Schulleitung in der Ganztagsschule : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Welche Bereiche können Schulleitungen als Führungskräfte maßgeblich beeinflussen, um die Qualität einer Ganztagsschule zu verbessern? Bildungswissenschaftler Prof. Dr. Marcus Pietsch von der Leuphana Universität Lüneburg im Interview.

Online-Redaktion: Was macht den Reiz, eine Schule zu leiten, aus?

Prof. Dr. Marcus Pietsch: Wenn man Schulleitungen fragt, ist es vor allem die neue Aufgabe, die sie reizt. Es hängt aber auch davon ab, in welchem Kontext Schulleitungen arbeiten. Wir wissen beispielsweise aus dem angloamerikanischen Raum, wo die Gehälter für Lehrkräfte geringer sind, dass dort auch die Vergütung motiviert, Schulleitung zu werden. Das ist in Deutschland anders. Hier nennen Personen, die Schulleitungsaufgaben übernehmen, vor allem intrinsische Motive, zum Beispiel, neue Ideen zu entwickeln oder eine abwechslungsreiche Tätigkeit zu haben. Insgesamt ist auffällig, dass meist so genannte Pull-Faktoren, also Dinge, die anziehen, die Personen motivieren, Schulleitung zu werden. Push-Faktoren, also beispielsweise der Druck, nicht mehr Lehrperson sein zu wollen, spielen kaum eine Rolle bei den Entscheidungen.

Online-Reaktion: Wer wird überhaupt Schulleiterin oder -leiter?

Pietsch: In Deutschland sind das immer ehemalige Lehrpersonen. Männer und Frauen halten sich in etwa die Waage. Schulleitungen mit einem Migrationshintergrund haben wir bisher kaum. Auffällig ist, dass an Sekundarschulen, also dort, wo die Systeme größer sind und meist auch das Einkommen höher ist, vor allem Männer Schulen leiten. Obwohl rund 65 Prozent der Sekundarschullehrpersonen in Deutschland weiblich sind, werden nur 37 Prozent der Sekundarschulen in Deutschland von weiblichen Führungskräften geleitet – das ist ein eklatanter Unterschied. Wir wissen auch, dass nur etwa jede zweite Schulleitung in Deutschland systematisch auf ihre Tätigkeit vorbereitet wurde, durch ein Landesinstitut oder eine Universität. Das ist ganz anders, als zum Beispiel in der Schweiz. Dort erhalten rund 90 Prozent der Schulleitungen eine systematische Qualifikation.

Elternabend
37 Prozent der Sekundarschulen leiten Schulleiterinnen © Britta Hüning

Online-Redaktion: Warum sind so viele Schulleitungsstellen unbesetzt und was kann dagegen getan werden? Fühlen sich Schulleitungen anerkannt und gestärkt genug?

Pietsch: Die Gründe sind vielfältig. Schulleitungen waren in Deutschland immer ‚Lehrer mit besonderen Aufgaben‘. Entsprechend waren ihr Aufgabenfeld sowie ihre Bezahlung strukturiert. Es fehlt nach wie vor an einem eigenen Berufsbild: Was macht Schulleitung aus? Was wird von ihr erwartet? Wie kann man sie professionalisieren? Einige Bundesländer, zum Beispiel Niedersachsen, haben sich aber jüngst aufgemacht, entsprechende Berufsbilder zu entwickeln. Insbesondere auf dem Land, also bei kleinen Grundschulen, kommt häufig ein strukturelles Problem hinzu, wie man es auch von anderen Berufsgruppen, zum Beispiel Ärztinnen und Ärzten, kennt. Dort sind die Stellen teilweise weniger attraktiv, was Bezahlung, Arbeitswege aber auch die Infrastruktur angeht.

Online-Redaktion: Wie sieht es an Schulen in sozial schwieriger Lage aus?

Pietsch: Dort sind häufig die Herausforderungen besonders groß. Die Vergütung unterscheidet sich aber meist nicht von der einer Führungskraft unter weniger herausfordernden Bedingungen. Auch erwarten Schulleitungen, wie ich finde zu Recht, dass sie, wenn sie unter erschwerten Bedingungen arbeiten, auch als Person mehr Unterstützung durch die Administration erfahren sollten. Häufig empfinden sie die Unterstützung aber als unzureichend, was dann dazu führen kann, dass sie den Arbeitsplatz wechseln oder sogar in den Vorruhestand gehen.

