Eine demokratische Ganztagsschule in Berlin : Datum: Autor: Autor/in: Ralf Augsburg

Die Fritz-Karsen-Schule in Berlin-Neukölln ist die älteste Gesamtschule Deutschlands. Als „demokratische Schule“ mit der großen Tradition ihres Namensgebers legt sie besonderen Wert auf Mitsprache und Mitwirkung.

1948 im amerikanischen Sektor von Berlin. Die Alliierten machen das deutsche Schulsystem mitverantwortlich für den Aufstieg des Nationalsozialismus. Alle haben selbst Gesamtschulsysteme, das gegliederte System ist ihnen fremd. In seiner Direktive Nr. 54 von 1947  hat der Alliierte Kontrollrat auf amerikanische Initiative ein „zusammenhängendes Erziehungssystem“ mit „aufeinanderfolgenden“ Stufen gefordert. Das erste Berliner Schulgesetz von 1947 sieht für alle Teile der Stadt eine zwölfjährige, in sich differenzierte Einheitsschule mit achtjähriger Grundstufe und darauf aufbauender vierjähriger Oberstufe vor.

Doch 1951 setzen sich die Beharrungskräfte durch, als bei der Novelle des Schulgesetzes für Westberlin die Reform rückgängig gemacht wird. Ein Zugeständnis bleibt die sechsjährige Grundschule – und für die Karl-Marx-Schule im Neuköllner Ortsteil Britz eine Ausnahmeregelung: Sie darf weiter als Einheitsschule arbeiten. 1956 wird sie nach Fritz Karsen, einem der bedeutendsten Schulreformer der Weimarer Republik, umbenannt. Er hatte ab 1921 als Oberstudiendirektor das Kaiser-Friedrich-Realgymnasium geleitet und es – unter dem Neuköllner Bildungsstadtrat Kurt Löwenstein – schrittweise zur Einheitsschule umgestaltet, die 1930 zur Karl-Marx-Schule wurde. Im Februar 1933 wurde Karsen aus dem Schuldienst entlassen und musste ins Exil fliehen.

Bis heute versteht sich die Fritz-Karsen-Schule als „Speerspitze einer fortschrittlichen Erziehung“, wie ein Lehrer in dem sehenswerten Schulfilm sagt. Schülerinnen und Schüler des Wahlpflichtkurses Gesellschaftswissenschaften führen durch die Schule, einschließlich Zeitzeugenbefragung. Denn wie Mittelstufenleiterin Katja Schulz, die selbst einmal hier Schülerin war, bleiben Generationen der Schule treu.

Eine Schule für alle

Schulleiter Robert Giese
Schulleiter Robert Giese © Fritz-Karsen-Schule

Heute lautet die exakte Bezeichnung für die Fritz-Karsen-Schule „Gemeinschaftsschule mit Grundstufe und gymnasialer Oberstufe“. Sie ist die älteste ihrer Art in Deutschland. Für Schulleiter Robert Giese, der die FKS seit 16 Jahren leitet, wird sie dem eigenen Anspruch, eine „Schule für alle“ zu sein, heute mehr denn je gerecht. „Bis zur Gründung der Gemeinschaftsschulen 2008 in Berlin waren wir ja genau genommen keine Schule für alle. Heute lernen bei uns auch über 100 Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf.“

Robert Giese ist ein leidenschaftlicher Streiter für die Gemeinschaftsschule. Wie sein Vorgänger Lothar Sack ist er Vorstandsmitglied der GGG – Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule, Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens e.V. und Vorsitzender der GGG Berlin. Die Idee, dass sich in der „Schule für alle“ am besten Demokratie und soziales Miteinander verwirklichen lassen, hält er aktuell für gebotener denn je. Zusammen mit dem Kollegium hat er über die Jahre organisatorische und pädagogische Veränderungen entwickelt, um dieser Idee bestmöglich nahezukommen.

„Durch Mitsprache und Mitwirkung lernt jeder Verantwortung für die Entwicklung der Schule, für sich und andere zu übernehmen“, heißt es im Leitbild der Schule. Jeder und jede – das sind 1.250 Schülerinnen und Schüler von der 1. bis 13. Klasse in den acht Gebäuden an der Onkel-Bräsig-Straße. Das älteste Gebäude ist von 1839, das jüngste kam 2012 hinzu. 1928 hatte Karsen mit dem Architekten Bruno Taut – als Ausdruck des Neuen Bauens – das Konzept der Gesamtschule entwickelt, es entstand einer der ersten Pavillonbauten im Schulbau.

Lernen mit Ausnahmegenehmigung

Die Schülerschaft der Fritz-Karsen-Schule ist auch heute noch sozial gemischt, nicht zuletzt, weil sie mit der Primarstufe beginnt und somit fast alle Kinder aus dem Einzugsbereich der Schule kommen. Bis Klasse 6 arbeitet die Schule im Jahrgangsübergreifenden Lernen (JÜL). In den Klassen 1 bis 3 sind Erzieherinnen und Erzieher mit bis zu 13 Wochenstunden im Unterricht. Ab Klasse 7 läuft fast der gesamte Mittelstufenunterricht im Klassenverband ohne äußere Differenzierung. Jede Klasse wird von zwei Klassenlehrkräften unterrichtet. In Klasse 9 und 10 kommt jeweils noch eine Lerngruppe „Praxislernen“ dazu. 40 bis 60 Prozent der Schülerinnen und Schüler absolvieren jährlich die gymnasiale Oberstufe und legen das Abitur ab. Von ihnen geben übrigens 20 Prozent an, später pädagogische Berufe ergreifen zu wollen.

