Ganztag in Glauchau: SHS statt SOS : Datum:

Bestens ausgebildete Schülerinnen und Schüler agieren am traditionsreichen Georgius-Agricola-Gymnasium Glauchau als „Lehrkräfte“. In der Schülerfirma finden manche ihren Traumberuf. Aber das ist noch nicht alles.

Als sich das Kollegium des Georgius-Agricola-Gymnasiums im sächsischen Glauchau erstmals mit der Idee beschäftigte, eine Schülerfirma zu etablieren, ahnte wohl niemand, was sich daraus entwickeln würde. Doch unterstützt von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung entstand ein außergewöhnliches Projekt. „SHS – Schüler helfen Schülern“ ward 2006 geboren und gedieh prächtig.

Getreu der Devise: Schülerinnen und Schüler mit besonders guten Leistungen unterstützen all jene, die für sich selbst den Bedarf sehen, Inhalte des Unterrichts noch einmal zu vertiefen, nehmen sie individuelle Förderung wörtlich und erfahren sie im sogenannten Peer-Learning zugleich selbst. Wertgeschätzt werden sie allein schon durch den Titel, den sie führen dürfen: „SHS-Lehrkräfte“.

Das Konzept dieses von 762 Schülerinnen und Schülern besuchten Gymnasiums mit Ganztagsangeboten, die in Sachsen kurz GTA heißen, stellt durchaus etwas Außergewöhnliches dar. Die Schüler-GmbH firmiert unter dem fantasievollen Titel „SHS statt SOS“. Wer ihn hört, weiß, was gemeint ist: Schülerinnen und Schüler helfen Schülerinnen und Schülern, bevor SOS gefunkt werden muss. Schon 2007 bescherte das Konzept dem Gymnasium die Auszeichnung „Schule mit Idee“ des Sächsischen Kultusministeriums.

Enger Bezug zum Fachunterricht

Und so funktioniert die Schülerfirma: Aus dem Kreis der Jahrgänge 9 bis 12 melden sich Schülerinnen und Schüler, die Jüngere unterstützen wollen. In den vergangenen Jahren waren das immer rund 20 Mutige. Dass sie für ihre Aufgabe geeignet sind, bescheinigen ihnen ihre Fachlehrerinnen und Fachlehrer sowie ihre Noten. In Frage kommt nur, wer sehr gute bis gute Leistungen zeigt. Die Angebote umfassen Mathematik, Physik, Englisch, Französisch und Deutsch.

Hausaufgaben mit Tablet
Die SHS-Lehrkräfte stimmen sicht mit den Fachlehrkräften ab. © Georgius-Agricola-Gymnasium Glauchau

Warum Letzteres immer wichtiger wird, erläutert Schulleiterin Kerstin Pyritz: „Da sind zum einem Schülerinnen und Schüler mit Lese-Rechtschreib-Schwäche. Aber wir müssen auch feststellen, dass das Erlernen und vor allem das Üben der deutschen Grammatik und Rechtschreibung nicht mehr so stark in den Lehrplänen verankert ist, wie es früher einmal der Fall war.“ So gibt es Nachholbedarf, der in kleinen Lerngruppen gestillt wird.

Die SHS-Lehrkräfte stimmen sich mit den Fachlehrerinnen und -lehrern ab. So wird ein enger Bezug zum Fachunterricht gewährleistet. Sie schaffen etwas, was den erwachsenen Lehrkräften mitunter nicht gelingt, wie die Schulleiterin lobt: „Wir lassen bei Erläuterungen manchmal Zwischenschritte weg, weil sie für uns selbstverständlich sind. Die SHS-Lehrkräfte gehen diese Schritte.“

„Wie im wirklichen Lehrerzimmer“

Projektleiterin Grit Wiegner, die gemeinsam mit Physiklehrer André Hunger die Schülerfirma leitet, benennt einen weiteren Aspekt: „Nachhilfe verliert auf diese Weise ihr etwas negatives Image. SHS-Unterricht ist völlig normal.“ Und die lästige Suche nach einer Nachhilfelehrkraft außerhalb der Schule entfalle auch. Bis zu 60 Schülerinnen und Schüler nutzen das Angebot.

