Ganztagsschule als Heimathafen : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

Die Stadtteilschule Ehestorfer Weg in Hamburg hat sich neu erfunden. Im HAFEN verbinden sich neue pädagogische Ansätze mit einer ganztägigen Raumnutzung. „Hier hat jeder seinen Lieblingsplatz“, sagt der Schulleiter.

Schulleiter Tobias Langer
Schulleiter Tobias Langer an seinem Lieblingsplatz © Claudia Pittelkow

Ein Heimathafen ist ein Ort, an den Seeleute immer wieder gerne zurückkehren. Ein vertrauter Ort, ein Ankerplatz. Die Stadtteilschule Ehestorfer Weg, eine teilgebundene Ganztagsschule im Süden Hamburgs, will für ihre Schülerinnen und Schüler ein solcher Ort sein. „Schule als Heimat funktioniert aber nur über eine enge Bindung“, betont Schulleiter Tobias Langer. „Deshalb ist es eine unserer wichtigsten Aufgaben, unsere Schule zu einem Ort zu machen, mit dem unsere Schülerinnen und Schüler positive Ereignisse und Erfahrungen verbinden.“

Damit dies gelingt, hat die Schule vor gut drei Jahren einen Schulentwicklungsprozess in Gang gesetzt, der veränderte pädagogische Ansätze mit einer ganztägigen Raumnutzung verbindet. Zentrales Element dieses Prozesses ist der HAFEN – ein ganztägiges Konzept, das 2019 sogar mit dem Hamburger Bildungspreis ausgezeichnet wurde. 

Das Konzept HAFEN entsteht

Als Tobias Langer 2017 die Schulleitung übernahm, befand sich die Stadtteilschule Ehestorfer Weg in einer tiefen Krise. Die Schüleranmeldezahlen waren im Keller, Lehrkräfte bewarben sich weg, lange Zeit konnte keine Schulleitung gefunden werden. Das Ergebnis der Schulinspektion war nicht zufriedenstellend, die Schule schnitt im Vergleich mit den anderen Hamburger Schulen schlecht ab. „Das Problem war wohl, dass die frühere Grund-, Haupt- und Realschule nicht zu einem integrierten Schulsystem zusammengewachsen ist“, vermutet Langer. 

Klar war: Es musste sich etwas ändern, sowohl in pädagogischer als auch in räumlicher Hinsicht. Nach einem halben Jahr des Planens und Ideensammelns im Kollegium war schließlich das Konzept HAFEN geboren. Die fünf Buchstaben stehen für „Halten, Ankommen, Fördern/Fordern, Entspannen und Neu ausrichten“. Tobias Langer: „Mit dem HAFEN verabschieden wir uns von der Enge der ausschließlich auf den Klassenraum ausgerichteten Pädagogik.“ Der HAFEN ist ein zentraler Ort im Schulleben, in dem parallel zum Unterricht ganztägig verlässlicheBeratung, gezielte Unterstützung sowie Begabungsförderung stattfindet. 

Mehr als 50 Schülerinnen und Schüler werden tagsüber im HAFEN gefördert und gefordert, das Angebot reicht vom „Talentschuppen NaWi“ und der Talentförderung Musik über Mathematik- und Leseförderung bis zum Lerntreff oder zum English-Conversation-Kurs. Im HAFEN arbeiten sozial- und sonderpädagogische Fachkräfte mit den Lehrkräften (und Schulhund Sam!) Seite an Seite, damit Schülerinnen und Schüler ihre individuellen Talente bestmöglich ausschöpfen können. Lehrerin Louise Ehrmann ist an der Schule für Talentförderung zuständig. Als „Fachkraft für Begabungsförderung“ – so die amtliche Bezeichnung – sollte sie sich eigentlich um sogenannte hochbegabte Schülerinnen und Schüler kümmern, doch an der Stadtteilschule Ehestorfer Weg denkt man inklusiv. 