Tanzen
"Neukölln tanzt!" © Fritz-Karsen-Schule

Der Schülerzahl und der Vielfalt der Aufgaben entspricht die Größe des Kollegiums: Rund 170 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hat die Schule, davon 32 Erzieherinnen und Erzieher, von denen einige über eine Zusatzqualifikation als Integrationserzieherinnen und -erzieher verfügen. Zu den 122 Lehrkräften gehören 12 Sonderpädagoginnen und Sonderpädagogen. „Sie bilden auch die Kolleginnen und Kollegen fort, wenn es darum geht, Förderpläne zu schreiben oder in Konfliktfällen angemessen zu reagieren“, berichtet der Schulleiter.

Gebundene Ganztagsschule: Neukölln tanzt

Die Fritz-Karsen-Schule ist seit 2006 eine gebundene Ganztagsschule. Hausaufgaben sind abgeschafft. Stattdessen gibt es für die Lerngruppen 4 bis 6 eine individuelle Lernzeit von täglich 30 Minuten und ab der 7. Klasse Arbeits- und Übungsstunden. Zum Ganztagsangebot gehören dienstags und freitags die Arbeitsgemeinschaften, viele in Kooperation mit außerschulischen Partnern. Die Hockey-AG führt zum Beispiel der Mariendorfer HC durch. Kooperationspartner sind auch das Museum Neukölln, das Haus der Zukünfte Futurium oder die Gartenarbeitsschule Neukölln.

„Theater spielen kann hier bei uns jeder, und zusätzlich gibt es ein Blasorchester“, freut sich Robert Giese. Als Kulturagenten-Schule kooperiert die Fritz-Karsen-Schule mit dem freien Theater HAU – Hebbel am Ufer, dem Haus der Kulturen der Welt, dem Kunst- und Kreativzentrum Young Arts Neukölln und in der Tanz-AG mit dem MädchenSportZentrum „Wilde Hütte“. Die tanzfreudigen Schülerinnen und Schüler befinden sich gerade – gemeinsam mit dem Albrecht-Dürer-Gymnasium, der Lisa-Tetzner-Grundschule und der Schule am Bienwaldring – in der „heißen Phase“ für das inklusive Tanzfestival „Neukölln tanzt“.

Die Lauf-AG trainiert regelmäßig für den Berliner Mini-Marathon, und in der Robotik-AG sammeln Schülerinnen und Schüler ab Klasse 8 Programmiererfahrungen mit Lego-Robotern und M-bots. Es gibt die Percussion-AG mit Djemben, Congas und Schlagzeug, die Gitarren-AG mit Akustikgitarren, Ukulelen, E-Gitarren und Bassgitarren, schließlich die Bläserklasse mit diversen Holz- und Blechblasinstrumenten. Der Schulleiter ist „immer wieder erstaunt“ über die Fortschritte der jungen Musiker ist. „Viele Kinder lernen hier Instrumente spielen, die sie sonst niemals kennengelernt hätten.“

Schülerzeitung
Aushängeschild der Schule: Fritz-Blitz © Fritz-Karsen-Schule

Die Homepage-AG für Schülerinnen und Schüler von Klasse 4 bis 13 sucht gerade Verstärkung. Ein Aushängeschild der Schule ist die Schülerzeitung „Fritz-Blitz“. Zuletzt brachte sie Beiträge über „Corona“, wie einen Bericht über das Fotoprojekt zu Nähe und Distanz im Lockdown, aber auch einen Artikel über den russischen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny, einen Bericht über ein Auslandsjahr in Alaska oder einen Beitrag zum Thema Schönheitsideale.

Demokratische Schulentwicklung

Die Demokratie in der Gemeinschaftsschule beginnt im Kollegium. „Alle Lehrerinnen und Lehrer arbeiten bei uns in Jahrgangsteams, zu denen immer auch die Erzieherinnen und Erzieher gehören“, erklärt der Schulleiter. Die Teams formulieren die Entwicklungsziele der Schulentwicklung, die in sogenannten Projektkarten im Schulprogramm transparent festgehalten werden. Alle Teams sind in der erweiterten Schulleitung (ESL) und in Steuergruppen repräsentiert.

Am Beispiel der Projektkarte „Durchgängige Sprachbildung“ lässt sich dies illustrieren: Erstens hat die Projektgruppe die „Zielgruppe“ definiert: „Alle Schülerinnen und Schüler, Schwerpunkt Mittelstufe“. Zweitens sind die „Mitglieder der Projektgruppe“ benannt: „Ein bis zwei Verantwortliche aus allen Fachbereichen“. Drittens finden sich dort die „Ansprechpartner“ und viertens der „Projektzeitraum“ („Schuljahr 2020/2021 bis 2022/2023“). 