SHS-Lehrkräfte werden nicht unvorbereitet auf die Schülerinnen und Schüler „losgelassen“. Sie erhalten vorab eine intensive Schulung unter der Federführung von Beratungslehrerin Antje Reißmann. In zwölf Stunden stehen Kompetenzen wie Gesprächsführung, der Umgang mit Arbeitsblättern, aber auch „Unterrichtsstörungen“ auf der Ausbildungsagenda. Dem Crashkurs, der übrigens nach dem regulären Unterricht stattfindet, folgt ein Intensivwochenende in einer Jugendherberge.

Mit von der Partie sind dann Fachlehrerinnen und Fachlehrer für Sprachen und Naturwissenschaften, die Einblicke in didaktische Möglichkeiten und Finessen geben. André Hunger merkt an: „Da geht es mitunter wie im wirklichen Lehrerzimmer zu. Ein reger Austausch zwischen den neuen und den „alten“ Lehrkräften findet statt, alles wertschätzend und konstruktiv.“

Einblicke in spannende Berufsfelder

Eine immer wieder gestellte Frage ist, was jugendliche „Lehrkräfte“ davon haben, sich nicht nur um das eigene Lernen zu kümmern, sondern Mitschülerinnen und Mitschüler zu fördern. Das Agricola-Gymnasium hat darauf viele Antworten: „SHS erweitert und festigt das eigene Wissen, hilft pädagogische, soziale und rhetorische Fähigkeiten zu entwickeln, gibt Einblick in den Berufsalltags eines Lehrers, und die Zertifikate und Stundennachweise können für Bewerbungen genutzt werden.“

Aus dem Kreis der SHS-Lehrkräfte sind schon einige hauptberufliche Pädagoginnen und Pädagogen hervorgegangen. Was auch für jene gilt, die in die Organisation des SHS-Projektes eingebunden sind. Lara beispielsweise fand an der Arbeit im SHS-Büro, einem eigens dafür zur Verfügung gestellten Raum, so viel Freude an Organisation und Abrechnungswesen, dass sie sich nach dem Abi dem Verwaltungswesen verschrieb.

Team des Schulradio
Theater-AG. Chor und Nachwuchschor gehören zum Angebot. © AG Öffentlichkeitsarbeit

Auch nicht zu vernachlässigen: SHS bessert das Taschengeld auf und schafft ein Bewusstsein dafür, dass Bildung sich – auch finanziell – lohnt. Für die wöchentliche, 45 Minuten lange Unterrichtseinheit erhalten die SHS-Lehrkräfte ein kleines Honorar von 2,50 Euro. Und so kann Grit Wiegner zusammenfassen: „Die Vorteile für die SHS-Lehrkräfte liegen auf der Hand. Sie erweitern und festigen das eigene Wissen, entwickeln pädagogische, soziale und rhetorische Fähigkeiten und gewinnen Einblicke in spannende Berufsfelder.“

„Komplexe Leistung“

Dies gelingt auch durch ein ausgefeiltes Konzept der Berufs- und Studienorientierung, inklusive einer eigenen Studienorientierungsmesse mit Vertretern zahlreicher Universitäten, Fachhochschulen, Berufsakademien und Ausbildungseinrichtungen. Die Schülerinnen und Schüler können Hochschulinformationstage nutzen und erhalten zahlreiche „Schnupperangebote“. Bereits ab Klasse 5 besuchen die Schülerinnen und Schüler zweimal im Jahr regionale Unternehmen.

Möglich wird dies unter anderem durch eine enge Vernetzung der Schule mit der regionalen Wirtschaft. Im Landkreis Zwickau mit seiner großen Industrietradition gibt es jährlich einen ganzen Veranstaltungskalender zur beruflichen Orientierung, zu dem etwa die Messe Bildung&Beruf , die Fachkräftebörse Zwickau , die Berufsausbildungsmesse Kirchberg oder die „Tage der Industriekultur Spätschicht“ in Chemnitz gehören. Ab Klasse 11 locken der Sächsische Hochschultag, die Herbstuniversität der TU Dresden oder die „Querbeet-Woche“ an der renommierten TU Bergakademie Freiberg.

