Ganztag: „Talentschmiede“ und Schub für die Schulentwicklung : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Die Oldenburger Schulmanagement-Tagung „Ganztagsschule – Synergiefelder gestalten und Potenziale nutzen, aber wie?“ machte niedersächsischen Schulleitungen Mut, den Weg zur Ganztagsschule zu gehen.

Sie hat sich längst einen Namen gemacht: Die Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg unterstützt Schulentwicklungsprozesse für alle Schulformen. Seit Jahren bietet die Arbeitsstelle Schulentwicklung jährlich Tagungen zum Thema „Schul­mana­gement“ an, in Kooperation mit dem Didaktischen Zentrum und der Landes­schul­be­hörde. Eingeladen sind in der Regel die erweiterten Schulleitungen niedersächsischer Schulen, die hier wissenschaftlich fundierte und praxisorientierte Inputs zu einem aktuellen Thema erhalten und sich darüber austauschen können.

Die Zahl der niedersächsischen Ganztagsschulen ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen. 1874 Schulen waren im Schuljahr 2021/2022 bereits Ganztagsschule. Am Beginn des bundesweiten Ausbaus 2002/2003 waren es noch 156. Nicht wenige haben inzwischen Schulpreise erhalten, allein 13 den Deutschen Schulpreis, wie 2022 die Integrierte Gesamtschule Buchholz in der Nordheide . Nur wenige sind, wie die Grundschule Hude-Süd, die in diesem Jahr ihr 50. Bestehen feiert, seit Jahrzehnten erfahrene Ganztagsgrundschulen.

Da das „Schulmanagement“, die Steuerung der Prozesse, einen wichtigen Einfluss auf die Qualität der Ganztagsschulen hat, war in diesem Jahr das Thema der Fachtagung in eine Frage gekleidet: „Ganztagsschule – Synergiefelder gestalten und Potenziale nutzen, aber wie?“ Und wenn die Universität ruft, hören es viele. Ein gut besetzter Hörsaal unterstrich das Interesse.

Erkenntnisse aus StEG

Holtappels
© Uni Oldenburg | Präsentationstechnik

Den Hauptvortrag hielt der Schulentwicklungsforscher Prof. Dr. Heinz Günter Holtappels von der Technischen Universität Dortmund zu der Frage, wie wirksame Ganztagsschulen entwickelt, organisiert und gestaltet werden können. Das ein oder andere werden die interessierten Gäste schon einmal gehört oder gelesen haben, etwa die wichtigsten Erkenntnisse aus der „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen – StEG“. Gebündelt nahmen sie noch einmal die Gründe für den Ganztag auf: etwa, dass Ganztagsschulen die soziokulturelle Infrastruktur einer Region bereichern oder dass sie die sozial-erzieherische Funktion der Schule stärken.

Holtappels erinnerte daran, dass Ganztagsschulen den gewandelten Bildungsanforderungen, beispielsweise der Vermittlung von Schlüsselkompetenzen durch eine differenziertere Lernkultur und individuellere Förderung besser gerecht werden können. Er betonte, dass dies nicht bei „geschlossenen Türen“ gelinge, sprich, es seien andere, außerschulische Lernorte und außerschulische Partner erforderlich. Mit seiner Aussage, dass dafür Zeit und Ressourcen notwendig seien, sprach er den Zuhörenden aus der Seele, ebenso mit dem Hinweis, dass es nicht ausreiche, „preiswerte“ Externe zu engagieren.

Sein Appell: „Auch Lehrkräfte gehören in den Ganztag.“ Mit Blick auf das Schulmanagement, also das Thema der Tagung, wies er darauf hin, dass die Fäden im Idealfall bei der Schulleitung zusammenlaufen, Steuergruppen aber die Detailarbeit übernehmen sollten. Er plädierte für eine noch stärkere Arbeit in multiprofessionellen Teams: „Das hat den höchsten Wert für erfolgreiches Lernen und einen guten Ganztag.“ Außerdem brauche es den intensiven Austausch untereinander, „auch über das, was man nicht kann“.

