Ganztagsschule mit stabilen „Brückenelementen“ : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Das Schildchen sagt fast alles: „Ab hier bitte lächeln!“. Die Sekundarschule „Adolph Diesterweg“ in Roitzsch, Berufswahlsiegel-Schule, heißt ihre Schülerinnen und Schüler durch Praxisnähe und Beteiligung willkommen.

Kaffee kochen für den Journalisten, der zu Gast kommt, Anteilnahme an den Schmerzen der jungen Schülerin, die sich eine leichte Verletzung zugezogen hat, ein offenes Ohr für den Schulleiter, Telefonate mit Eltern: Sie hat viele Dinge gleichzeitig zu erledigen und bleibt trotzdem aufmerksam, zugewandt, geradezu fröhlich. Wir sitzen im Vorzimmer des Schulleiters der Sekundarschule „Adolph Diesterweg“ in Roitzsch im Landkreis Anhalt-Bitterfeld. Wir sitzen bei Annette Borstel – offiziell die Sekretärin der von 494 Schülerinnen und Schülern besuchten Schule in der 15.000 Seelen zählenden Gemeinde, einem Ortsteil der Stadt Sandersdorf-Brehna.

Inoffiziell darf sie, die hier nun schon 20 Jahre wirkt, sich als gute Seele der Sekundarschule fühlen. Alle, auch Hausmeister Marko Sido, der sich in seiner kurzen Pause ebenfalls hier einfindet, vertrauen Annette Borstel, sind von ihrer professionellen Arbeit angetan. Sie verkörpert das, was diese Schule sein möchte. „Wir sind halt so etwas wie eine große Familie“, betonen Schulleiter Bobby Keller und die pädagogische Mitarbeiterin Sarah Schirmer.

V.r.: Bobby Keller, Annette Borstel, Kerstin Päutz, Katja Bönke-Wendt
V.r.: Bobby Keller, Annette Borstel, Kerstin Päutz, Katja Bönke-Wendt © Sekundarschule Adolph Diesterweg Roitzsch

Darauf sind sie stolz. Darauf legen sie wert und leben Werte. Annette Borstel lächelt verschmitzt, wenn sie die Frage beantwortet, ob diese Schule ein strenge sei. „Nein, streng würde ich nicht sagen, aber wir achten schon auf das Miteinander.“ Beispielsweise, dass gegrüßt wird, wenn man sich trifft. Borstel: „Manchmal vergisst das ein Kind. Dann schimpfe ich nicht oder ermahne, sondern schaue ihm in die Augen und sage: Guten Morgen. Das genügt.“

„Warme Worte der Schulleitung“

Vorleben könnte das Stichwort lauten. Darum ist das Kollegium auch morgens zu Schulbeginn auf dem Schulgelände unterwegs, begrüßt den Tag, die Schülerinnen und Schüler. Und wenn das Briefing für die „Berufswahl Richtig Angehen Frühzeitig Orientieren-Tage“, kurz BRAFO, ansteht, ein Bestandteil des ausgeklügelten Berufsorientierungskonzeptes, mit dem die potenziellen künftigen Auszubildenden in die regionalen Betriebe schnuppern, gibt es vor der gemeinsamen Abfahrt ein „paar warme Worte der Schulleitung“.

Bobby Keller bringt es auf den Punkt: „Wir bringen den Schülerinnen und Schülern den Respekt entgegen, der im Miteinander von Menschen üblich sein sollte und den wir uns gegenüber auch erwarten.“ Die Berufswahlorientierung stellt einen jener Faktoren dar, die die Schule selbst auf die Frage: „Was macht uns zu einer starken Schule?“ als Antwort präsentieren würde. Möglichst viele Kooperationspartner werden „an Land gezogen“, bei Planung und Gestaltung haben Kinder, Jugendliche und ihre Eltern Mitspracherechte.

Schule mit ausgeklügeltem Berufsorientierungskonzept
Schule mit ausgeklügeltem Berufsorientierungskonzept © Sekundarschule Adolph Diesterweg Roitzsch

Vielfältige Exkursionen – beispielsweise zur Berufsbildenden Schule nach Bitterfeld –, Praktika, eine Berufswahlmesse, Kompetenzanalysen, Zukunftstage oder die Teilnahme an Wettbewerben sollen die Schülerinnen und Schüler fit für den Berufsalltag machen, ihnen Perspektiven aufzeigen. Individuell und in einem über vielen Jahre gewachsenen schulspezifischen regionalen Netzwerk. Regelmäßig wird ein „Beruf des Monats“ auf der Schulhomepage vorgestellt.

