Eine Barmbeker Ganztagsgrundschule wird stark : Datum: Autor: Autor/in: Claudia Pittelkow

Eine Ganztagsgrundschule kämpft sich nach oben. Die Grundschule Lämmersieth in Hamburg-Barmbek ist ein Beispiel dafür, wie gut sich eine Schule entwickelt, wenn alle Beteiligten ein gemeinsames Ziel haben.

2024 für den Deutschen Schulpreis nominiert
2024 für den Deutschen Schulpreis nominiert © Claudia Pittelkow

Normalerweise sind es die Lehrkräfte, die Leistungen beurteilen, Fehler korrigieren und Hinweise geben, wie man sich verbessern kann. Doch wenn eine Schulinspektion ansteht, ist es genau umgekehrt. Seit 2006 werden in Hamburg alle Schulen regelmäßig unter die Lupe genommen. Mitarbeitende der Schulbehörde besuchen Lehrkräfte und Unterricht vor Ort, schauen sich das Führungsverhalten der Schulleitung an und werten ihre Beobachtungen aus. Am Ende erhält jede Schule einen Abschlussbericht.

Die Schule Lämmersieth, eine offene Ganztagsgrundschule im Stadtteil Barmbek, hatte bei ihrer ersten Schulinspektion 2016 ein nicht so gutes Ergebnis erzielt, in der zweiten Runde jedoch mit Bravour bestanden. Und nicht nur das: Die Schule wurde gerade als eine von insgesamt 20 Schulen bundesweit für den Deutschen Schulpreis nominiert!

Die erste Schulinspektion: eher schlecht als recht   

Bei der ersten Schulinspektion vor acht Jahren hatte die Schule ein eher schlechtes Ergebnis erzielt. Nicht alle Kriterien kamen schlecht weg, aber: „Unterrichtsqualität, Lernentwicklung, Unterrichtsentwicklung, die Zusammenarbeit im Kollegium sowie das Qualitätsmanagement und die Steuerung der Schul- und Personalentwicklung wurden als ‚eher schwach‘ bewertet“, erinnert sich Dr. Andrea Albers, Leiterin der Schulinspektion im Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ). Das Institut liefert der Schulbehörde eine Fülle von wissenschaftlichen Daten beispielsweise zur Schul- und Unterrichtsqualität sowie zu Kompetenzen von Schülerinnen und Schülern durch regelmäßige Lernstandserhebungen. Das Ergebnis war für Schulleitung und Kollegium eine bittere Pille.

„Die Stimmung damals war im Keller“, sagt Schulleiterin Antje Kilicli. „Das Ergebnis war auch deshalb so enttäuschend, weil wir schon vor der Schulinspektion einiges auf den Weg gebracht hatten“, so die Pädagogin. Viele strukturelle Änderungen seien vorgenommen worden, etwa die Einführung der Ganztagsschule 2011, später die Umstellung vom gebundenen zum offenen Ganztag, oder passgenaue Sprachförderangebote, die ebenfalls lange vor 2016 etabliert wurden.

„Die Grundsteine unserer Unterrichtsentwicklung waren lange vor der ersten Inspektion gelegt“, betont Dieter Knoblauch, stellvertretender Schulleiter. Leider hätten sich diese jedoch (noch) nicht in den Ergebnissen widergespiegelt. Knoblauch: „Etwas zu verändern, dauert Jahre!“ Infolge der Misere konzentrierte sich die Schulgemeinschaft von nun an stark auf die Schul- und Unterrichtsentwicklung. „Das Gute war, dass die Strukturen dafür ja bereits vorhanden waren“, so Knoblauch.

Schule gibt Gas: Neue Schwerpunkte für den Unterricht

Die personellen Ressourcen der Schule spielten dabei eine große Rolle. Schulleiterin Antje Kilicli erläutert: „Wir legten die besonderen Stärken unseres Kollegiums frei, entwickelten auf Konferenzen und Tagungen ein gemeinsames Verständnis von gutem Unterricht und setzten neue Schwerpunkte für den Unterricht an unserer Schule. Dabei bemühten wir uns immer, uns auf unser besonders kreatives und soziales Potenzial zu verlassen.“ Wie das jüngste Inspektionsergebnis vom Herbst letzten Jahres zeigt, scheint davon eine ganze Menge vorhanden zu sein bei dem 26-köpfigen pädagogischen Team der Schule – inklusive der beiden Erzieherinnen. Alle gemeinsam kümmern sich um die rund 220 Schülerinnen und Schüler, die unter besonders schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen leben.