Offener Umgang mit Differenzen

Worauf es im Miteinander der Professionen ankommt, diskutierte der Schulforscher Prof. Dr. Till-Sebastian Idel von der gastgebenden Universität Oldenburg, der seit vielen Jahren zur Lehr- und Lernkultur in Ganztagsschulen forscht und bereits an der LUGS-Studie – Lernkultur- und Unterrichtsentwicklung in GanztagsSchulen“ – unter Prof. Dr. Fritz-Ulrich Kolbe beteiligt war. In seinem Impuls „Interprofessionelle Kollegialität – Herausforderungen und Gelingensbedingungen von multiprofessioneller Teamarbeit in Ganztagsschulen“ griff er das Thema Zeit auf. Alle an Ganztagsschule Beteiligten bräuchten auch deshalb mehr Zeit zum Austausch, um „Differenzen“ zu bearbeiten. „Es gibt eine Tendenz der Entproblematisierung“, betonte er.

Später erläuterte er das im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org: „Es gibt ja Überlappungen zwischen den Professionen, was ihre Ausbildung und ihre Aufgaben betrifft, und es ist keineswegs immer eindeutig, wer welche Expertise einbringt. Zuständigkeiten müssen immer wieder neu ausgehandelt werden.“ Das bezieht sich auf sozialpädagogische Expertise ebenso wie auf fachliche Kompetenzen oder die Frage, wie Schülerinnen und Schüler zum Lernen motiviert werden. Nicht selten streiten die Berufsgruppen, wer was besser könne.

Atrium
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Er wünsche sich eine stärkere Benennung von Differenzen und den offenen Umgang mit ihnen. Differenzen sind für Idel die unterschiedlichen beruflichen Einstellungen und Erfahrungen der Professionen, aber auch Rahmenbedingungen ihrer jeweiligen Arbeit. „Die Forderung nach Kooperation auf Augenhöhe offenbart ja, dass es eigentlich eine Hierarchie gibt.“ Vielfach sei es noch so, dass sich Erzieherinnen und Erzieher in der Schule als Gäste in einem fremden Haus fühlten. Dabei seien sie in punkto Kooperation zumeist geübter, da diese bei ihnen eine lange Tradition habe.

Idel präzisierte aber: „Kooperation und differenzsensible Kollegialität sind nicht nur eine Frage der Haltung, Einstellung und individuellen Bereitschaft.“ Sie hängen auch von der Qualität der Organisation insgesamt ab. Die Einzelschule müsse sich zu einer „Organisation von Professionellen“ weiterentwickeln.“ Er plädierte daher auch für eine stärkere „organisationale Autonomie“ und Selbstverantwortlichkeit der Schulen, „ohne dass sie dabei von Staat und Schulaufsicht alleine gelassen werden“.

Ganztag mit „Mehrwert“ für Schülerinnen und Schüler

Sehr konkret ging es in der Arbeitsgruppe von Birte Kempers zu. Die Schulleiterin der Offenen Ganztagsgrundschule Hude-Süd lieferte den Teilnehmenden in ihrem Workshop wertvolle Hinweise für die Startphase auf dem Weg zur Ganztagsschule. Ihre Schule hat sich dazu vor knapp drei Jahrzehnten, schon 1994, entschieden. Ihre Versicherung: „Wir kochen auch jetzt nur mit Wasser“, machte den Anwesenden durchaus Mut. Denn, das wurde deutlich, unter den Impuls-Gästen waren auch solche, die noch unsicher schienen, ob sie den Schritt weg von der Halbtagsschule wirklich wagen sollen, und offenbar Anregungen für eine Entscheidung suchten.

