Raumpotenziale für den Ganztag entdecken : Datum: Autor: Autor/in: Stephan Lüke

Marion Thierbach vom Stadtschulamt Frankfurt am Main stellte auf dem Ganztagskongress die von ihr entwickelte „Raumbox“ vor. Ihr Motto: „Wenn es um Räume geht, sollte man zuallererst fragen: Was ist gut für die Kinder?“

Marion Thierbach
Marion Thierbach © Bärbel Högner

Online-Redaktion: Frau Thierbach, Sie sind in der Stabsstelle Pädagogische Grundsatzplanung des Stadtschulamts Frankfurt am Main tätig und sind Teil des Teams im Projekt „Gesamtkonzept Ganztag". Was ist Ziel des Projekts?

Marion Thierbach: Genau, ich bin Teil eines Projektteams. Das Besondere an unserem Team ist, dass wir alle aus den unterschiedlichen Fachabteilungen des Stadtschulamtes abgeordnet sind und jedes der fünf Teammitglieder eine unterschiedliche Expertise einbringt. Ich komme ursprünglich aus der Abteilung 40.4, Fachlicher Bedarfsträger, und bringe in das Projekt die Fachexpertise zum Thema Schulbau und multifunktionelle Ausstattung ein.

Das übergeordnete Ziel des Projektes ist es, die Strukturen für den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026 zu entwickeln. Qualität und Quantität gehen dabei immer Hand in Hand. Das bedeutet, wir brauchen qualitätsvolle Angebote, die den Kindern und ihren Bedarfen beantworten, um dem Anspruch des Ganztags zu mehr Bildungsgerechtigkeit gerecht zu werden. Und natürlich geht es auch um Plätze. Jedes Kind hat einen Anspruch auf einen Platz im Planungsbezirk der eigenen Grundschule, egal wo es in der Stadt wohnt.

Die drei Perspektiven Pädagogik, Architektur und Organisation wurden im Prozess immer verzahnt miteinander bearbeitet. Um das am Beispiel „Architektur“ zu verdeutlichen: ein Raumkonzept braucht immer auch ein pädagogisches Konzept. Und beides hat Auswirkungen auf die Organisation von Schule und Träger. Im Rahmen des Projektes habe ich die Pilotstandorte begleitet, die Maßnahmen im Bereich der integrierten Raumnutzung und der multifunktionalen Ausstattung erprobt haben.

Online-Redaktion: In offenen Ganztagsgrundschulen, erst recht bei Ganztagsangeboten außerhalb der Schule, herrscht immer noch oft das Prinzip „vormittags Schule, nachmittags Betreuung". Sie möchten genau dieses Prinzip aufheben – wie?

Thierbach: Wir greifen als Schulträger und Träger der Öffentlichen Jugendhilfe nicht in den schulischen Ganztag in der Zuständigkeit des Hessischen Ministeriums für Kultus, Bildung und Chancen ein. Das Ganztagsförderungsgesetz gibt uns als Stadt die Rolle, ergänzende Angebote im Ganztag zu organisieren und den Rechtsanspruch einzulösen. Das ist aktuell der gesetzliche Rahmen. Als Stadt haben wir ein großes Interesse daran, dass die Schulgebäude vollständig ausgenutzt werden und Räume durchgängig frequentiert werden.

Möglichkeiten des Schulgebäudes nutzen
Möglichkeiten des Schulgebäudes nutzen © Britta Hüning

Bei Schulbegehungen, die wir in allen sechs Bildungsregionen Frankfurts durchgeführt haben, haben wir festgestellt, dass ein Großteil der Grundschulen ab 13 Uhr leer steht. Das kommt daher, dass der Ganztag überwiegend noch additiv umgesetzt wird. Der Ganztag am Schulstandort findet nur in einem kleinen Teil des Schulgebäudes statt und versorgt noch nicht alle Kinder. Die Möglichkeiten, die das Schulgebäude den Kindern am Nachmittag bietet, werden überhaupt nicht ausgeschöpft. Mit der integrierten Raumnutzung und dem Bilden von Clustern brechen wir mit dieser Tradition.

Für die Kinder erschließen sich dadurch zusätzliche räumliche Ressourcen und das Cluster bietet den Kindern den Vorteil, dass sie sich besser orientieren können, sich zugehörig fühlen und eine kleinere Heimat erhalten. Das ist ganz wichtig, also eben diese pädagogische Implikation. Wenn es um Räume geht, sollte man sich zuallererst fragen: Was ist eigentlich gut für die Kinder? Wie können wir das Beste rausholen für sie? Diesen Ansatz zu Grunde gelegt, wird damit das gesamte Schulgebäude ganztägig bespielt.

Online-Redaktion: Wie sieht die räumliche Ausstattung für eine gute Ganztagsbildung aus?

Thierbach: Eine gute räumliche Ausstattung im Ganztag ist vom Kind aus gedacht. Das ist das Wichtigste. Erst kürzlich war ich in einer Schule und habe gesehen, wie die Kinder selbstständig innerhalb von 20 Sekunden einen Lernraum in einen Bewegungsraum „verwandelt“ haben. Möglich wurde das durch flexibles Mobiliar. So sieht eine gute räumliche Ausstattung für eine gute Ganztagsbildung für mich aus.

