Ganztagsschulkongress 2010: Schule als Lebensraum gestalten : Datum: Autor: Autor/in: Peer Zickgraf

"Lassen Sie Ihre Bemühungen um bessere Architektur, die Schüler machen doch ohnehin alles kaputt". Verträgt sich diese Haltung mit dem Willen, eine neue Lernkultur an den Ganztagsschulen zu etablieren? In dem Forum "Der Raum als Bestandteil von Lernkultur", das am 12. November 2010 auf dem 7. Ganztagsschulkongress in Berlin stattfand, lotete der Architekt Christoph Parade die Chancen für die Gestaltung einer neuen Schularchitektur aus.

Jede Lernkultur fängt mit dem Solidesten und Zeitbeständigsten an, was Schule zu bieten hat: dem Schulgebäude. Häufig wird in der Praxis dem Gedanken von Schule als Lebensraum keine große Beachtung geschenkt: Eine Schule soll aus Sicht des Schulträgers eine bestimmte Anzahl von Klassen für den Frontalunterricht aufweisen, freie Spiel- und Bewegungsräume in der Nachbarschaft des Schulgebäudes bleiben oft ungenutzt und die Schülerinnen und Schüler werden vielfachbei der Entscheidung über die Gestaltung der Räume nicht einbezogen.

Wenn aber bereits beim Bau einer Schule keine Partizipation der Beteiligten gewünscht wird, wie soll sich dann eine moderne Lernkultur im pädagogischen Alltagentwickeln können? In dem Forum "Der Raum als Bestandteil von Lernkultur", das am 12. November 2010 auf dem 7. Ganztagsschulkongress in Berlin stattfand, demonstrierte der Architekt Dipl.-Ing. Christoph Parade, emeritierter Professor für Baukonstruktion am Fachbereich Architektur der Fachhochschule Münster, dass es auch anders geht. Schon zu Beginn der 1960er Jahre gelangte er wie viele andere zu der Auffassung, dass Schule als Lebensraum gestaltet werden müsse.

Für die Kinder schwebten Parade "breite Räume mit Ausblick statt Schulen im Kasernenstil" vor. Die neuen Schulgebäude sollten Klassenräume haben, die mit dem Außenbereich verbunden sind, aber auch  Nischen, in denen  sich die Schülerinnen und Schüler zurückziehen konnten. Immer wieder stieß der Architekt mit Fachbeiträgen und Interviews öffentliche Kontroversen an und machte darauf aufmerksam, dass ein ganzheitlicher Ansatz den "Grundstein für bessere Schulgebäude und eine intakte Jugend" legen kann.

Erst nachdem er in den 1960er Jahren seinen ersten Wettbewerb in Nordrhein-Westfalen gewann und in der Folge fünf Schulen konzipierte, konnte er den Beweis erbringen, dass eine schülerorientierte Architektur eine wichtige Voraussetzung für eine neue Lernkultur bietet: Großes Erstaunen wurde in einem Beispiel darüber offenkundig, "dass die neu gestaltete Schule auch nach 25 Jahren noch in Ordnung war".

"Die Schülerinnen und Schüler machen doch ohnehin alles kaputt"

"Lassen Sie Ihre Bemühungen um bessere Architektur, die Schüler machen doch ohnehin alles kaputt". Ratschläge dieser Art, so Parade, sind bei geplanten Schulbauten immer wieder zu hören. "Dahinter verbirgt sich eine weit verbreitete Geisteshaltung: Schulen gelten zwar als Orte des Lernens, architektonisch erfüllen sie eher die Bauvorschriften als die Bedürfnisse von Kindern und Lehrern".

Wenn ein Schulgebäude sich den individuellen Bedürfnissen der Kinder und Erwachsenen anpasst, ist tatsächlich der Grundstein für eine neue Lernkultur gelegt. "Bei meiner Vorbereitung für dieses Forum wurde ich auf einen Vortrag von Dr. Otto Seydel, Leiter des Instituts für Schulentwicklung in Überlingen, aufmerksam: Unter der Überschrift 'Raum als dritter Lehrer' stellte dieser zehn Thesen auf. Plötzlich fand ich viele meiner Ideen wieder, die mich - bedingt durch jahrelangen Schulbau - ganz wesentlich beschäftigten.", kommentiert Parade seine Einladung zum Kongress.

Seydels erste These lautete: "Lernen braucht Ruhe, Licht und Luft". An allzu vielen Schulen seinen demgegenüber die negativen Merkmale von Schularchitektur wie unzureichende Lichtverhältnisse, schlechte Luft und Akustik, beengte Klassenräume anzutreffen: "Wenn ich eine Schule betrete, möchte ich angesprochen werden, und zwar auch mit meinen Sinnen. Es genügt nicht, einen Funktionalbau hinzustellen, in dem die Schülerinnen und Schüler geschossweise gestapelt, mit Wissen versorgt und abgefertigt werden", erklärte der Architekt.

Ein Schulgebäude wie ein Kaufhaus oder eine Fabrik

Der Architekt veranschaulichte seine Ideen zu einer gelungenen Schularchitektur anhand mehrerer Beispiele aus der Praxis. Als negatives Beispiel nannte er eine Gesamtschule in Rodenkirchen bei Köln, die an eine Kaserne, Justizvollzugsanstalt oder Fabrik erinnere.
Eine Schule in den Niederlanden erschien ihm wie ein Kaufhaus.

Mit der Gesamtschule Barmen, die in Wuppertal seinerzeit für rund 50 Millionen DM erbaut wurde, setzte Parade als Architekt ein deutliches Ausrufezeichen für seine Auffassung einer anderen Lernkultur. Es galt, das neue Schulgebäude in die Umgebung einzubinden und die verbaute Wupper wieder zu einer innerstädtischen Grünanlage zu verwandeln: "Die Schule sollte sich zum Fluss hin orientieren", so Parade. Entsprechend der These von Seydel sollte die Schule möglichst viel Natur, Licht und eine Bauform erhalten, die die Besonderheit der Schule hervorhebt.

"Lernen, spielen, toben, verweilen, reden, essen..."

Nicht nur für das Gebäude, sondern für  alle Klassenräume gilt, dass sie keine abgeschlossenen Einheiten bilden sollten, sondern über die Oberlichter mit dem Gesamtgebäude in Verbindung stehen. An das lichtdurchflutete Foyer der Schule schließen die Bibliothek, Mensa, Sporthalle sowie die Klassentrakte an. Sitzstufen in der Mensa ermöglichen es, dass die Kinder einen guten Überblick bekommen und ihre Freunde bereits von außen wahrnehmen können.

Gerade für das selbstständige Lernen sei es wichtig, dass die Räume in kleine Bereiche mit Nischen strukturiert werden. Resümierend beschrieb Parade die Lernkultur einer Ganztagsschule als eine Konjunktion starker Verben: "Lernen, spielen, toben, verweilen, reden, essen...".

"Architektur ist Bewegung"

Für Parade ist das Schulgebäude auch ein ideales Experimentierfeld für die Kinder, um sich mit Umwelttechniken und deren Folgen auseinanderzusetzen: "Gerade im Schulbau wäre es angemessen, ökologisch Vorbildliches wie die Solarnutzung zu realisieren."

Außerdem solle sich die Architektur auf die Bedeutung der Außenanlagen besinnen. Gerade Schulen in den Innenstädten müssten den dortigen Mangel an Bewegungsflächen durch erlebnisreiche Bewegungs- oder Spielflächen ausgleichen.

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