Neue Wege zum Lernen im Ganztag lohnen sich : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die Dietrich-Bonhoeffer-Schule Rimbach hat sich „umgekrempelt“. Ein neues Lern- und Ganztagskonzept führt zu steigenden Anmeldezahlen. Der Weg dorthin war für die Haupt- und Realschule nicht leicht, aber erfolgreich.

„Man muss sich durch die kleinen Gedanken, die einen ärgern, immer wieder hindurchfinden zu den großen Gedanken, die einen stärken.“ (Dietrich Bonhoeffer)

Es tut sich etwas an der Dietrich-Bonhoeffer-Schule im hessischen Rimbach. „Etwas“ ist, um es vorwegzunehmen, schlicht und ergreifend maßlos untertrieben. Die Haupt- und Realschule mit teilgebundenem Ganztag wird umgekrempelt. Zumindest jedenfalls das pädagogische Konzept, das, noch bevor der Startschuss im kommenden Schuljahr fällt, Aufmerksamkeit erregt. Und zwar so stark, dass Schulleiter Timo Helwig-Thome beim Fachtag „Frische Luft – frische Impulse“ des Programms „Lernen im Ganztag“ (LiGa) in Berlin den durchaus staunenden Teilnehmenden erläuterte, was sich an der Ganztagsschule sukzessive verändern wird.

Ein Kollegium auf Ursachenforschung

An den Anfang sei die Antwort auf die Frage „warum“ gegeben. Jahr für Jahr sank die Zahl der Schülerinnen und Schüler an der Haupt- und Realschule, von mehr als 700 auf 280 im Jahr 2019. Zu diesem Zeitpunkt aber hatte sich das Kollegium schon mit der Überlegung auseinandergesetzt, was möglicherweise schief läuft und geändert werden muss an ihrer Schule mit dem Namen des großen Theologen. „Leisten wir wirklich so schlechte Arbeit?“, grübelten einige, während andere den Zusammenhang mit dem Wort „Hauptschule“ sahen, der, wie es der Schulleiter formuliert und es auch andere Schulen erleben, „heutzutage nun einmal nicht besonders werbewirksam ist“. Liegt es an den Angeboten der Nachbarschulen? Oder wird die Art, wie wir unterrichten, der Realität unserer Schülerinnen und Schüler nicht mehr gerecht?

Die Schule entschied sich vor rund fünf Jahren, den Ursachen auf den Grund zu gehen. Man hörte sich in der Region um – „Warum schicken Sie Ihr Kind nicht zu uns?“ – und bekam tatsächlich alle Vorurteile, die insbesondere der Hauptschule häufig entgegengebracht werden, präsentiert. Manche trauten der Dietrich-Bonhoeffer-Schule nicht mehr zu, ihren Kindern das nötige Rüstzeug für Leben und Beruf mit auf den Weg geben zu können.

Schulhof
„Warum schicken Sie Ihr Kind nicht zu uns?” © Dietrich-Bonhoeffer-Schule Rimbach

„Allerdings glaubten das eben nur jene, die uns nicht wirklich kannten“, erinnert sich Timo Helwig-Thome und ergänzt eine mögliche Schlussfolgerung: „Sind wir nicht laut genug und vergessen im Schulalltag zu erzählen, was wir tun?“ Doch so einfach, es auf mangelnde Werbung zu schieben, wollte man es sich nicht machen. Das Kollegium fragte andere Schulen mit ähnlichen Erfahrungen. Es verabredete Hospitationen, etwa an der Alemannenschule Wutöschingen oder der Erich-Kästner-Schule in Kranichstein. Der Hamburger Erziehungswissenschaftler Peter Struck wurde zum Vortrag eingeladen, um sich zu modernen Formen des Lernens fortzubilden.

Eine Vision mit neuem Rollenverständnis

Ein Bild gewann Konturen, eine Vision von einer modernen Schule wuchs. Einer Schule, in der die Kinder gerne lernen, für sich und selbstständig. Kernstück der Innovation ist die Abkehr vom herkömmlichen Rollenverständnis als Lehrkraft. All jene, die im kommenden Schuljahr in Jahrgangsstufe 5 unterrichten, in der das „Experiment“ dann beginnt, ließen sich von der Haereus-Bildungsstiftung zum Lerncoach fortbilden. Denn als solche werden sie fortan fungieren. Der wichtige lehrergesteuerte Unterricht wird nicht aussterben. Doch er wird jetzt ergänzt, insbesondere durch digitale Medien. Erklärvideos unterstützen beispielsweise die inhaltliche Einführung in Themenkomplexe. Inzwischen gibt es Computerräume mit Arbeitsstationen, Laptopwagen und Tablets in Klassengröße

