Neue Grundschule Lehe: Ganztag mit Alltagsbezug : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Sie ist gerade einmal fünf Jahre alt und steht bereits vor großen Veränderungen: In zwei Jahren wird die Neue Grundschule Lehe in Bremerhaven ein neues Gebäude beziehen und zum gebundenen Ganztag übergehen.

250 Schülerinnen und Schüler besuchen die Schule
250 Schülerinnen und Schüler besuchen die Schule © Neue Grundschule Lehe

„Wir verfügen über das kinderfreundlichste Sekretariat in Deutschland“, strahlt Schulleiterin Nadine Porwoll. Peggy Pflanz und Dörthe Sturm, die beiden Angestellten im „Geschäftszimmer“, wie es so schön im Amtsdeutsch heißt, sind häufig erste Anlaufstelle für die rund 250 Schülerinnen und Schüler der Neuen Grundschule im Bremerhavener Stadtteil Lehe. Hier finden sie stets ein offenes Wort, natürlich auch Hilfestellung jeder Art im Schulalltag.

Hierhin ziehen sich die Schülerinnen und Schüler aber auch gerne zurück, wenn sie einmal abschalten möchten. Peggy Pflanz und Dörthe Sturm haben für die Kinder eigens einen Tisch im Raum platziert, an dem sie „abhängen“ oder ein wenig malen können. „Mit Kindern zu tun zu haben, ist aufregend und nie monoton. Man muss sie einfach mögen“, meint Peggy Pflanz und ist sicher: „Da hier auch noch die Zusammenarbeit wunderbar ist und das ‚Menschliche’ stimmt, möchte ich nie mehr etwas anderes tun.“

„Die Schule ist eine Wucht in Tüten“

Beim Verlassen des Schulsekretariats, dieses so wichtigen Ortes der kleinen Schule, die erst vor fünf Jahren gegründet worden ist, treffen wir Margareta. Sie sorgt dafür, dass sich im Schulgebäude alle wohl fühlen. Margareta sorgt für Sauberkeit und manchmal auch für einen Hingucker wie jüngst in der Bibliothek. Dort hat sie zur Freude der Kinder eine selbst gebastelte kleine Schaukel mit einer darauf sitzenden Puppe an der Decke befestigt. Nadine Porwoll macht es kurz: „Auch sie lassen wir nicht mehr gehen.“

Margareta fühlt sich als Teil des Teams. Sie arbeitet, so hat es die Schule gewünscht, tagsüber, wenn alle da sind, sie sehen, treffen und sprechen können. Sie fühlt sich wertgeschätzt: „Ich bin hier nicht nur die Reinigungskraft“, sagt sie glücklich. Gleiches gilt für Peydi Topcu. Er verantwortet die kleine aber feine Bibliothek. Wer könnte auch besser dafür geeignet sein? Er bezeichnet sich selbst als Leseratte und verbreitet, so Nadine Porwoll, eine unglaublich freundliche und tolle Stimmung. Er kommentiert fröhlich: „Die Schule ist eine Wucht in Tüten“.

Belyna und Michael Ognyanov, die Eltern zweier Schülerinnen, die diese Schule besuchen, genießen das „Verständnis, das uns alle entgegenbringen“, die Zugewandtheit des Teams und dessen Leistung. „Unsere jüngere Tochter sprach kein Wort Deutsch, als wir aus Bulgarien hierher nach Bremerhaven kamen. Jetzt kann sie es. Unglaublich“, erzählt uns die Mutter. Vier Erlebnisse, die Bände sprechen und schon viel über das Leben und Lernen an der Neuen Grundschule Lehe sagen.

Vorfreude auf den gebundenen Ganztag

Auf dem Weg in den gebundenen Ganztag
Auf dem Weg in den gebundenen Ganztag © Neue Grundschule Lehe

Aktuell befindet sich die Offene Ganztagsschule noch in flachen Mobilbauten. In zwei Jahren heißt es Koffer packen und in den dann fertiggestellten und nahegelegenen Neubau umzuziehen. Dann steht zugleich die nächste gravierende Änderung an. Aus dem offenen Ganztag soll „von unten ansteigend“ eine gebundene Ganztagsschule werden. Die Vorfreude darauf ist groß. In vielerlei Hinsicht, in einer aber ganz besonders: „Wer Inklusion ernst meint, benötigt den gebundenen Ganztag“, versichert Nadine Porwoll.

Sie weiß sich mit diesem Gedanken eins mit Arne von Twistern. Der Pädagoge gehört der Konzeptgruppe „gebundener Ganztag“ an und weiß: „Im gebundenen Ganztag werden wir endlich die Zeit haben, um uns noch intensiver jedes Kindes annehmen zu können.“ Die Schulleiterin ergänzt: „Und auch dafür, uns untereinander über die Kinder auszutauschen, aus möglichst vielen Sichtweisen der unterschiedlichen Professionen.“ Schon jetzt arbeitet die Grundschule mit rhythmisierten Tagesstrukturen.

Basis für eine erfolgreiche Bildungsbiografie

Das gesamte Team ist sich der Herausforderungen bewusst. Das sind vor allem die sprachlichen Barrieren. Rund 80 Prozent der Kinder sprechen, wenn sie hier eingeschult werden, kein Deutsch. Eine Ursache dafür sehen Porwoll und Twistern in der Tatsache, dass sehr viele ohne Kindergartenerfahrung sind. „Die Kinder kommen häufig mit wenigen Vorläuferfähigkeiten, die für die Schule benötigt werden“, berichtet Nadine Porwoll. Als Beispiel nennt sie den Umgang mit einem Arbeitsgerät wie der Schere. „Sie bringen aber immer viele Kompetenzen mit, man muss sie nur entdecken“, sagt die Schulleiterin.