Als wertvolle Vorbereitung auf ein mögliches Studium, aber auch fürs gymnasiale Lernen, dienen am Gymnasium selbst die Projekttage „Komplexe Leistung“ in Jahrgangsstufe 10. „Komplexe Leistung“ ist nach der sächsischen Oberstufen- und Abiturprüfungsverordnung eine Jahresarbeit oder eine besondere Lernleistung (BeLL), in der die Schülerinnen und Schüler ein Thema eigenständig erarbeiten, in einer schriftlichen Ausarbeitung, die wissenschaftlichen Anforderungen genügt, untersuchen und reflektieren und schließlich in einem Kolloquium präsentieren. Hier werden die Schülerinnen und Schüler mit den Feinheiten wissenschaftlichen Lernens vertraut gemacht. Stefan Kühn hat dafür eine schuleigene Broschüre entwickelt.

Schule mit Tradition

Das Georgius-Agricola-Gymnasium ist, wie der Name schon vermuten lässt, eines mit Geschichte. Seinen Ursprung als höhere Bildungsanstalt der Kreisstadt Glauchau hatte es 1859. Zwei Symbole an der modernen Aula mit großer Bühne, die früher als Turnhalle genutzt wurde, erinnern an weitere Stationen der Geschichte: Ein Turnerkreuz erinnert an „Turnvater Jahn“, dessen Turnbewegung („Frisch, Fromm, Fröhlich, Frei“) in Glauchau Fuß fasste.

Ein „JP“ steht für „Junge Pioniere“ und damit die Kinderorganisation der DDR. Allerdings war das Gymnasium ab 1953 die vierjährige, zum Abitur führende „Erweiterte Oberschule Georgius Agricola“ mit den Klassen 8 bis 12. Vom 125. Jubiläum 1984 gibt es noch eine edle Medaille mit Porträt des Arztes, Apothekers und Mineralogen Agricola, der 1494 in Glauchau geboren wurde und 1555 in Chemnitz starb.

Schulhof mit Klettergerüst
2005 begann die Komplettsanierung © Georgius-Agricola-Gymnasium Glauchau

Von der Umstrukturierung des sächsischen Bildungssystems im Jahr 1992 bis zum Schuljahr 2002/2003 bestand die Schule aus zwei Gebäuden. 2005 begann die Planung für einen Anbau und die Komplettsanierung des Gebäudes. Der Freistaat Sachsen, der Bund und die Europäische Gemeinschaft stellten dafür rund 11,6 Millionen Euro bereit.

Regionalgeschichte erforschen

Historie verpflichtet, könnte man sagen und festhalten: Das Agricola-Gymnasium wird dem vollständig gerecht. Der Tradition hat sich zum Beispiel Geschichtslehrer Hubertus Schrapps verschrieben, der im Rahmen der Ganztagsangebote die Arbeitsgemeinschaft „Geschichte“ leitet. Laut Schrapps gehört das Agricola-Gymnasium mit seinem imposanten Gebäude zu den „schönsten Seiten von Glauchau“. Unter seiner Federführung entstand ein faszinierendes Schulmuseum. Viele Hände und Geldbeutel waren erforderlich, um die einstige Hausmeisterwohnung im Keller in ein Museum zu verwandeln.

Die Fünftklässler betreten das Museum oft in der ersten Geschichtsstunde und staunen mit großen Augen. Aus einer Schülerin sprudelt hervor: „Manches riecht sogar wie früher und einiges habe ich schon bei Oma und Opa gesehen.“ Das schärft bei den Schülerinnen und Schülern ebenso wie ein ehemaliges Postenhäuschen der in Glauchau einst stationierten sowjetischen Streitkräfte mit wechselnden Ausstellungen das Geschichtsbewusstsein.

