Bremen: Multiprofessionell ausgebildet für den Ganztag : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Ein kleines, aber feines Jubiläum feiert Bremen. Die Modulreihe „Multiprofessionalität in der Ganztagschule“ fand zum 10. Mal statt. Sie richtet sich an Studierende und Auszubildende für pädagogische Berufe.

„Wer Teamplayer haben möchte, muss Teamplayer ausbilden.“ Klarer als Angelika Wunsch kann man es nicht formulieren. Die Leiterin der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ und ihr Team wissen aus der täglichen Arbeit, aus der Begleitung und Beratung der Ganztagsschulen in Bremen und Bremerhaven, wie wichtig die gelingende Zusammenarbeit der Professionen ist. Sie ist die Basis dafür, dass Kindern und Jugendlichen eine ganzheitliche Entwicklung ermöglicht wird.

„Entscheidend ist die Antwort auf die Frage, was ein Kind dafür benötigt und was die unterschiedlichen Professionen dafür einbringen können“, betont Wunsch. Die Erkenntnis gewann das Team der Serviceagentur bereits vor mehr als einem Jahrzehnt. Damals brachte sie eine Modulreihe für die gemeinsame Ausbildung auf den Weg. Ziel war es damals und ist es heute, wenn die 11. Runde im November 2022 startet, neben Lehramtsstudierenden auch Fachschülerinnen und Fachschülern der beruflichen Sekundarstufen II-Zentren und Studierenden der Sozialen Arbeit der Hochschule Bremen frühzeitig ein professionsübergreifendes Ausbildungsangebot zur Verfügung zu stellen.

Sechs Institutionen beteiligt

In verschiedenen Modulen beschäftigen sich die Teilnehmenden mit der Ganztagsschule, werfen Blicke über Zäune von Einrichtungen und diskutieren untereinander sowie mit Praktikerinnen und Praktikern im Ganztag. So geschehen auch im November 2021. Zum zehnten Mal. Worüber sich ein Mitbegründer des Moduls sichtlich freut. Holger Kühl war lange Vorsitzender der Studienkommission Soziale Arbeit und Studiendekan an der Hochschule Bremen. Er hat seine Tätigkeit für die Serviceagentur erst kürzlich beendet und zeigte sich beim kleinen Jubiläum angetan: „Ich bin begeistert zu sehen, dass das, was man einmal angefangen hat, bis heute Bestand hat.“

„Wer Teamplayer haben möchte, muss Teamplayer ausbilden“
„Wer Teamplayer haben möchte, muss Teamplayer ausbilden“ © Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Bremen

Seine Freude ist berechtigt, denn hinter dem Modul und seiner ständigen und konsequenten Weiterentwicklung steckt eine Menge Arbeit für die inzwischen beteiligten sechs Institutionen: Für die Lehrerausbildung kam zur Universität Bremen die Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg hinzu, von Anfang an unterstützt durch den Ganztagsschulforscher Prof. Dr. Till-Sebastian Idel. Für die Ausbildung der Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen sind die Inge-Katz-Fachschule für Sozialpädagogik Neustadt und die Hochschule Bremen dabei.

Erzieherinnen und Erzieher bildet die Fachschule für Sozialpädagogik Blumenthal aus, wo sich Studienrätin Susanne Hüllsiek um den innovativen Ausbildungsgang verdient gemacht hat. Für die Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Bremen sagt Angelika Wunsch: „Wir passen das Angebot ständig an, verändern die Stellschrauben. Es gibt nie eine Kopie des Vorjahres.“

Wer übernimmt welche Rolle?

Studentin Arijeta zählte zu jenen 80 Teilnehmerinnen der Ausbildung, die in diesem Jahr zum multiprofessionellen Lernen teils per Videokonferenz, teils im persönlichen Treffen zusammengekommen waren. Im Austausch mit der Grundschule an der Lessingstraße wollte sie wissen: „Gibt es Hierarchien?“ Die pädagogische Mitarbeiterin Susanne Guit: „Die Schulleitung steht bei uns an oberster Stelle“. Die Schulleitungen tragen in der Ganztagsschule die Gesamtverantwortung, das ist gesetzlich so festgelegt.

