Ganztagsgrundschule mit positivem Blick : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die Grundschule am Dichterviertel in Mülheim arbeitet nach klaren Prinzipien: auf Stärken schauen und Freude am Lernen erhalten. Nun erhielt sie den Deutschen Schulpreis in der Kategorie „Bildungsgerechtigkeit fördern“.

Schulpreis 2021 Bildungsgerechtigkeit
Jubel über den Deutschen Schulpreis spezial 2021 © Grundschule am Dichterviertel

Es sind nur wenige Monate verstrichen, da wurde der Grundschule am Dichterviertel in Mülheim der Deutsche Schulpreis spezial in der Kategorie „Bildungsgerechtigkeit fördern“ verliehen. Eine Anerkennung für ihren unermüdlichen Einsatz für Bildungsgerechtigkeit, besonders in der Corona-Pandemie. Und dann? Dann sagt Schulleiterin Nicola Küppers unter zustimmendem Nicken ihrer Kolleginnen Jana Groß und Jennifer Galle den interessanten Satz: „Eigentlich sind wir eine ungerechte Schule.“ Hat sich die Jury bei der Wahl der Schule geirrt? Nein. Im Gegenteil. 

Ungerecht findet die Schulleiterin, nicht zu akzeptieren, dass „Ungleiche ungleich behandelt“ werden sollten. Will heißen: Das leistungsschwächere Kind, das sich verbessert hat, kann in der Grundschule am Dichterviertel ein „dickeres“ Lob einheimsen als jenes, das zu den Leistungsstarken zählt und wieder eine hervorragende Leistungsüberprüfung abgegeben hat. Ungleiche ungleich behandeln heißt auch: Nicht alle knapp 200 Kinder, von denen 90 in der OGS bis 16 Uhr angemeldet sind, arbeiten stets an den gleichen Aufgaben. Was auch für die Leistungskontrolle gilt. Fühlt sich ein Kind in einem Themenkomplex sicher, checkt es dieses in einer Art Selbsttest, anschließend meldet es sich zur Kontrolle an. Dafür darf es sich an einen gesonderten Platz zurückziehen. In den Klassenstufen 1 bis 3 erhält es einen ausführlichen Bericht als Feedback, ab Klasse 4 dann Noten.

Einst von Schließung bedroht – heute Schulpreisträger

Vor rund acht Jahren, als Nicola Küppers an die Schule im Stadtteil Eppinghofen kam, wo das Gründerzeit-Wohnviertel um den Goetheplatz mit Lessing-, Schiller- und Klopstockstraße das „Dichterviertel“, bildet, lag diese, drastisch ausgedrückt, beinahe am Boden. Der Anblick wirkte wenig einladend, die Stimmung war schlecht, die Anmeldezahlen auch. Das Wort „Schließung“ kreiste über der Einrichtung, und manch einer wäre vielleicht sogar froh gewesen, wenn es tatsächlich dazu gekommen wäre. Kam es aber nicht. Denn Schulleiterin Küppers war gekommen, um zu bleiben und ihre Ideen umzusetzen.

Eigentlich mag sie das gar nicht hören, doch sie drückte der Schule mit ihrer Philosophie einen Stempel auf: auf die Stärken der Kinder zu schauen. Sie möchte Resonanzräume schaffen, die es jungen Menschen ermöglichen, Selbstwirksamkeit, Selbstvertrauen und Empathie zu entwickeln. „Für eine gelingende Humanität“, fügt sie hinzu. Das passende Team für diese „vereinbarte“ Haltung, wie es Konrektorin Jana Groß formuliert, hat sich gebildet. „Wir denken gleich, wir sind gleichwertig“, betonen die drei.

Schon der Morgen beginnt in der Grundschule am Dichterviertel freundlich und friedlich. Kinder, die frühstücken möchten, können es in der Schule tun. Im Morgenkreis begrüßen sie sich in allen Sprachen, die in Mülheim gesprochen werden. Die deutsche Sprache wird intensiv gefördert, aber niemand erhebt Einwände, wenn ein Kind seine Muttersprache nutzt, um eine Rechenaufgabe im Kopf zu lösen oder das Resultat einer Arbeit zu präsentieren.