Online-Redaktion: Welche Expertise müssen Schulleitungen, insbesondere in einer Ganztagsschule, mitbringen?

Pietsch: Grundsätzlich müssen Schulleitungen unabhängig von der Art der Schule und der Ausgestaltung von Unterricht und Schule über ähnliche Kompetenzen verfügen. Sie müssen erstens eine lernförderliche und entwicklungsfreundliche Atmosphäre in der Schule schaffen, indem sie alle schulischen Beteiligten motivieren, inspirieren und individuell unterstützen, ihre Potenziale zu entfalten. Zweitens müssen sie das sogenannte Kerngeschäft von Schule – den Unterricht – im Blick haben und die Schule darauf ausrichten, dass dieser bestmöglich funktioniert und alles auf das Lernen von Schülerinnen und Schülern abgestimmt ist.

Online-Redaktion: Welche Rolle spielt es, Verantwortung abgeben zu können?

Pietsch: Andere an Steuerungsentscheidungen zu beteiligen, stärkt die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme im Kollegium. Das ist erstmal überall gleich, muss jedoch je nach Kontext unterschiedlich gewichtet werden. Das trifft auch auf Ganztagsschulen zu, wobei dort noch der Aspekt hinzukommt, dass die Systeme komplexer sind und die Abstimmungsprozesse damit aufwändiger. Hier ist es besonders wichtig, Führungsverantwortung abzugeben und andere Personen an relevanten Steuerungsentscheidungen zu beteiligen, um so innerschulische Kohärenz herzustellen. Kohärenz heißt, die Beteiligung an Führung wirkt dann als eine Art „Kitt“, der die vielfältigen Expertisen, Entscheidungen und Zielsetzungen innerhalb der Schule orchestriert und auf das gemeinsame Ganze hin ausrichtet.

Online-Redaktion: Kann die Aufgabe der Schulleitung auf die Rolle einer Managerin/eines Managers reduziert werden?

Pietsch: Nein. Nicht ohne Grund ist im internationalen Diskurs von „Leadership AND Management“ die Rede. Das sind auch zwei unterschiedliche Dinge. Beim Management geht es vor allem ums Alltagsgeschäft und darum, etwas zu bewahren. Beim Leadership, oder, wie wir sagen, der Führung geht es darum, Visionen zu entwickeln und etwas zu verändern. Grob gesagt handelt es sich um zwei eng miteinander verwobene Aufgaben, wobei man auf der einen Seite eher mit Strukturen und auf der anderen Seite eher mit Menschen arbeitet.

Visionen entwickeln und etwas verändern
Führung heißt auch: Visionen entwickeln und etwas verändern © Britta Hüning

Die Führungsaufgaben werden zunehmend größer, was auch mit den Themen Schulautonomie, Profilbildung von Schulen usw. zusammen hängt. Von Schulleitungen wird also erwartet, dass sie – gemeinsam mit anderen – eine Vision, ja eine Mission für ihre Schule entwickeln, alle schulischen Bestrebungen auf das Erreichen dieser Ziele hin ausrichten und alle Schulbeteiligten auf dem Weg dorthin mitnehmen. Schulleitungen auf Managerinnen und Manager zu reduzieren, trifft es insofern nicht.

Online-Redaktion: Wie kann die Schulleitung die Schulqualität verbessern?

Pietsch: Das ist natürlich in jeder Schule anders, da Schule nicht gleich Schule ist. Grundsätzlich können Schulleitungen als Führungskräfte aber drei maßgebliche Bereiche beeinflussen: erstens die Arbeitsbedingungen von Lehrpersonen, zweitens die Motivation und das Commitment von Lehrpersonen und drittens die Innovationskapazität von Lehrpersonen. Dabei haben sie auf die Arbeitsbedingungen einen großen, auf die Kapazitäten einen eher geringen Einfluss. Gleichwohl wissen wir, dass insbesondere die Innovationskapazität, also die Fähigkeit von Lehrpersonen, Unterricht immer wieder neu und anders zu denken, einen erheblichen Einfluss darauf hat, in welchem Maße der Unterricht das Lernen von Schülerinnen und Schülern fördert. Wenn man also Ganztagsschule besser machen möchte, sollte man vor allem hier investieren: zum Beispiel eine fehlerfreundliche Arbeitskultur schaffen, psychologische Sicherheit und Vertrauen im und mit dem Kollegium herstellen und vor allem die Lehrpersonen als Profis für das Unterrichten in ihren Kompetenzen, Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und der Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme kontinuierlich fördern und stärken.