Birte Kempers Enthusiasmus, aber eben auch Realitätssinn, dürften einige motiviert haben. Zumal die anwesende Schülerin Luisa herrlich ehrlich erklärte: „Ich fühle mich in meiner Schule wohl, weil ich am Nachmittag all meine Freunde treffe.“ Birte Kempers empfahl jenen, die noch zweifeln: „Bedenken Sie immer auch, was es für Kinder bedeutet, wenn sie ihr vertrautes Umfeld, ihren Bezirk verlassen müssen, um an eine Ganztagsschule zu wechseln, weil es diese vor Ort nicht gibt.“

Sie selbst hofft, dass ihre Schule eines Tages die Möglichkeit erhält, in den teilgebundenen Ganztag einzusteigen: „Dann haben wir gesichert alle Kinder am Nachmittag da und können noch besser rhythmisieren.“ Unabhängig von der Form des Ganztags riet sie den Schulen, eine Teamvision für den Ganztag zu entwickeln. Kernfragen sollten dabei lauten: „Was hat uns bisher am Ganztag gehindert? Was können wir von dem, was wir bisher anbieten, mitnehmen? Was muss passieren, damit der Ganztag für Schülerinnen und Schüler, aber auch für deren Eltern einen Mehrwert ergibt?“. Aber auch die Frage sei wichtig: „Wie wird es für uns Lehrkräfte lebenswert?“ Denn, so fügte sie klar hinzu: „Ganztag beginnt um 8 Uhr und nicht nach dem Unterricht. Alle sind für ihn verantwortlich.“

Talentschmiede: Ganztag „anders gedacht“

Schulleiter Benjamin Jürgens stellt die IGS Buchholz vor
Schulleiter Benjamin Jürgens stellt die IGS Buchholz vor © Uni Oldenburg | Präsentationstechnik

Dem würde der Ganztagskoordinator der Integrierten Gesamtschule Buchholz, Benjamin Jürgens, zugleich Leiter der Sekundarstufe I, wohl zustimmen. In seinem Impuls stellte er die Haltung seiner Schule zum Ganztag vor. Er fragte, ob nicht auch Unterricht selbst ein Konzept sein könne, mit dem man dem Ganztag begegne. Zum Konzept der Schule zählen fünf „Profile“ aus denen die Schülerinnen und Schüler auswählen: Ökologie, Bläser, Kunst und Theater, Sport sowie MINT. Bis zur Jahrgangsstufe 8 beschäftigen sie sich mit den dazugehörigen Inhalten wöchentlich zwei Stunden lang. Diese Projektarbeit könnte ebenso Arbeitsgemeinschaft genannt werden, sie gehört aber in der gebundenen Ganztagsschule zum Fachunterricht – ist somit ein verzahntes Angebot, wie es für Ganztagsschulen wünschenswert ist.

Zum Unterrichts- oder besser: Ganztagskonzept gehört, die Schülerinnen und Schüler in der selbständigen Arbeit zu fördern, etwa durch Werkstätten, Stationen- und Projektarbeit, auch an selbstgewählten Lernorten. Den Unterricht ergänzen daher die Selbstlernwerkstatt, die ein Team aus pädagogischen Mitarbeitern und einem Sozialarbeiter betreut, und die Lernzeit, in der Lernstrategien vertieft und individuelle oder klassenbezogene Projekte durchgeführt werden. Zusätzliche Hausaufgaben gibt es nicht.

Den Ganztagscharakter „anders gedacht“ komplettieren die drei Stunden Lernzeit pro Woche. Zwei davon sind für die Schülerinnen und Schüler verpflichtend. Die dritte können sie gegen eine „Einheit“ in der „Talentschmiede“ tauschen. Hier dürfen sie aus 17 Inhalten, darunter Theater, Feuerwehr und diverse sportliche, künstlerische, gesellschaftliche oder naturwissenschaftliche Themen, wählen. Jürgens: „Die Talentschmieden bieten wir Lehrkräfte selbst an. Dafür unterstützen uns externe Kräfte, wie beispielsweise eine Imkerin und eine Tanzlehrerin, im Fachunterricht. Auch das ist Ganztag, inklusive Öffnung der Schule in die Region.“