 

Online-Redaktion: Ihr Motto lautet: „Wer Räume teilt, hat mehr vom Platz". Dafür haben Sie das Baukastensystem „Raumbox“ entwickelt. Was kann man sich darunter vorstellen?

Thierbach: Das Prinzip der integrierten Raumnutzung ist nicht neu, sie wurde in Frankfurt bereits im Planungsrahmen Grundschule für Neubauten im Jahr 2018 entwickelt. Nun gilt es, die integrierte Raumnutzung auch in den Bestandsgebäuden zu etablieren. Im Piloten haben wir festgestellt, dass der Planungsrahmen Grundschule noch nicht in der Praxis ankommt, so wie angenommen. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein. Doch ganz deutlich wurde, dass das Thema integrierte Raumnutzung eine andere Vermittlung braucht.

Mit der Raumbox den Bestand sichtbar machen
Mit der Raumbox den Bestand sichtbar machen © Thomas Trutschel/BMFSFJ/photothek.de

Es brauchte etwas Visuelles, Anschauliches. Genau dafür habe ich die Raumbox entwickelt. Denn mit der Raumbox können wir den Bestand an Räumen und deren Funktionen sichtbar machen. Es ist also ein konkretes Tool, das für die Beratung eingesetzt werden kann. Die Box besteht aus magnetischen Kärtchen, die genau die Funktionen abbilden, die laut Planungsrahmen Grundschule vorgesehen sind. Mit der Raumbox denken wir nun in Funktionen und nicht mehr in Räumen.

Online-Redaktion: Wie schwer fällt es Ihrer Einschätzung nach den Professionen, sich auf „Raumteilung“ einzulassen?

Thierbach: Ein Umdenken ist nie einfach. Aber ich habe festgestellt, dass man mit einer guten Beratung auch eine schrittweise Umsetzung erzielen kann. Das Tolle ist, dass die Raumbox ein fast „spielerischer“ Ansatz ist, die vorhandenen Raumpotenziale zu entdecken. Die Menschen vor Ort werden aktiv in die Lösungsfindung eingebunden. Das ist ganz wichtig, damit Akzeptanz entstehen kann.

Online-Redaktion: Können Sie einige gelungene Beispiele nennen?

Thierbach: Wir haben in der Pilotierung mit einer Schule am Frankfurter Riedberg gearbeitet. Hier ist es uns gelungen, die Aufteilung einer klassischen Flurschule in eine Clusterschule zu überführen. Bei Bestandsschulen geht es immer darum, mit dem vorhandenen Raum eine Lösung zu erarbeiten. Das ist nicht immer einfach, aber es ist möglich: wenn wir Funktionen denken und nicht mehr in Räumen! Im Ergebnis profitieren die Kinder davon, denn sie erhalten mehr Möglichkeiten.

Online-Redaktion: Wo sehen Sie den größten (Unterstützungs-)Bedarf der Ganztagsschulen?

Thierbach: Die größte Herausforderung sehe ich darin, das Additive zugunsten des Integrierten aufzulösen. Das bedeutet, wir müssen hin zur Kooperation von Schule und Ganztagsträger. Und genau das muss sich dann auch räumlich widerspiegeln. In diesem Prozess müssen die Schulstandorte gut beraten und begleitet werden, und es ist wichtig die individuellen Bedarfe der Standorte zu berücksichtigen. Die Kinder müssen in diesem Prozess unbedingt gehört und mit einbezogen werden, schließlich geht es um ihren Tagesablauf. Und auch die Eltern gehören dazu, denn Eltern sind Erziehungspartner im Ganztag.

Beteiligung ist  kein „Nice-To-Have“, sondern Leitprinzip
Beteiligung ist kein „Nice-To-Have“, sondern Leitprinzip © Britta Hüning

Online-Redaktion: Sie begleiten auch Beteiligungsprozesse. Was ist dabei zu beachten?

Thierbach: Beteiligung ist für mich kein „Nice-To-Have“, sondern ein Leitprinzip meiner Arbeit. Hier geht es darum, mit Menschen in echte Kommunikation zu treten, aufzugreifen, was aus dem Feld kommt und das in Ziele zu überführen. Selbstverständlich gehören die Kinder als Expertinnen und Experten ihrer Lebenswelt dazu. Das Wichtigste in Beteiligungsprozessen ist zweifelsohne die Transparenz.

Online-Redaktion: Vielen Dank für das Interview!

Zur Person:

Marion Thierbach, Jg. 1970, begleitet seit 2021 das Projekt „Gesamtkonzept Ganztag. Maßnahmen zu Schulbau und Ausstattung" (2019-2023) in der Stabsstelle Pädagogische Grundsatzplanung im Stadtschulamt Frankfurt am Main. Nach einer kaufmännischen und handwerklichen Ausbildung ist sie seit über 23 Jahren im Stadtschulamt an unterschiedlichen Stellen und Positionen tätig.

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