Praxisnähe und Brückenelemente

Alles steht unter der Maxime der Praxisnähe. Dreimal wurde die Schule, die gerne von zahlreichen „Brückenelementen“ spricht, die das Konzept der Berufsorientierung wie Säulen stabilisieren, bereits mit dem Berufswahlsiegel rezertifiziert. Eine Mutter, die wir zufällig vor der Schule treffen, verrät uns: „Die Möglichkeit, zwischen verschiedenen weiterführenden Schulen zu wählen, gibt es hier ja kaum. Doch davon unabhängig: Wir hätten uns allein schon wegen der Vorbereitung aufs Leben für diese Schule entschieden.“

Sie darf sicher sein: Ins Berufsorientierungskonzept werden eventuell weitere Säulen eingezogen, doch auf den Kopf gestellt wird es nicht werden. „Und das, obwohl wir durchaus alles immer wieder hinterfragen“, betont die pädagogische Mitarbeiterin Sarah Schirmer. Sie darf als Beispiel für den Generationenwechsel an der Sekundarschule gelten. Das Kollegium, das aus sehr erfahrenen und zahlreichen jungen Nachfolgerinnen besteht, bringt seine Ideen ein. Sie werden diskutiert, gegebenenfalls ausprobiert, evaluiert, installiert, modifiziert oder verworfen.

Beispielsweise, wenn es um die Anpassung des Ganztagskonzepts geht, organisiert von der stellvertretenden Schulleiterin Kerstin Pautz. Gemeinsam mit der Serviceagentur Ganztag Sachsen-Anhalt nahm man es unter die Lupe. Aktuell bietet die gebundene Ganztagsschule, deren Unterricht erst um 8.20 Uhr beginnt, dem Jahrgang 5 eine Arbeitsgemeinschaftsstunde pro Woche sowie die Hausaufgabenstunde. Im Jahrgang 6 kommt eine weitere Stunde hinzu, während ab Klasse 7 unterschiedlichste Kurse die AGs ersetzen.

Interessen und Neigungen im Blick

Kurs „Biotop“ der Klassenstufe 7
Kurs „Biotop“ der Klassenstufe 7 © Sekundarschule Adolph Diesterweg Roitzsch

„Zum Menschen gehört mehr als Fachunterricht“, betont der Schulleiter und denkt beispielsweise an den Babysitter-Kurs für die „Älteren“ oder an den Kurs „Biotop“ der Klassenstufe 7, in dem das Schulgeländes so umgestaltet wird, dass sich mit den Pflanzen auch Insekten ansammeln, dass Kräuter für den Hauswirtschaftsunterricht verfügbar sind und Ruhezonen zum Relaxen in der Natur. Sarah Schirmer leitet selbst die AG „Aquarianer“ und die AG Schülerzeitung. Der Kurs „Biotop“ schafft sich den eigenen Nachwuchs, indem er die AG „Grüner Daumen“ der Klassenstufe 5 unterstützt.

Sportkurse – sogar Kegeln, Hochsprung und Speerwerfen gibt es – und die Teilnahme an Sportevents wie dem Sieben-Seen-Lauf oder dem Goitzschemarathon gehören selbstverständlich dazu. Umliegenden Vereine wie der TSV Blau-Weiß Brehna, der VC Bitterfeld-Wolfen oder der Goitzsche Ruderclub Bitterfeld können sich freuen, denn die Schule sieht es auch als ihre Aufgabe an, Schülerinnen und Schüler dorthin zu vermitteln. Und sie bildet selbst „Schulsportassistenten“ aus, wie das eine Vereinbarung zwischen dem Bildungsministerium und dem Sportlehrerverband Sachsen-Anhalt vorsieht.

Ganztagskonzept mit neuen Lösungen

Die Schülerinnen und Schüler nehmen die Kurse als Wahlpflichtangebot wahr. Der Blick richtete sich aber auch aus schulorganisatorischen Gründen weg von der individuellen Lernzeit hin zu den auf die Interessen und Neigungen ausgerichteten AGs und Kursen. Gekürzte Stundentafeln, mehr Schülerinnen und Schüler, weniger Personal – das sind einschneidende Änderungen, die Flexibilität benötigten.

In einem dreitägigen Workshop mit Unterstützung der Serviceagentur hat das Kollegium das bisherige Ganztagskonzept mit neuen Lösungsansätzen an die gegebenen Bedingungen angepasst. Im Zentrum stehen nun seit drei Schuljahren die AGs und Kurse, die sich inhaltlich an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen orientieren und ohne Notendruck Freude am Ausprobieren ermöglichen. Zugleich sind sie wiederum „Brückenelement“ zur Berufsorientierung. Zusätzlich schaffen die Hausaufgabenzeiten für alle Jahrgänge Raum für gemeinsames Üben und Festigen.

Zukunftsfähig bleiben

Bobby Keller betont die Notwendigkeit des Wandels: „Wir müssen zukunftsfähig bleiben. Ein ‚Weiter so wie immer’ kann es daher nicht geben.“ Aus dieser Perspektive kann die Schule sogar Corona etwas abgewinnen. Sozusagen über Nacht wurde, auch dank des medienaffinen Kollegen Torsten Mai, neue Lernkonzepte auf die Beine gestellt, Lern-Apps und Lernvideos erstellt oder dazu auf dem Markt bereits Bestehendes eingeführt.