Bibliothek: Systematische Leseförderung
Bibliothek: Systematische Leseförderung © Schule Lämmersieth

Die Schule liegt im ehemaligen Arbeiterviertel Barmbek, an der Grenze zu Dulsberg, einem Viertel, das von hoher Arbeitslosigkeit und einem geringen jährlichen Durchschnittseinkommen gekennzeichnet ist. Der Sozialindex der Grundschule Lämmersieth lag lange Jahre bei „1“ – der untersten Stufe einer sechsstufigen Skala, die für besonders schwierige Rahmenbedingungen steht. Je nach Einstufung werden einer Schule unterschiedlich viele pädagogische Stellen zugewiesen. Schulen in sozial schwacher Lage können kleinere Klassen bilden und erhalten mehr sprachliche und sonderpädagogische Förderung. 2021 wurde der Sozialindex der Grundschule Lämmersieth von 1 auf 2 hochgestuft.

Wie hat es die Schule geschafft, sich innerhalb weniger Jahre bei der Schulinspektion von einem „nicht so gut“ in ein „sehr gut“ zu verbessern? Laut Antje Kilicli kommt dem Thema Schulentwicklung dabei die größte Bedeutung zu. „Unsere ‚Sternstunden‘ mit dem Lerntagebuch sind das Herzstück unserer Unterrichtsentwicklung“, so Kilicli. Ein Schwerpunkt liege außerdem auf der Sprachbildung, denn die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern sei ein Garant für die Steigerung von Bildungschancen. Und nicht zuletzt seien auch gute Projekte sowie ein funktionierender Ganztag unerlässlich für eine gute Schulentwicklung. „Eine gute Kooperation mit dem Jugendhilfeträger im Ganztag ist wichtig, bei uns ist das die Stiftung Kindergärten Finkenau“, so Kilicli. 

Sternstunden und Lerntagebuch 

2016 führte die Schule „Sternstunden“ ein. Förderkoordinatorin Silke vom Berg erzählt: „Mit Unterstützung des Landesinstituts für Lehrerbildung und Schulbegleitung haben wir zunächst geguckt, was bei uns schon gut läuft. Mit diesen ‚Schätzen aus dem Unterricht‘ sind wir gestartet und haben dann formuliert, was für uns guter Unterricht ist und was die Kinder brauchen.“

Daraus sind die „Sternstunden“ entstanden: Drei- bis viermal pro Woche eine Doppel-Sternstunde, in denen die Schülerinnen und Schüler aus den Fächern Mathematik, Deutsch und Sachunterricht jene Aufgabenformate auswählen, die sie bearbeiten möchten. In Klasse 3 und 4 kommt noch Englisch dazu. Vom Berg: „Dabei sollen die Kinder sich fragen, was ihnen bei ihren derzeitigen ‚Baustellen‘ am meisten helfen kann.“ Unterstützt werden sie dabei von einem Lerntagebuch, das eigens für die speziellen Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler an der Schule entwickelt wurde.

„Dieses Lerntagebuch gibt es nur an der Lämmersieth“, betont Silke vom Berg. Zu Wochenbeginn wird in einer Sternstunde das Lerntagebuch auf einer neuen Doppelseite aufgeschlagen – oder digital am Smartboard – und die Kinder überlegen sich ein Wochenziel. Das kann fachlich ausgerichtet sein oder sozial – beispielsweise kann ein Kind sich vornehmen, bestimmte Regeln einzuhalten. Am Ende der Woche beurteilen die Kinder gemeinsam mit den Lehrkräften, wie nah sie dem Erreichen des Ziels gekommen sind. Das Ergebnis tragen sie in die vorgesehenen Felder ein, und ein Sternchen-Reflexionssystem zeigt den Kindern, wie gut sie gearbeitet haben. „Das Lerntagebuch ist ein wichtiges Organisationswerkzeug, das der Strukturierung und Dokumentation des Lernprozesses sowie der Reflexion und Kommunikation zwischen Schule, Ganztag und Elternhaus dient“, so vom Berg. Bei den Kindern sind die Sternstunden beliebt, da sie mitentscheiden dürfen. 