Online-Redaktion: Passen Schulleitung und Unterrichtsverpflichtung zusammen? Ist letztere sogar besonders bedeutsam, um das Verständnis für die tägliche Arbeit als Lehrkraft nicht zu verlieren?

Pietsch: Schulleitungen müssen und sollten keine Lehrverpflichtungen haben. Das ist ein ziemlich deutsches Relikt aus Zeiten, in denen Schulleitungen andere Aufgaben als heutzutage hatten. Schulleitungen können ihre zeitlichen Ressourcen viel effektiver in anderen Bereichen, wie zum Beispiel der Personalführung, nutzen. Wir wissen aus fast allen anderen Nationen, dass es für die Bindung im Kollegium oder das Verständnis unwichtig ist, ob eine Schulleitung aktiv unterrichtet oder nicht.

Online-Redaktion: Heißt das, dass Schulleitungen keine Ahnung von Unterricht haben müssen?

Pietsch: Schulleitungen müssen Expertinnen und Experten für den Unterricht sein, damit dieser schulweit bestmöglich gestaltet werden kann. Verschiedene Studien zeigen, dass sich der Unterricht einer Schule und in der Folge die Schülerinnen- und Schülerleistungen insbesondere dann positiv entwickeln, wenn Schulleitungen sich aktiv in die Qualität der Unterrichtsgestaltung von Lehrkräften einbringen, beispielsweise durch Feedback und abgestimmte Fortbildungsmaßnahmen, wenn sie für eine systematische Evaluation des Unterrichts sorgen. Sie sollten hohe Ziele und Erwartungen sowohl an das Lernen der Schülerinnen und Schüler als auch an die Unterrichtsgestaltung der Lehrpersonen setzen. Hierfür sollten sie ihre knappen zeitlichen Ressourcen aufwenden. Das heißt aber auch, dass Schulleitungen sich diesbezüglich selber stets auf dem Stand halten und mit anderen Schulleitungen ebenso wie mit Expertinnen und Experten für Unterricht vernetzen müssen. Das ist in Deutschland häufig noch nicht so stark ins Bewusstsein gerückt.

Gespräch
Ganztagsgrundschule Schenkelsberg in Kassel © Britta Hüning

Online-Redaktion: Wo sehen Sie die besondere Rolle der Schulleitung in der Ganztagsschule, beispielsweise für die Schulentwicklung?

Pietsch: Schulentwicklung ohne Führung funktioniert nicht. Schulleitungen müssen eine Schule steuern, indem sie Visionen, also ihr Bild einer guten und gelingenden Schule entwickeln und kommunizieren, alle schulischen Prozesse auf das Erreichen dieser Ziele ausrichten und alle Schulbeteiligten auf dem Weg mitnehmen. Das ist nicht einfach, zumal Schulen einer eigenen Grammatik folgen und eigentlich darauf angelegt sind, sich nicht oder nur graduell zu verändern. Das ist auch an Ganztagsschulen so, wobei ja bereits das Konzept der Ganztagsschule eine wesentliche Veränderung gegenüber Schulen ohne Ganztag darstellt. Insofern ist es hier wichtig, eine Kohärenz zwischen den spezifischen Zielen von Ganztagsschulen und allen schulischen Bestrebungen, diese Ziele bestmöglich zu erreichen, herzustellen.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person

Prof. Dr. Marcus Pietsch, Jg. 1974, ist DFG-Heisenberg-Professor für Bildungsmanagement und Qualitätsentwicklung an der Leuphana Universität Lüneburg. Er hat Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg studiert, dort ebenfalls promoviert und sich an der Leuphana Universität Lüneburg habilitiert. Nach seinem Studium war er am Hamburger Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI), dem Hamburger Institut für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (IfBQ), dem Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), dem Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik (IPN) sowie an den Universitäten Hamburg, Lüneburg und Zürich tätig. Er forscht zu Schulleitungen, zu Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie zu Reformmaßnahmen und Innovationen im Bildungssystem. Im Jahr 2021 wurden seine Arbeiten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit der Aufnahme in das renommierte Heisenberg-Programm ausgezeichnet.

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