Aus der Arbeitsgemeinschaft „Geschichte“ ist inzwischen ein Verein hervorgegangen. Sein Ziel ist es, die sächsische Regionalgeschichte zu erforschen. Wörtlich heißt es: „Geschichte hautnah erleben und mitgestalten, ist unsere Devise. Darüber hinaus arbeiten wir auch regelmäßig für externe Projekte (Denkmalpflege in der Region, Lehmofenbau, Erstellung von Chroniken etc.) und gestalten jedes Jahr einen Kalender mit historischen Stadtansichten von Glauchau.“ Interessierte Schülerinnen und Schüler können auch ein Praktikum auf Burg Döben bei Grimma absolvieren.

Von Skat bis Tanzstunde - Täglich Ganztagsangebote

Die AG „Geschichte“ zählt wie viele andere, die täglich – auch von externen Partnern – offeriert werden, zum Ganztagskonzept des Agricola-Gymnasiums. Verantwortlich dafür zeichnet die stellvertretende Schulleiterin Maria Vogel. Für die 5. Klassen beginnt das Ganztagsangebot mit einer Hausaufgaben- und Entspannungszeit nach dem Mittagessen.

Verständlich, was Maria Vogel beobachtet hat: „Unsere jüngeren Schülerinnen und Schüler nutzen zwar die Förderangebote, sind aber stärker am Freien Spiel interessiert. Die Kinder genießen es auch, wenn einer von uns mit ihnen einfach nur ,Mensch ärgere Dich nicht` spielt.“ Selbstverständlich haben sie alle Möglichkeiten, in die AGs hineinzuschnuppern, bevor sie sie sich fest für eine entscheiden.

Schulgebäude
Der neue Anbau - auch für das Ganztagsangebot ... © Georgius-Agricola-Gymnasium Glauchau

„Skat und andere Kartenspiele“ gehören dazu ebenso wie „Hammer, Säge und Co.“, der Schulsanitätsdienst, die Theater-AG, Chor und „Nachwuchschor“, sportliche Angebote wie Fitness/Leichtathletik oder Badminton, Kunst, Kochen oder Konzentrationstraining. Fast alle Unterrichtsfächer sind mit Förderangeboten vertreten. Neu sind in diesem Schuljahr „Russisch für Anfänger“, „Häkeln“ und die „Tanzstunde als Vorbereitung auf den Abiball“.

Stabile lokale Netzwerke

Das Bemühen um möglichst starke Identifikation der Kinder und Jugendlichen mit ihrer Schule, die ein sprachliches, naturwissenschaftliches, gesellschaftswissenschaftliches und sportliches Profil anbietet, gelingt. Als Belege dienen schon das Ehemaligennetzwerk „Club der Agricolaner“, aber auch die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler die Schulhymne und das Maskottchen „Georgius“ des Gymnasiums entwickelt haben.

Stabile „Netzwerke“ stellen auch die zahlreichen Partnerschaften mit Schulen im Ausland und die eigene Bibliothek, die als Außenstelle der Stadt- und Kreisbibliothek Glauchau geführt wird, dar. Und wer erfahren möchte, was, wann, wie und wo am Georgius-Agricola-Gymnasium geschehen ist, welche sportlichen Erfolge gefeiert werden oder welche Begeisterung die öffentlichen Auftritte der Chöre, des Orchesters oder der Theatergruppe ausgelöst haben, schalte das Schulradio „metallixx“ ein.

Eine jahrhundertealte gymnasiale Tradition, wie sie seit 1825 vom preußischen „Ministerium der Geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten“ für Gymnasien vorgeschrieben war und außerhalb Preußens oft übernommen wurde, führen übrigens Andrea Rögner, die Fachleiterin und Verantwortliche für Öffentlichkeitsarbeit, und Kunstlehrerin Karen Winkler gemeinsam mit der Arbeitsgemeinschaft „Öffentlichkeitsarbeit“ fort: Sie erarbeiten den jährlichen „Jahresbericht“ des Gymnasiums, der immer am letzten Schultag des Schuljahres erscheint. Wer darin blättert, wird umfassend informiert.

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