Ganztag: Schub für die Schulentwicklung

Auf großes Interesse stießen ebenso die Ausführungen der Schulleiterin des Evangelischen Gymnasiums Nordhorn Dr. Gabriele Obst. Sie hob gleich zu Beginn hervor: „Ganztag gibt der Schulentwicklung einen Schub. Er ist eine Innovationsquelle.“ Dazu gehört in der Schule mit teilgebundenem Ganztag beispielsweise in den Jahrgängen 9 ein sozialdiakonisches Praktikum. In ihm arbeiten die Schülerinnen und Schüler zwei Stunden pro Woche in einer sozialen Einrichtung.

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Das Engagement wird in Jahrgang 10 durch ein einwöchiges Praktikum in kleinen Gruppen und begleitet von einem Lehramtsanwärter fortgeführt. Aktuell engagiert sich eine Gruppe beispielsweise konkret beim Fußball-Bundesligisten VfL Bochum: Die Schülerinnen und Schüler, denen für die Woche 100 Euro, inklusive Unterkunft, Verpflegung und Reise, zur Verfügung stehen, übernehmen beispielsweise den Job, auf den Rollstuhl angewiesene Fans auf die Tribüne zu begleiten oder sich um aus der Ukraine geflüchtete Kinder und Jugendliche zu kümmern.

Die Schulleiterin weiß um den Wert: „Sie helfen anderen und lernen, sich selbst zu organisieren, indem sie Reise und Unterkunft planen, und mit dem Budget hinzukommen.“ Etwas stutzig wurde Gabriele Obst als sie vom Wunsch einer Gruppe hörte, mit einem selbstgebauten Bollerwagen, der zum Transport aller für eine Woche wichtigen Dinge diente, in die Niederlande wandern zu wollen. „Wo ist da der ideelle Wert“, grübelte sie zunächst. Als sie hörte, dass der „berühmte“ Bollerwagen anschließend meistbietend versteigert würde und der Erlös für Erdbebenopfer in Syrien bestimmt sei, kannte sie die Antwort.

Ein wichtiges zweites Argument für den Ganztag benannte sie anhand des Engagements ihrer Schülerinnen und Schüler im Jahrgang 11: „Wenn es gelingt, in der Region Partner zu gewinnen, entsteht eine Win-Win-Situation für alle.“ Sie verdeutlichte das am Beispiel der Kooperation mit Sportvereinen. Die Jugendlichen absolvieren einen Übungsleiterschein, dessen Kosten sich Schule und Vereine teilen. Das Konzept geht auf: Die Vereine gewinnen neue Trainerinnen und Trainer, die Schule gewinnt Sporthelfer, die kleinere Sportprojekte für Jüngere anbieten: „Auf diesem Weg geben sie der Schule etwas von dem zurück, was sie zuvor erhalten haben.“

Inspiration und Mut

Die Schulmanagement-Tagung bot den Teilnehmenden einen informativen, abwechslungsreichen Tag, an dem der Austausch untereinander nicht zu kurz kam. Dr. Julia Michaelis, die Geschäftsführerin des Zentrums für Lehrkräftebildung der Uni Oldenburg, hatte schon darauf hingewiesen, dass eine Tagung ja keine Fortbildung sei.

Hörsaal
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Wörtlich meinte sie: „Unser Ziel und Ertrag ist es, wenn die Teilnehmenden sich für einen Tag aus ihren schulischen Anforderungen lösen, den Blick auf eigene Entwicklungspotenziale und -wege neu ausrichten und nach der Tagung etwas mitnehmen können.“ Mitnehmen könnten sie beispielweise „Inspirationen und Mut für neue oder andere Ziele und Wege“, aber auch Bestätigung für das, was sie an der eigenen Schule bereits auf den Weg gebracht haben. Kurz geht es darum, „die eigenen schulischen Entwicklungen zu unterstützen“.

Kategorien: Ganztag vor Ort

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