Man spürt bei jedem Satz, bei jedem Blick, wie wichtig die Schülerinnen und Schüler ihnen sind. Die Grundschule will die Basis für eine erfolgreiche Bildungsbiografie ermöglichen. „Dazu ist es erforderlich, die Anschlussfähigkeit herzustellen“, sagt Porwoll, die Kinder fit zu machen, dass sie den Wechsel auf eine weiterführende Schule geschmeidig überspringen können. So arbeitet die Neue Grundschule Lehe eng mit der ERNST, der Schule am Ernst-Reuter-Platz, zusammen.

„Auch dafür benötigen wir Zeit, die wir im gebundenen Ganztag finden werden“, sagt Porwoll zuversichtlich. „Vier Jahre Grundschulzeit sind dafür eigentlich zu wenig“, finden die Verfechterinnen eines längeren gemeinsamen Lernens. Wie sie ohnehin gerne Grenzen aufbrechen. Den jährlichen Lehrplan einzuhalten, halten sie für illusorisch: „Wir müssen in größeren Zeiteinheiten denken.“

Lernen mit Alltagsbezug

Ein Zirkusprojekt ist nicht weniger Unterricht
Ein Zirkusprojekt ist nicht weniger Unterricht © Neue Grundschule Lehe

Lernen wird an der Neuen Grundschule Lehe breit gedacht. „Warum ist ein Zirkusprojekt weniger Unterricht als Brennballspielen im Sport?“, fragt die Schulleiterin. Das Kollegium, zu dem auch Krankenpflegerinnen und -pfleger, die Schulsozialarbeit, persönliche Assistentinnen und Assistenten sowie pädagogisch Mitarbeitende gehören, hat sich auch gegen spezielle Sprachförderstunden ausgesprochen. Alle Kinder sind vielmehr aufgefordert, jeden Tag zehn neue Wörter zu „sammeln“. Und sie profitieren vom Bremer „Leseband“ – 15 bis 20 Minuten tägliches Lesen während der Unterrichtszeit –, der gezielten Leseförderung im Rahmen der Bremer Gesamtstrategie „Initiative Basiskompetenzen“.

Das Team ist überzeugt: „Kinder lernen mit Händen und Füßen, im Miteinander, in alltäglichen Situationen mehr als mit einem Arbeitsblatt.“ Entsprechend lautet eine seiner Zukunftsvisionen: Lernen auf dem Bauspielplatz. Ein solcher wird aktuell im Stadtteil erprobt. Der Stadtteil Lehe im Stadtbezirk Nord von Bremerhaven gehört ohnehin zum Erkundungsgebiet der Schule. „Wir möchten das ganze Viertel für die Kinder nutzen, offen für andere sein. Und die Eltern als Experten für ihre Kinder einbinden“, sagt Arne von Twistern.

Dem Gedanken des Alltagsbezugs folgt das tägliche Unterrichtskonzept. So wenn beispielsweise der von Tischler Dirk Lammers gebaute riesige Kaufmannsladen „handlungsorientierten Mathematikunterricht“ ermöglicht. Hierhin gehen die Kinder in sogenannten jahrgangsübergreifenden Lernclustern mit den Namen „Watt“, „Küste“ oder „Düne“ nicht nur während der Schulstunde gerne.

Von ihren Lernbegleiterinnen und -begleitern erhalten sie in ihren Stammgruppen den erforderlichen Input und ziehen sich anschließend zur Basiszeit zurück. Dann arbeiten sie selbstständig an den zuvor im Kollegium abgestimmten Basisplänen, zeigen, wenn eine Aufgabe gemeistert ist, und wandern zur folgenden individuellen Aufgabe. Alle in ihnen möglichen Schritten und im jeweils eigenen Tempo.

Schule ohne Gepäck

Lehrerin Anika Fricke erklärt: „Ob sie dabei sitzen, liegen oder stehen, entscheiden sie selbst. Flexible Möbel erlauben uns, ihnen zu überlassen, wie sie lernen möchten.“ Im Zauberraum auf der „Werft“, gegenüber der Bibliothek, können die Kinder entspannen, wenn sie sich dort mit ihrem Lerncluster aufhalten. Lichtsensoren (wie in manchen Saunen), vibrierende Sessel und vielerlei haptisch Erfassbares tragen zum Ausgleich und zur inneren Ruhe bei.

Individuelle Aufgaben im eigenen Tempo lösen
Individuelle Aufgaben im eigenen Tempo lösen © Neue Grundschule Lehe

Ruhe – nicht gleichbedeutend mit Schweigen oder fehlendem Lachen – darf als ein wesentliches Merkmal dieser Schule gesehen werden. In Ruhe werden Veränderungen geplant, die Schulentwicklung vorangetrieben. Individuelles Lernen, eine sinnvolle Nutzung der Jahrgangsmischung und die Einbindung weiterer externer Kräfte zählen zu den möglichen Schritten. Schulleiterin Nadine Porwoll formuliert es so: „Wir möchten ein Ort sein, an dem sich alle, nicht nur die Kinder, wohl und sicher fühlen.“

Und noch ein Vorhaben ist der Schulleiterin wichtig: „Wir möchten eine Schule ohne Gepäck werden. Das heißt, eine Schule, an der die Kinder, das Material, mit dem sie arbeiten, schon vorfinden und nicht täglich schleppen müssen.“ Eine treffende Begründung fügt sie hinzu: „Wenn jemand in einer Autowerkstatt arbeitet, bringt er seine Hebebühne schließlich auch nicht mit.“

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