Natürlich orientiert sich der Unterricht an den hessischen Kerncurricula und die Arbeit der Schule am Hessischen Referenzrahmen Schulqualität und den dort festgeschriebenen Kompetenzen, die es zu erwerben und zu vermitteln gilt. Doch wie Schülerinnen und Schüler dorthin gelangen, bleibt ihnen weitgehend überlassen. Wöchentlich wird besprochen, welche Lernziele angestrebt werden sollen. In Stillarbeit im Lernbüro (dem ehemaligen Klassenzimmer) oder in Gruppen- oder Teamarbeit im Nebenraum gehen die Lernenden ihre Schritte. In ihrem Tempo.

Täglich wählen sie aus dem von den Lehrkräften erstellten Lernmaterial. Sie widmen sich einem Fach oder Thema, wenn sie mögen und sich dazu in der Lage fühlen. „Und nicht, weil Mathe für alle auf dem Stundenplan steht“, sagt der Schulleiter. So kann es auch passieren, dass jemand einen Tag lang nur zeichnet. „Aber natürlich achten wir darauf, dass die Schülerinnen und Schüler an ihren Kompetenzen arbeiten. Sie werden die Ziele des Lehrplans erreichen“, garantiert Timo Hellwig-Thome.

Abschied vom Pult

Die Schülerinnen und Schüler führen dazu ein sogenanntes Logbuch. Sie stimmen mit ihrem Lerncoach, der künftig kein Pult mehr besitzt, sondern als beratender Wanderer zwischen seinen „Schäfchen“ agiert, die Lernziele ab. Wer sich in einem „Kapitel“ sicher fühlt (Stärkung der Fähigkeit, sich selbst einzuschätzen), meldet sich zum Test an. Der muss nicht zwingend schriftlich erfolgen. Wird der Test bestanden – wunderbar. Wenn nicht, kann ein zweiter Versuch später folgen. So wie jemand auch „wiederholen“ kann, wenn er mit seiner erzielten Note unzufrieden ist.

Nicht alle Schülerinnen und Schüler kommen von Anfang an in den Genuss, das Lernbüro verlassen zu dürfen und in die Gruppenarbeitsphase einzutauchen. Das Recht muss erworben werden. „Wir müssen ja wissen, dass es funktioniert“, meint der junge Schulleiter. Wie dieser Graduiertenstatus, sprich die Freiheit der Arbeitsplatzwahl, funktioniert, wird aktuell in der Lernzeit der Ganztagsjahrgänge (Klassen 5 bis 7) erprobt.

Der vom Land zugestandene Status als „pädagogisch selbstständige Schule“ ermöglicht der Dietrich-Bonhoeffer-Schule solche „Experimente“ wie etwa auch die in anderen Ländern oder Schulformen zum Teil schon gängige Zusammenlegung von Fächern, wie die integrierten „Naturwissenschaften“ für die Jahrgangsstufen 5 und 6 in Baden-Württemberg, Berlin, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein oder „Gesellschaftslehre“ in den Gesamtschulen von Hessen, Niedersachen, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz.

Die Gleitzeit hält Einzug

Neue Regeln gibt es auch für den morgendlichen Beginn. Die Gleitzeit hält Einzug. Frühestens um 7.25 Uhr startet die Stillarbeit. Um 8.10 Uhr müssen alle Schülerinnen und Schüler eingetroffen sein. Die „Startzeit“ wird festgehalten. Wer später kommt, muss länger bleiben und rutscht damit automatisch ins Ganztagsprogramm, zumal der Öffentliche Nahverkehr erst wieder um 14.45 Uhr genutzt werden kann.