Bildungsgerechtigkeit durch Förderung von Talenten

Louise Ehrmann begründet das so: „Wir haben hier auch Kinder mit eher schwächeren Schulleistungen. Doch jede und jeder hat Talente, welche es zu entdecken gilt. Jedes Kind das Recht, seine Begabungen zu entfalten.“ Ganz praktisch können Schülerinnen und Schüler beispielsweise in den beiden HAFEN-Kursen „Forschendes Lernen“, in denen sie nach individuellen Interessen arbeiten dürfen, ihre Talente entdecken. Das schafft enorme Erfolgserlebnisse.

Innenansicht der Mensa
Die neue Mensa © Camerloher-Gymnasium Freising

Schulleiter Langer: „Unserem Verständnis nach lernen alle Schülerinnen und Schüler an ihren Erfolgen. Es liegt an uns, diese Erfolge sichtbar zu machen.“ Dabei sei Erfolg nicht etwa gleichzusetzen mit einer Bestnote 1. „Auch eine 4+ statt einer 5 kann ein Erfolg sein“, betont er. Gleiche Chancen für alle – hierfür brennt Tobias Langer seit langem. „Das Thema Bildungsgerechtigkeit ist seit über 20 Jahren mein Thema“, sagt er.

Der HAFEN bildet den Rahmen für das gesamte Schulleben.Die Angebote verteilen sich über den ganzen Tag. Im offenen Eingang von 7.30 bis 8.30 Uhr empfängt er Schülerinnen und Schüler, die sich auf den Schultag vorbereiten möchten, später mit Angeboten in der Mittagspause, und am Nachmittag bietet er viele Gelegenheiten zu gemeinsamen Aktivitäten, Gesprächen, Spielen oder zum Lernen. Zu den Ganztagsangeboten gehören neben zahlreichen sportlichen Aktivitäten ein „Talentschuppen“ in unterschiedlichen Fächern, außerdem Schach, Forschen, Medienarbeit, ein Schulgarten, das Jugendcafé und – ganz wichtig: die Lernzeit.

Rhythmisierung im 60 Minuten-Takt

In Ganztagsschulen, in denen die Hausaufgaben reduziert werden, bezeichnet die Lernzeit die Stunden in der Woche, in der die Schülerinnen und Schüler ihre Übungen erledigen, die früher für zu Hause aufgegeben wurden. An der Stadtteilschule Ehestorfer Weg ist die Lernzeit in den Stundenplan integriert. Sie wird von Fachlehrkräften betreut und dient explizit dem „Üben, Vertiefen und Wiederholen“ in den Fächern Mathematik und Deutsch.

Zum Entwicklungsprozess der Harburger Schule gehört auch eine veränderte Rhythmisierung des Schultags. Ganztagskoordinatorin Julia Engelbart hat an der neuen Zeiteinteilung mitgearbeitet. So wurden die gängigen Doppelstunden mit 90 Minuten auf Einzelstunden mit 60 Minuten gedrosselt. Engelbart: „Wir haben gemerkt, dass die Konzentration nach einer Stunde Unterricht deutlich nachlässt und deshalb auf den 60 Minuten-Takt umgestellt, weil eine Einzelstunde mit 45 Minuten zu kurz ist.“ Auch neu: Die Förderstunden, die früher nach 16 Uhr stattfanden und nur spärlich besucht wurden, sind nun in den Ganztag integriert und beginnen teilweise schon im offenen Eingang.

Außerdem hat die teilgebundene Ganztagsschule – entgegen dem sonst üblichen Zeitplan – kurzerhand die Stunden verschoben: Der Unterricht wurde so verteilt, dass er drei- bis viermal pro Woche bis 15 Uhr dauert, wodurch die Förderung in den Ganztag integriert werden konnte, also nicht nach 16 Uhr stattfindet. „Dadurch konnten wir besonders die Kinder der Klassenstufen 5 bis 7 mehr an den Ganztag binden“, so Engelbart.