Sprachförderung und Lämmersiether Bücherbeutel

Sprachbildung ist ein Schwerpunkt an der Grundschule Lämmersieth. Bereits seit über zehn Jahren gibt es FLY-Kurse für Vorschul- und 1. Klassen. FLY steht für Family Literacy: Die Familien werden eingeladen, am sprachförderlichen Unterricht der Kinder teilzunehmen. Später wurde das BiSS-Lesetraining („Bildung in Sprache und Schrift“) eingeführt, eine systematische Leseförderung mit einer festen Lesezeit von 15 Minuten täglich. Silke vom Berg: „Wir tun in dieser Hinsicht sehr viel und sehr kleinteilig. Wir führen Lernentwicklungstabellen und wissen genau, welche Kinder welche Kurse belegen und wie die Erfolge sind.“

Lämmersiether Bücherbeutel
Lämmersiether Bücherbeutel © Schule Lämmersieth

Die Lese-Ergebnisse geben den Maßnahmen Recht. „Die Kinder sind nachweislich besser geworden“, betont die Förderkoordinatorin. Neben den vorgegebenen Sprachtestungen führt die Schule noch eine Reihe von zusätzlichen Lernstandserhebungen durch, darunter Wortschatz- und Grammatiktest. Vom Berg: „Das ist sehr hilfreich, denn so wissen wir sofort, welche Bereiche im Argen liegen und wo man die Förderung ansetzen muss. Wenn wir merken, dass ein Kind besser geworden ist, gehört es in einen anderen Kurs, darauf achten wir sehr.“

Diese passgenaue Leseförderung ist seit zehn Jahren ein wichtiger Baustein. Dazu zählt auch der Lämmersiether Bücherbeutel, eine weitere Erfindung der Schule zur Stärkung der Lesekompetenz. Da viele Schülerinnen und Schüler aus eher lesefernen Familien kommen, hatte man überlegt, wie die Elternhäuser besser unterstützt werden könnten beim Lesen und Vorlesen und beim Einführen der Buchkultur. Das bundesweite Bücherkoffer-Programm für Grundschulen mit 20 mehrsprachigen Büchern überforderte viele Kinder – und deren ihre Eltern –, der Koffer sei nicht selten ungeöffnet zurückgekommen. So passten die Lehrkräfte das Konzept einfach an: Statt eines Koffers gibt es seit diesem Schuljahr den Lämmersiether Bücherbeutel. „Wir haben passgenaue Bilderbücher für Klasse 1 angeschafft und geben den Kindern nur so viele Bücher mit, wie sie zu Hause lesen können“, erklärt Silke vom Berg.  

Funktionierender Ganztag als wichtige Säule

An der Schule Lämmersieth weiß man, dass neben gutem Unterricht und passgenauer Förderung das Miteinander und die gesamte Schulatmosphäre einen großen Einfluss auf die Lernwirksamkeit hat. Dazu gehört ein gutes Ganztagsprogramm. Schulleiterin Kilicli: „Alle Faktoren greifen ineinander. Bei uns können die Kinder zum Beispiel täglich ihre Kurse für den Nachmittag wählen. Erst dachten wir, das kann organisatorisch nie klappen, aber es klappt!“

Auf einer großen Magnettafel heften die Kinder ihre Namensschilder auf die jeweiligen Kurs-Felder und können so gleichzeitig sehen, wenn ein Kurs voll ist – und die Erzieherinnen und Erzieher wissen immer, wer gerade wo ist. Im Wechsel hat immer ein Jahrgang Wahl-Vorrecht, damit jedes Kind mal seine Lieblingskurse wählen kann. Matthias Fiedler leitet den „GBS Wilde Finken“ beim Ganztagsträger, der Stiftung Kindergärten Finkenau. Die Zusammenarbeit laufe seit vielen Jahren sehr gut, sagt er.

Die anfänglich von der Schule organisierte Ganztagsbetreuung wurde 2021 umgestellt auf das GBS-Modell, bei dem der Nachmittag von einem Träger der Jugendhilfe organisiert wird. „Das hat uns vor neue Herausforderungen gestellt, insbesondere hinsichtlich der Verzahnung von Vor- und Nachmittag“, so Fiedler. Zwischen 12.45 und 13 Uhr gibt es seitdem eine gemeinsame Zeit mit den Lehrkräften zum Austausch, damit die Erzieherinnen und Erzieher wissen, was am Vormittag passiert ist. Außerdem sei das Team gewachsen, von vorher fünf auf jetzt 18 Mitarbeitende.

Jede Klasse hat eine Bezugsperson für den Nachmittag. Fiedler: „Wir haben zwischen 13 und 14.30 Uhr drei Zeitfenster etabliert, mit offener Mittagszeit, Lernzeit und Freizeit, theoretisch je 30 Minuten.“ In der Praxis könne das aber variieren und hänge von den Bedürfnissen der Kinder ab. „Wenn ein Kind früher mit dem Essen fertig ist, ist das in Ordnung. Aber alle Kinder sollten mindestens eine halbe Stunde an der Lernzeit oder den parallelen Förderangeboten teilnehmen“, so Fiedler. 