Selbstverständlich arbeiten sie kooperativ und im Team. Lehrerin Reinhild Hasselbrink ergänzte für die Grundschule an der Lessingstraße auch sofort: „Für uns ist der Blick der Erzieherinnen und Erzieher sehr wichtig. Sie haben eine andere Sicht auf das Kind.“ Sonderpädagoge Tillmann Schneider, der an der Oberschule im Park das Zentrum für unterstützende Pädagogik (ZuP) leitet, fügte zu der Frage etwas Grundsätzliches hinzu: „Wir fragen uns immer, wer von uns welche Rolle beim Blick aufs Kind übernehmen kann.“

Dass dies auf der oft beschriebenen Augenhöhe stattfinden sollte, ist für Angelika Wunsch eine Selbstverständlichkeit. „Damit das aber möglich ist, wollen wir schon in der Ausbildung den Blick für die anderen Professionen schärfen. Dann sind die Teilnehmenden auf die spätere Praxis vorbereitet“, sagt sie. Sie benennt als einen gewünschten Effekt des Moduls: „Hinterher wissen alle, egal welche Ausbildung sie absolviert haben, dass sie in die Arbeit in der Ganztagsschule und mit den Kindern etwas einzubringen haben. Dass sie nicht nur Erfüllungsgehilfen für andere sind.“

Multiprofessionelles Arbeiten „fliegt einem nicht zu“

Nicht immer gelingt das auf Anhieb. Wusste Ute Lesniarek-Spieß, Schulleiterin der gebundenen Ganztagsschule Auf den Heuen, zu berichten: „Die Arbeit im multiprofessionellen Team fliegt einem nicht zu. Das muss man sich gemeinsam erarbeiten.“ Sie erinnerte daran, dass ihre Schule dafür schon einmal eine Supervision nutzte: „Es sind ja nicht nur Freunde, die da täglich zusammenarbeiten.“ Ihr Appell lautete: „Alle im Ganztag Tätigen sollten ihre Stärken selbstbewusst einbringen. Und das sollte in der Ausbildung geübt werden.“

56 Prozent der Schulen in Bremen und Bremerhaven sind Ganztagsschulen
56 Prozent der Schulen in Bremen und Bremerhaven sind Ganztagsschulen © Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Bremen

Den Ball griff Angelika Wunsch im Gespräch mit www.ganztagsschulen.org gerne auf. Sie bedauert, dass das Thema Multiprofessionelle Teamarbeit weder im Studium, noch in der Erzieherinnenausbildung oder der sozialpädagogischen Ausbildung eine „besondere Rolle spielt“. Es erstaunt schon, dass dem Vorbild dieses modularen Wahlpflichtangebots bundesweit bislang, bis auf wenige Ausnahmen, kaum gefolgt wird.

Rund 700 Auszubildende haben das Angebot des Bremer Wahlpflichtfachangebots im vergangenen Jahrzehnt genutzt. Mit Blick auf die Tatsache, dass 56 Prozent aller allgemeinbildenden Schulen in Bremen und Bremerhaven inzwischen Ganztagsschulen sind, bezeichnete die Agenturleiterin diese Zahl als „Tropfen auf den heißen Stein“. Um einen rhythmisierten Lern- und Arbeitsalltag sinnvoll zu gestalten, seien fachliches Know-how und soziale Kompetenzen gefragt.

Wunsch: „Damit Kooperation und Teamarbeit als Bereicherung und Entlastung gelebt werden können, sind Kenntnisse über die verschiedenen Professionen und Vertrauen in die unterschiedlichen Arbeitsweisen erforderlich. Daher ist es ratsam und sinnvoll, die Sinne dafür schon in der Ausbildung zu schärfen.“

Aus der Praxis lernen

Auch im jüngsten Ausbildungsgang stand eine intensive Praxiserkundung in Bremer Ganztagsschulen an. Anschließend trafen sich die Teilnehmenden zur Reflexion. Sie werteten ihre Eindrücke und Erfahrungen systematisch aus. Beobachtungen zu Teamarbeit, Kollegialität und Gesprächskultur wurden dabei ebenso analysiert wie potenzielle Stolpersteine. Auch der Frage, welche beruflichen Selbstverständnisse aufeinandertreffen, wurde nachgegangen. So etwa, als eine Auszubildende erfahren wollte: „Welche Aufgaben hat eine Erzieherin im Ganztag?“