Fünftens sind die „Projektziele“ formuliert: „Erstellung von sprachsensiblen Materialien in allen Fächern; Etablierung eines Konzepts zur durchgängigen Sprachbildung für das Schulprogramm; regelmäßige Treffen in einer AG für Absprachen, Umsetzungsideen, die in die Fachkonferenzen getragen werden; neue fachspezifische Methoden zur Sprachbildung kontinuierlich auf den Fachkonferenzen vorstellen und ausprobieren“. Sechstens sind „Maßnahmen und Zeitplanung“ detailliert dargelegt: „1. Quartal Schuljahr 2020/2021: Beratungsgespräch mit Experten aus dem Ernst-Abbe-Gymnasium; Entwicklung eines Sprachbildungskonzeptes in der AG; Herstellung von fächerübergreifendem und fächerspezifischen Material, das in der Schulcloud abgelegt wird; verbindliche Umsetzung der durchgängigen Sprachbildung in allen Fächern und Jahrgangsstufen“. 

„Veränderungsbedarf sehen und Projekte anstoßen“

Siebtens wird die „Projektevaluation“ geplant: „Vorstellung des Konzeptes auf Gesamtkonferenz mit Abstimmung bzw. Einarbeitung von Änderungen; Feedback aus den Fachkonferenzen zur Einsetzbarkeit der Methoden im Fachunterricht; Feedback der Schülerinnen und Schüler, inwiefern das Material hilfreich war“. Für das Gesamtprojekt werden achtens die erforderlichen „Ressourcen“ benannt: „AG benötigt Freiräume für regelmäßige Treffen“.

Wandmalerei
Sozial gemischte und aktive Schülerschaft © Fritz-Karsen-Schule

13 Entwicklungsvorhaben laufen derzeit an der Fritz-Karsen-Schule. Zu ihnen gehören zum Beispiel das Verankern individueller Lernwege im NaWi- und im Deutschunterricht, die Einrichtung eines Mathematikraums, die Konzeption stufen- und fächerverbindenden Arbeitens, die „Referenzschule Kultur“, schülerorientierte Rhythmisierung in der 7. Jahrgangsstufe, ein Lernhaus für vormittags lerngruppenorientiertes und nachmittags projektorientiertes Arbeiten oder das Projekt „SchoolSoccer – Straßenfußball für Integration“.

Robert Giese verlässt sich auf seine Kolleginnen und Kollegen, die „Veränderungsbedarf sehen und Projekte anstoßen“. Studientage ermöglichen den Lehrkräften, sich in anderen Schulen umzusehen und Ideen mitzubringen. „Das SchoolSoccer-Projekt ging von einem Kollegen aus. Ein anderer Kollege möchte gerne das Fahrradfahren in allen Jahrgangsstufen verankern, während die Lernhaus-Idee von einer Hospitation mitgebracht worden ist“, erzählt der Schulleiter.

Schülerinnen und Schüler für „Respekt und Vielfalt“

Die Schülerinnen und Schüler der Fritz-Karsen-Schule engagieren sich in den Klassenräten der Jahrgänge 1 bis 11. „Sie lernen hier demokratisch handeln, einschließlich Regeln einzuhalten. Immer mehr beginnen sie sich zusätzlich bewusst zu werden, dass sie auch den Unterricht beeinflussen können“, so Robert Giese. „Am Ende der Diskussionsprozesse steht immer eine Vereinbarung.“

Dass beispielsweise auf dem Schulhof keine Handys zu sehen sind, geht auf die Jugendlichen zurück. „Die Schülerinnen und Schüler hatten kritisiert, dass alle nur noch auf ihr Handy starren, statt miteinander zu reden.“ Die Oberstufe hat auch Diskussionen über einen Internet-Führerschein und über die Einführung eines Tutorensystems angestoßen. In der Schülerzeitung „FritzBlitz“ haben sich die Jugendlichen mit den Themen „Respekt und Vielfalt“, „Hate Speech im Internet“ und „Rassismus“ auseinandergesetzt. Vor drei Jahren wurde die Fritz-Karsen-Schule als erste Schule der Hauptstadt „Schule der Vielfalt“ und gehört heute dem gleichnamigen Netzwerk an. Die Schulgemeinschaft signalisiert damit, dass sie sich gegen sexuelle Diskriminierungen einsetzt.

Schüleraustausch
Schüleraustausch Marseille © Fritz-Karsen-Schule

„Der Erfolg der Gemeinschaftsschule wird davon abhängen, ob es gelingt, den guten Schülern ein Angebot zu machen“, hatte Schulleiter Robert Giese vor deren Einführung gesagt. Heute freut er sich: „Es gibt viel, worauf wir stolz sind. Bei den letzten Schulinspektionen sind wir jeweils im oberen Viertel gelandet. Wenn wir auf Kongressen oder Fortbildungen sind, können wir oft sagen: Das gibt's bei uns schon! Aber das Engagement der Schülerinnen und Schüler zu sehen, wie sie sich einmischen und demokratisch aktiv werden, ist besonders toll."

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