Projektwoche „Zeitreise ins Mittelalter“
Projektwoche „Zeitreise ins Mittelalter“ © Schule Lämmersieth

Um 14.30 Uhr beginnen die Kursangebote, bei denen die Sportkurse – allen voran Fußball –, sowie die vielfältigen Kunst- und Werkstattkurse besonders beliebt sind. Fiedler: „Viele Kinder haben auch eine Lieblingserzieherin oder einen Lieblingserzieher und gehen dann dahin, egal was inhaltlich angeboten wird.“ Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, die Zeit bis 16 Uhr als freie Spielzeit auf dem Schulhof zu nutzen oder in der „Insel“, einer weiteren Besonderheit der Schule.

Die beiden großzügigen Räume, einer mit Schaukelhöhlen, Boxsäcken und riesigen Sprung- und Kuschel-Matratzen, der andere mit Instrumenten, Spiel-, und Bastelmaterial ausgestattet, werden an vier Wochentagen jeweils für drei Schulstunden von Honorarkräften betreut, die die Beschäftigung fachkundig anleiten und die aktuellen Bedürfnisse der Kinder - vor allem Streitklärung und Besinnung - auffangen. Beide Fachkräfte verfügen übrigens über einen Bachelor in Psychologie. Auch die sprachliche Förderung kommt am Nachmittag nicht zu kurz. So ist etwa die Schulbücherei, die 2019 im Rahmen der Schulsanierung ausgebaut wurde, täglich geöffnet und gut besucht und wird auch von den Lesementorinnen und ‑mentoren mit ihren Patenkindern gerne genutzt.  

Projekte: Drachenklasse, Mittelalter und Gesunde Schule

„Neben unserem Bemühen um lernwirksamen Fach-, Sternstunden- und Sprachförderunterricht geht unser Streben auch immer in Richtung Projektarbeit“, sagt Schulleiterin Antje Kilicli. So philosophieren Schülerinnen und Schüler beispielsweise in der „Drachenklasse“ und wurden dafür mit dem Early Bird-Förderpreis für Klassenprojekte ausgezeichnet. Im jahrgangsübergreifenden Projekt „Mittelalter“ sind sie tief in die Epoche zwischen 500 nach Christus und dem Jahr 1500 eingetaucht.

Beim Projekt Gesunde Schule, das gerade als vierjährige Pilotphase an 18 Hamburger Grundschulen läuft, vermitteln Schulgesundheitsfachkräfte den Kindern die Bedeutung von gesunder Ernährung und Bewegung. Schulgesundheitsfachkraft Stefanie Bernecker ist seit drei Jahren an der Schule Lämmersieth. „Der Schwerpunkt meiner Arbeit liegt darauf, die Rahmenbedingungen für das gesunde Aufwachsen zu stärken und Kinder erleben zu lassen, was sie tun können, um gesund zu bleiben“, erläutert sie ihre Aufgabe. Das kann im Rahmen des (Sachkunde-)Unterrichts sein, beim gemeinsamen gesunden Frühstück oder bei einem Kochkurs am Nachmittag – inklusive selbst geernteter Kräuter aus dem Schulgarten. „Oft geht es auch um Ernährungsbildung mit Eltern“, so Bernecker.

Die Schule Lämmersieth ist ein gutes Beispiel dafür, wie gut sich eine Schule entwickeln kann, wenn alle ein gemeinsames Ziel haben und an einem Strang ziehen. Im Schulinspektionsergebnis von 2023 hat die Schule in allen (!) zuvor bemängelten Bereichen nun ein „starkes“ (3) und „sehr starkes“ (4) Ergebnis erzielt, freut sich Dr. Andrea Albers vom IfBQ. Der Schulgemeinschaft und der Schulleitung sei es gelungen, „ihre Zusammenarbeit und die Steuerung so aufzubauen, dass sie nun eine gute Unterrichtsqualität halten können“, so Albers.

Förderkoordinatorin Silke vom Berg fasst die Gründe für den Erfolg zusammen: „Das liegt vor allem am guten Miteinander, an den flachen Hierarchien und dem großen Vertrauen der Schulleitung gegenüber dem gesamten Kollegium. Es gibt den Willen, allen die Freiheit zu lassen, ihre Lehrerpersönlichkeit entfalten zu können, mit all ihren Möglichkeiten. Man wird nicht gebremst, und das ist hochmotivierend!“

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