... bis Beachvolleyball und Sieben-Seen-Lauf
... bis Beachvolleyball und Sieben-Seen-Lauf © Sekundarschule Adolph Diesterweg Roitzsch

„Sieht man von der Hektik und davon ab, dass durch die Schulschließung, die auch unsere geplanten Feierlichkeiten zum 90-jährigen Bestehen durcheinanderwirbelte, alles mehr oder weniger erzwungen war, sehen wir vor allem die Chancen der Digitalisierung“, verrät Keller. Und macht sich zugleich Sorgen, dass das Interesse daran, den Schulalltag in diese Richtung zu modernisieren, wieder abflachen könnte. Die Befragung von Schülerinnen, Schülern, Eltern und Kollegium zur Corona-Erfahrung ergab ein sehr differenziertes Bild. Viele gaben an, dass das Lernen daheim schwierig gewesen sei. Mal fehlte es an Infrastruktur, mal mussten jüngere Geschwister beaufsichtigt werden, statt am digitalen Unterricht teilzunehmen.

„Aber zumindest sollten wir die digitalen Möglichkeiten, die nun existieren, weiter nutzen“, wünscht sich die 23-jährige Sarah Schirmer. Sie denkt beispielsweise daran, jene Schülerinnen und Schüler mit Material aus dem Unterricht, Lernspielen und Lernvideos zu erreichen, die aus welchen Gründen auch immer dem Unterricht fernbleiben (müssen). An der technischen Ausstattung der Schule wird es nicht scheitern. Sie ist nach der Schulsanierung der zwei Lernhäuser für die unterschiedlichen Jahrgangsstufen bereits gut.

Die Umbauphase stellte alle an der Schule Tätigen vor eine organisatorische und nervliche Herausforderung. „Sie wurde sozusagen am offenen Herzen vorgenommen“, sagt Schulleiter Keller. Jahre lang wurde gebohrt, gehämmert, gebaut – und gleichzeitig gelernt und unterrichtet. Innen präsentiert sich das Gebäude nun nach pädagogischen Überlegungen der Schule mit einem klar gestalteten, farblich gekennzeichneten Raumkonzept. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich wohl. Das spürt man.

Pilotkommune „Kinder- und Jugendbeteiligung“

Als unumstößlich gilt bei aller Bereitschaft zum Wandel die Tradition der außerschulischen Aktivitäten. Fahrten ins Anhaltische Theater Dessau, das beliebte Steinzeitprojekt, der Tag des Sports, an dem die Schülerinnen und Schüler drei Tage lang in Sportvereine hineinschnuppern, oder die seit zwei Schuljahren mit gestaltete Städtepartnerschaft mit der französischen Gemeinde Semoy sind sozusagen in Stein gemeißelt. Ebenso wie die demokratische Bildung. Dem Jugendbeirat der Stadt Sandersdorf-Brehna, die 2020 als Pilotkommune „Kinder- und Jugendbeteiligung“ ausgezeichnet worden ist, gehören regelmäßig Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule Roitzsch an.

Plakat Berufswahlmesse
© Sekundarschule Adolph Diesterweg Roitzsch

„Hausintern“ gründen Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufe 9 in ihrem handlungsorientierten Projekt, das stets die erste Woche eines Schuljahres einer jeden Klasse prägt, eigene fiktive Parteien, schreiben ihre politischen Ideen nieder und stellen sich einem einer „echten“ Wahl ähnelndem Votum – mit Wahlzettel und Wahllokal. „Wir wollen die jungen Menschen in die Gesellschaft der Gemeinde integrieren“, betont Sarah Schirmer. So beschäftigte sich jüngst die Klasse 8a mit der Stadt Sandersdorf-Brehna. „Wie siehst Du die Stadt?“, lautete der Titel einer Umfrage unter den Schülerinnen, Schülern und dem Kollegium. Die Ergebnisse werden hoffentlich auf offene Ohren in der Kommunalpolitik stoßen.

In der Schule jedenfalls sind Anregungen stets willkommen, ob es um die zahlreichen, häufig von den Kindern und Jugendlichen mitgestalteten Feste, die Willkommenstage für die „Neuen“, den letzten Schultag, das Sommerkonzert oder das Weihnachtsprogramm geht. Entsprechend vielfältig sind die Möglichkeiten der Beteiligung in zahlreichen Gremien. „Denn wir halten trotz aller unterschiedlichen Denkweisen, Ideen und Visionen fest zusammen“, strahlt Sarah Schirmer. Und das alles nach dem Motto, das sich Annette Borstel gut sichtbar in ihr Sekretariat gehängt hat: „Ab hier bitte lächeln.“

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