Dreidimensionaler Raumausbau

Adrian Krawczyk
Architekt und Ganztags-Referent Adrian Krawczyk © Claudia Pittelkow

Die neuen pädagogischen Ideen des HAFENs wurden mit einem außergewöhnlichen räumlichen Konzept verknüpft. Architekt Adrian Krawczyk, seit 2010 für die Hamburger Schulbehörde als Referent für Raumkonzepte im Ganztag tätig, hat den Schulentwicklungsprozess drei Jahre lang begleitet. Nachdem in einem ersten Schritt alle Räumlichkeiten für Förderangebote und die Schulsozialarbeit zusammengeführt waren, kam der Wunsch auf, den HAFEN räumlich und inhaltlich zu erweitern. 

„Es zeigte sich, dass die benachbarte, ungeliebte Pausenhalle dafür Potenzial aufwies“, so Krawczyk. Mithilfe des renommierten dänischen Architekturstudios Rosan Bosch, das sich international mit innovativen Lernumgebungen einen Namen gemacht hat, wurde 2018 das Projekt „Hafenerweiterung“ auf den Weg gebracht. „Durch eine neue Innenausstattung konnte in der alten Pausenhalle eine lernfördernde Umgebung geschaffen werden, vor allem im Hinblick auf einen erfolgreichen Ganztagsbetrieb“, so der Architekt.

In einem dreidimensionalen Raumausbau wurden zahlreiche Angebote so geschickt untergebracht, dass unterschiedlichste Orte neben- und übereinander entstanden. „Kollaboration, Präsentation und beiläufige informelle Treffen sowie Rückzug wurden in einem einzigen Raum realisiert“, schwärmt Krawczyk in bester Architektensprache. Für die Schülerinnen und Schüler heißt das übersetzt: Die neue Pausenhalle kann als Kantine genutzt werden, als Veranstaltungsraum, sie bietet diverse Möglichkeiten zur Zusammenarbeit, zum Lernen oder auch zum Rückzug, zur Kreativität oder zur Entspannung. 

„Hier hat jeder seinen Lieblingsplatz“

Der ehemals große, unattraktive Raum bietet jetzt zahlreiche kleine und größere Nischen und Rückzugsorte, nebeneinander, über- und untereinander, alles offen, natürlich mit den passenden maritimen Namen wie Werft, Leuchtturm, Kajüte oder Frachtraum. Krawczyk: „Um solch ein Raumkonzept umzusetzen, muss die Einstellung und Haltung der Schule und des Kollegiums stimmen. An der Stadtteilschule Ehestorfer Weg ist das der Fall, hier ist durch ein besonderes Engagement am Ende ein ganz besonders Projekt entstanden!“

Aus ihrer einstigen Krise ist die Schule längst heraus. Statt 650 Schülerinnen und Schülern vor drei Jahren sind es heute 745, die Anmeldezahlen haben sich kontinuierlich erhöht. Bis 2023 ist sogar ein Erweiterungsbau geplant. Das Kollegium ist engagiert, und die Schülerinnen und Schüler lieben ihren HAFEN mit der erweiterten Pausenhalle. Im Vergleich zu früher wird der Raum viel besser genutzt. 

Lernen in der Kajüte
Schüler lernen in der Kajüte © Claudia Pittelkow

Zehntklässler Max bereitet im HAFEN gerne Präsentationen vor. „Hier ist immer irgendjemand da, wenn ich Fragen habe, ich muss nicht auf meinen Klassenlehrer warten“, lobt er. Nola aus der 7. Klasse mag die ruhige Atmosphäre: „Durch die vielen Zwischenwände hallt es nicht mehr so, das ist viel besser als früher.“ Die Schülerin hat im Talentschuppen ihre Lust am Zeichnen entdeckt. Jiali aus dem 10. Jahrgang macht mit beim English-Conversation-Kurs. Mit anderen sitzt sie in einer gemütlichen Ecke, hier und da sitzen Schülerinnen und Schüler einzeln oder in kleinen Grüppchen beisammen, reden, lesen. „Hier hat jeder seinen Lieblingsplatz“, sagt Schulleiter Tobias Langer. Er selbst auch.

 

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