Gebäude der Dietrich-Bonhoeffer-Schule Rimbach
Durch Öffnung des Stundenplans den Nachmittag mit dem Vormittag verbinden © Dietrich-Bonhoeffer-Schule Rimbach

Dort, im von Lehrkräften geführten Ganztag, der in seiner Startphase im Wesentlichen Hausaufgabenbetreuung, Arbeitsgemeinschaften und Workshops in Kooperation mit Vereinen bietet, wird ein Schwerpunkt auf kulturelle Bildung gelegt. Schulleiter Helwig-Thome meint: „Den Zugang dazu finden viele unserer Schülerinnen und Schüler ohne die Schule nur schwer.“ Die kulturelle Bildung ergänzt den bestehenden sportlichen Schwerpunkt. Aktuell testet die Schule die individuelle Lernzeit in Deutsch, Mathe und Englisch am Nachmittag mit individualisiertem Lernmaterial. Das können die Schülerinnen und Schüler im kommenden Schuljahr freiwillig weiterhin nutzen.

Auch Ganztagskoordinatorin Lena Blust verspricht sich einiges vom neuen Weg: „Durch die Öffnung des Stundenplans ergibt sich die Chance, den Nachmittag mit dem Vormittag zu verzahnen. So ist es möglich, Projekte, die am Vormittag gestartet wurden, auch am Nachmittag weiterzuentwickeln. Auch das fächerübergreifende Lernen wird viel flexibler, wenn auch die Stunden am Nachmittag dazu verwendet werden können, Themen zu vertiefen.“

„We have a voice!“

Durch die Verzahnung von Vor- und Nachmittag ergebe sich außerdem die Möglichkeit, auf die individuellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler einzugehen. So können jene, die morgens gerne später anfangen, am Nachmittag länger arbeiten. Diejenigen, die morgens gerne früh beginnen, können hingegen früher aufhören. Außerdem bestehe am Nachmittag genau wie am Vormittag die Möglichkeit, dass die Schülerinnen und Schüler nach individueller Befindlichkeit wählen, was sie bearbeiten, ob sie sich lieber mit kognitiv anstrengenden oder weniger anstrengenden Aufgaben befassen wollen.

Obwohl auch am Nachmittag Lehrkräfte die Betreuung übernähmen, komme das AG-Angebot nicht zu kurz, erläutert Lena Blust. Hier können sich die Schülerinnen und Schüler aussuchen, ob sie sich sportlich betätigen – in Fußball-AG, Tischtennis-AG, Ringen oder Tennis-AG) –, mit Technik befassen, wie in der AG Lego-Robotics, oder ob sie musikalisch-künstlerisch tätig werden wollen, wie in der Gitarren-AG oder der Töpfer-AG. Zeit ist auch für das Projekt „We have a voice!“ zum Thema Alltagsrassismus in Zusammenarbeit mit der Fotografin Candy Rahmanoglu, das dem Namengeber der Schule Ehre macht und die sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler stärkt: Sie sollen wissen: Wir haben eine Stimme!

Ein kreatives und engagiertes Team

Der Schulleiter verhehlt nicht, dass im Kollegium manche Überzeugungsarbeit für das neue Konzept geleistet werden musste. Heute liegt die Zustimmung bei rund 90 Prozent. Doch nicht vergessen sind die erheblichen anfänglichen Bedenken, die auch nicht bei allen verflogen sind. „Ich fürchte, dass meine Schüler damit überfordert sind und meinen Input benötigen“, lautet ein Argument, das auch nicht einfach von der Hand zu weisen ist.

Dem Hinweis, dass sich trotz aller engagierter Arbeit etwas ändern muss, stimmen aber inzwischen nahezu alle zu. Alle, auch Skeptikerinnen und Skeptiker, können sich in der „Impulsgruppe“ einbringen, die die eigentliche Arbeitsgruppe unterstützt. „Die Überlegungen und Anregungen, die aus der Impulsgruppe kommen, sind für unsere Entwicklung extrem wichtig“, lobt der Schulleiter, der auf die Kreativität des jungen Kollegiums baut: „Da ist ganz viel Drive drin.“

Das neue Konzept wuchs im Verborgenen. Erst als alle wesentlichen Elemente gemeinsam beschlossen waren, ging die Dietrich-Bonhoeffer-Schule damit an die Öffentlichkeit. Das Ergebnis bescherte den Initiatoren ein Glücksgefühl, fast schon passend zum Unterrichtsfach Glück: Die Anmeldezahlen stiegen gegenüber dem Vorjahr um 100 Prozent.

Timo Hellwig-Thome: „Jetzt müssen wir liefern, schauen, was passt und was noch passend gemacht werden muss.“ Noch eines verspricht er: „Wir sind die integrative Schule schlechthin, bleiben inklusiv und familiär. Und zwar exakt für die ‚Kundschaft’, für die wir schon immer da waren und bleiben werden.“

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