Optimierung im Blick

Das Kollegium stellt sich der Realität: „Wenn jemand, ob Kind, Mutter oder Vater, noch nicht so gut deutsch spricht, muss sie oder er trotzdem verstehen, worum es geht.“ Entsprechend wird der SchoolFox genutzt, die App für die wichtigsten Informationen, der die Elternbriefe ersetzt. Der Vorteil: SchoolFox kann die deutsch verfasste Nachricht in andere Sprachen übersetzen. Und da die Schule stets bemüht ist, alles noch ein wenig besser zu machen, verteilt sie mehrsprachige Fragebögen in der Schulgemeinschaft, um nach Möglichkeiten der Optimierung zu forschen. 

Schulregeln
„Bei uns existieren klare Strukturen.“ © Online-Redaktion

Nicola Küppers sagt: „Für uns läuft etwas schon dann noch nicht optimal, wenn auch nur eine Lehrkraft das gemeinsam Vereinbarte noch nicht umsetzt.“ In diesem Satz steckt mehr als das Versprechen, sich auf Erreichtem nicht auszuruhen. Vielmehr will er sagen: Wir schauen hin, wir wollen, dass jedes Kind sein Potenzial ausschöpft. „Bei uns herrscht nicht die Einstellung, ‚wir verstehen alles und deshalb ist es egal, wie du dich verhältst und arbeitest‘“, erläutert die Schulleiterin. „Bei uns existieren klare Strukturen, und wenn etwas nicht in Ordnung ist, wird es angesprochen.“ 

Jana Groß fügt hinzu: „Selbst, wenn wir ein Fehlverhalten thematisieren, muss das Gegenüber, unabhängig vom Alter und seiner Funktion, Zuneigung spüren.“ Es herrschen Regeln. Fünf wurden verschriftlicht und ausgehangen: Ich nehme andere an, so wie sie sind. Ich gehe achtsam mit anderen und der Umwelt um. Ich bin freundlich und hilfsbereit. Ich ermögliche mir und anderen das Lernen und Spielen. Ich höre anderen zu. Letzteres geschieht stets, wenn sich jemand auf die sogenannte Freundschaftsbank setzt und signalisiert, mir geht es gerade nicht gut. Es vergehen nur Sekunden, und der Betroffene wird angesprochen. 

Als Fehlverhalten gilt in der Grundschule am Dichterviertel auch, schlecht über andere zu reden. Passiert das Kindern, werden sie darauf angesprochen. Gemeinsam wird überlegt, wo die Ursachen für die Aggression liegen. Häufig klären die Schülerinnen und Schüler das in Eigenregie. Im Teamzimmer, wie der gemeinsame Arbeitsplatz von Lehrkräften, Erzieherinnen sowie Sozialarbeiterinnen und -arbeitern heißt, steht das „Wertschätzungsschwein“. Es wird von Erwachsenen gefüttert, die in die Schlechtreden-Falle tappen. 

Nicola Küppers hat es auch schon erwischt. Sie hat sich anschließend entschuldigt. „Glauben Sie nicht, dass bei uns immer Friede-, Freude-, Eierkuchen-Stimmung herrscht. Wir setzen uns kritisch miteinander auseinander.“ Dies geschieht auch, wenn sich das gesamte Team, bestehend aus allen Professionen, jeden Dienstag zum mehrstündigen Gedankenaustausch trifft. Neben allgemeinen Informationen steht auf Tagespunkt 1 stets die Frage nach Positivem. 

Lernzeit ersetzt die Hausaufgaben

Anschließend bleibt Raum, den Blick auf die einzelnen Kinder zu richten. Das funktioniert nur, wenn alle in der Runde die Grundschülerinnen und -schüler kennen – auch jenseits der schulischen Leistungen. Auch zu diesem Zweck unterstützen OGS-Fachkräfte die Lehrkräfte in den zwei morgendlichen Stunden selbstgesteuerten Lernens. In ihnen sind die Kinder weitgehend frei in ihrer Entscheidung, woran sie arbeiten. 

„Na klar, manchmal müssen wir sie auch ein wenig an die Hand nehmen. Manchmal müssen wir sie auch bitten, etwas anderes zu tun, als sie selbst ausgewählt haben“, sagt Küppers. Sie fordert von sich und dem Team: „Dann aber geben wir klare Hinweise. Und sagen nicht: Fang an. Was soll ein Kind mit den Worten?“ Dem selbstgesteuerten Lernen folgt die „lehrerzentrierte Phase“. Ihr schließt sich die Lernzeit an. Sie ersetzt die Hausaufgaben und wird ebenfalls multiprofessionell begleitet. 