Die Antworten, die Ute Lesniarek-Spieß und Susanne Guit gaben, dokumentierten das Miteinander, wie es im optimalen Fall läuft. Susanne Guit: „Als Erzieherin bringe ich, einfach gesagt, den Schülerinnen und Schülern nicht Lesen, Schreiben und Rechnen bei und bin dennoch ein Teil des Unterrichts.“ Denn auch sie weiß, am Nachmittag und spätestens bei der Hausaufgabenbetreuung müssen Erzieherinnen und Erzieher an das anknüpfen, was die Kinder im Unterricht gelernt haben.

Sie verwies auf die wichtige Rolle im sozialpädagogischen Bereich. „Die Kinder verlassen den Kindergarten, der noch stärker die Wohlfühlatmosphäre in den Vordergrund stellt. Nun gilt es, sie an die Schulregeln heranzuführen und auch Probleme der Kinder mit den neuen Strukturen aufzufangen“, erläuterte sie. Dies gelinge am besten gemeinsam mit den Lehrkräften. Dass sie manchmal auch für Dinge eingesetzt wird, die nicht zu ihrem offiziellen Aufgabenbereich zählen, zeigt das Beispiel Pausenaufsicht. „Das machen wir, weil mitunter zu wenig Personal da ist.“ Ute Lesniarek-Spieß ergänzte mit Blick auf solche organisatorischen Pflichten: „Wenn es in einem Team gut läuft, machen alle alles.“

Schulsozialarbeiterin Tanja Sundermann erinnerte sich an deutlich schlechtere Zeiten des Miteinanders. „Vor 18 Jahren hatte ich das Gefühl, dass sich Lehrkräfte noch gefragt haben, wie sie mit einer Schulsozialarbeiterin sprechen sollen.“ Manche hätten das Gefühl gehabt, sie würden durch sozialpädagogische Fachkräfte in Frage gestellt oder gar kontrolliert. „Zum Glück stehen wir da heute nicht mehr. Das Miteinander hat eine große Selbstverständlichkeit bekommen“, berichtete sie.

Wunschzettel für den Ganztag

Zusammenarbeit für die Kinder und Jugendlichen
Zusammenarbeit für die Kinder und Jugendlichen © Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Bremen

Das gilt wohl auch umgekehrt: Durch das unmittelbare Beteiligtsein und mehr Kenntnisse über den Lehrberuf, auch dessen umfangreiche Anforderungen, die in der sozialpädagogischen Ausbildung normalerweise nicht vermittelt werden, können Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen die Arbeit der Lehrkräfte ganz anders wertschätzen. Das zeigt nicht nur das Beispiel Pausenaufsicht.

Passend zur Vorweihnachtszeit durften die erfahrenen Gesprächspartnerinnen und -partner der Auszubildenden dann noch Wünsche äußern, welche „Optimierungen“ sie noch sehen. Getreu der Devise „Wenn Geld keine Rolle spielte“ fielen Stichworte wie Raum, Zeit, Personal, Verstetigung von Projekten und Doppelbesetzungen. Reinhild Hasselbrink wünscht sich sogar noch eine zusätzliche Profession für den Ganztag: „Therapeutinnen und Therapeuten“. Ute Lesniarek-Spieß fügte hinzu: „Supervisionen – und nicht nur, wenn es brennt.“

Mit der gemeinsamen, multiprofessionellen Ausbildung, wie sie Bremen geradezu vorbildlich entwickelt hat, ist nicht nur das wechselseitige Verständnis gewachsen. Auch das Wissen um den Bedarf im Ganztag ist auf multiprofessionelle Füße gestellt worden. Davon können auch diejenigen profitieren, die für die Gestaltung der Ganztagsschulen verantwortlich sind. Wer auf jeden Fall von der guten Zusammenarbeit profitiert, sind die Kinder und Jugendlichen.

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