundschule als neue Pilotstandorte gestartet. Die an der Martin-Schaffner-Grundschule gewonnenen Erkenntnisse werden in die Raumkonzepte für einen qualitativ hochwertigen, kindgerechten und rhythmisierten Ganztag einfließen.

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