Wandbild
Achtsamkeit, Wertschätzung und demokratische Einstellung © Dr. Claus Kogelheide

Die Leiterin der Offenen Ganztagsschule Jennifer Galle ist überzeugt: „Es hilft uns allen, wenn wir die Kinder in unterschiedlichen Situationen begleiten. Wir als OGS-Kräfte erleben die Kinder natürlich freier als im Unterricht. Darum ist es aber auch gut, wenn die Klassenlehrerin mal eine Stunde ‚Phase 10’ mit ihren Kindern spielt.“ Damit sie und ihre Kolleginnen auch jene Schülerinnen und Schüler kennenlernen, die nicht in die OGS gehen, werden nach einem festen Plan immer Gruppen von fünf Mädchen und Jungen für eine Stunde aus dem Unterricht genommen und genießen einen Workshop. 

OGS mit Grünem Klassenzimmer und Stillegarten

Träger der Offenen Ganztagsschule ist seit 2007 das Diakonische Werk Mülheim an der Ruhr. Die dort zuständige Ganztagskoordinatorin Heike Reichert begleitet die Teams vor Ort, und es besteht ein reger Austausch mit OGS-Leiterin Jennifer Galle und der Schulleitung. Im OGS-Team des Diakonischen Werkes arbeiten derzeit fünf festangestellte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, ein FSJler und eine Küchenmitarbeiterin. Seit 2018 bietet die OGS auch eine Ferienbetreuung an. Die Leitlinien der OGS „Achtsamkeit, Wertschätzung und eine demokratische Einstellung“ entsprechen denen der gesamten Schule. 

In den vier Räumen und einem großen Verbindungsraum mit separatem Zugang zum Schulhof sind dafür gute, auch architektonisch ansprechende Voraussetzungen vorhanden. Es gibt Kreativbereiche, Bauecken, Leseecken und Entspannungszonen. Genutzt werden neben der Bücherei auch der PC-Raum und der Forscherraum der Schule für AGs. Im Grünen Klassenzimmer oder im Stillegarten finden Garten-AGs statt, die nicht nur Pflanzen, sondern auch Kaninchen und eine Schildkröte betreuen. 

Vormittags nutzt die Schule die OGS-Räume für Förderangebote und für die zweimal wöchentlich stattfindenden MuT-Cafés, die Sprachkurse des Mülheimer Sprachprogramms „Mitmachen und trauen“, und das Elterncafé in Kooperation mit dem Familienzentrum. Die zwei Schulhöfe, attraktive Außenbereiche, Turnhalle, Sportanlage und ein Fußballbolzplatz stehen den Kindern ebenfalls zur Verfügung. Seit 2020 gibt es eine Fahrradwerkstatt in einem Nebengebäude. 

Herr Dichter und Frau Viertel

Eppinghofen gilt als „Jungbrunnen Mülheims“: ein kinderreicher, wachsender und internationaler Stadtteil. Unterstützt wird die Schule vom „Mülheimer Bildungsnetzwerk MH/0/25 vor Ort“, das sich für die Teilhabechancen von Kindern und für Erziehungs- und Bildungspartnerschaften mit den Eltern einsetzt, ebenso vom Stadtteilmanagement Eppinghofen.

Hasen
Schulkaninchen „Herr Dichter" und „Frau Viertel" © Dr. Claus Kogelheide

Der positive Geist, der hier herrscht, wirkt sich aus Sicht der Lehrkräfte und OGS-Fachkräfte auch auf die Leistungen aus. Bei Vergleichsarbeiten schneidet die Grundschule am Dichterviertel regelmäßig ausgesprochen gut ab. Vielleicht liegt es auch daran, dass darauf reagiert wird, wenn jemand gerade nicht aufnahmefähig ist. Dann darf er oder sie durchaus einmal die Klasse verlassen, sich einen Seelentröstertee gönnen, gerne auch einmal auf einen Baum klettern oder das Hochbeet pflegen, „schließlich müssen wir die- oder denjenigen ja vor dem eigenen Verhalten schützen“. Wenn Eltern besorgt einwenden, das Kind verpasse dann doch Lernstoff, antwortet das Team: „Tut es doch in solch einer Stressphase eh…“

Ungeklärt bleibt bei unserem Schulbesuch, was Herr Dichter und Frau Viertel zum Konzept der Schule sagen. So heißen die beiden Kaninchen, die hier im Innenhof der Schule leben. „Schließlich sollen Kinder auch lernen, Verantwortung zu übernehmen. Mit Tieren können sie sich bestens darin üben. Wir verstehen das auch als einen Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit“, sagt Nicola Küppers. Die Kaninchen haben sich an diesem Morgen versteckt.

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